Titelgeschichte im Dezember - Welt in Flammen

Wohin man blickt auf dem Planeten: überall Krisen, Kriege und Konflikte. Warum häufen sie sich gerade jetzt? Und gibt es eine Chance auf friedlichere Zeiten?

Ein im syrischen Bürgerkrieg zerstörtes Gebäudefenster in Homs, Dezember 2015 / Imago Images
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Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

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Wir durchleben heute eine Achsenzeit der Weltpolitik, die Historiker einmal in ein Davor und ein Danach unterteilen werden. In ihr verdichten sich Ereignisse und beschleunigen sich Entwicklungen auf wenige Monate und Jahre, die sich normalerweise über Jahrzehnte oder Generationen erstrecken. Wie sich tektonische Spannungen zwischen Erdplatten plötzlich in heftigen Beben entladen, so brechen angestaute politische Machtverschiebungen gleichzeitig in schweren Erschütterungen auf. In Achsenzeiten steigen Staaten auf oder sacken ab, werden internationale Ordnungen geschaffen, verteidigt oder ersetzt. 

Eine Achsenzeit war etwa die zweite Hälfte der 1940er Jahre. Die Aggressoren Deutschland und Japan mit ihren barbarischen Ideologien waren besiegt, auf ihrer Asche formte der alle überragende Sieger USA mit etwas Hilfe seiner europäischen Alliierten eine liberale, regelgeleitete internationale Ordnung. Die schöne neue Welt gründete auf gemeinsamen Normen und Werten, allen voran Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft. 

Ihre Institutionen organisierten das zwischenstaatliche Zusammenleben: Die Vereinten Nationen verboten Angriffskriege, schrieben die Unverletzlichkeit der Grenzen fest und postulierten individuelle Menschenrechte. Die Weltbank unterstützte den Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten Nationen und bekämpfte später die Armut in den Entwicklungsländern. Der Internationale Währungsfonds stabilisierte Wechselkurse und half Staaten mit Zahlungsbilanzproblemen. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT förderte den Freihandel. 

Die Nato garantierte die Sicherheit ihrer Mitglieder durch militärische Abschreckung der Sowjetunion. Schuman- und Pleven-Plan legten den Grundstein für europäische Integration und EU. Zu Recht betitelte Dean Acheson, amerikanischer Spitzendiplomat und Außenminister dieser Jahre, seine Memoiren mit „Present at the Creation“, „Anwesend bei der Schöpfung“.

Sowjetisch-chinesischer Expansionismus

Basis der liberalen Ordnung war die wirtschaftliche, militärische, politische und moralische Sonderstellung der USA. Sie waren der ultimative Garant dieses Systems, das den atlantischen Partnern eine einmalige Periode von Frieden und Pros­perität bescherte. Auch den beiden anderen global wichtigen Regionen außerhalb Europas brachte Wa­shington bei allen Fehlern Stabilität. In Ostasien dämmte es den sowjetisch-chinesischen Expansionismus ein und sicherte die Existenz ihrer Verbündeten. Im Nahen Osten retteten die USA 1973 Israel nach dem ägyptisch-syrischen Überfall vor der Auslöschung und orchestrierten wenige Jahre später den Friedensschluss zwischen Jerusalem und Kairo. 

Dieses liberale Modell war bis 1991 auf den Westen begrenzt. Mit dem Sieg im Kalten Krieg und dem Zerfall der Sowjetunion schlossen sich fast alle souverän gewordenen Nationen Mittel- und Osteuropas ihm an als attraktivstem Weg zu Wohlstand und Sicherheit. Immer mehr Staaten drängten in dieses „empire by invitation“, wie der norwegische Historiker Geir Lundestad das amerikanische Ordnungssystem einmal nannte. 

Auch asiatische Länder wie Südkorea, Taiwan und die Philippinen verabschiedeten sich von ihren diktatorischen Regimen und wandelten sich zu Demokratien. Brutale Regelbrecher wie Saddam Hussein (Überfall auf Kuwait 1990) oder Slobodan Miloševic (Krieg gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina 1991–1995) wurden von den USA und ihren Koalitionspartnern militärisch in die Schranken gewiesen. Selbst Moskau und Peking schienen kurz davor, in diese liberale internationale Ordnung einzutreten. Unter Boris Jelzin war Russland so frei wie nie zuvor, und China öffnete sich der Welt und bereitete den Eintritt in die Welthandelsorganisation WTO vor.

Das alles machte die 1990er Jahre zum besten Jahrzehnt der Menschheitsgeschichte. Die Zahl der Demokratien explodierte auf 120, die Wirtschaft wuchs, der technologische Fortschritt galoppierte, Rüstungsausgaben und Atomwaffenarsenale schmolzen; die Welt schien wie eine einzige große Love-Parade. Der wichtigste Grund: Die USA und die EU waren stark und mächtig, potenzielle Rivalen schwach. Im Jahr 2000 hatte Russland die Wirtschaftskraft Belgiens, China war nicht reicher als Italien. Die von westlichen Prinzipien und Institutionen geprägte Ordnung schien stärker denn je.

Aufstieg der Rivalen im Wartestand

Von da an ging’s bergab. Das war zum Teil unabwendbar und spiegelte paradoxerweise den Erfolg westlicher Politik. Mit der Aufnahme in die WTO 2001 erschloss sich China den amerikanischen und europäischen Markt und exportierte sich zur globalen Wirtschaftsmacht. Russland profitierte vom Energiedurst der Industriestaaten und steckte die Gewinne in seine Streitkräfte. Doch der Aufstieg dieser Rivalen im Wartestand wäre langsamer verlaufen, hätte der Westen nicht Fehler nach Fehler begangen.

Die USA und ihre Verbündeten vergeudeten nach den Terroranschlägen von 9/11 Ressourcen und politischen Goodwill mit langen Kriegen in Afghanistan und im Irak. Weltfinanz- und Eurokrise beschädigten das Ansehen des Westens als Hort wirtschaftlicher Stabilität. Barack Obamas Lethargie und Donald Trumps Irrlichterei sowie die Brexit-Kapriolen der EU ermunterten Russland und China, sich aus der Deckung zu wagen. Beide Staaten hatten, als sie schwach waren, stillgehalten und böse Miene zum guten Spiel gemacht. Die Zeit schien ihnen nun reif, aus dem westlichen Ordnungsmodell auszubrechen.

Dessen Regeln wie freie Wahlen, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit im Inneren sowie Gewaltverzicht, Grenzanerkennung und friedliche Streitbeilegung nach außen bedrohten in der Tat ihr autoritäres und imperiales Selbstverständnis. Wladimir Putin und Xi Jinping wollen lebenslange, uneingeschränkte Macht, nicht auf Zeit verliehene. Sie zielen auf territoriale Expansion, wie es Zaren und Kaiser vor ihnen taten. Einen Generalangriff auf die westliche Ordnung wagten beide die längste Zeit indes nicht, zu stark waren die USA militärisch, zu wichtig der europäisch-amerikanische Markt. 

Terroranschlag mit einer Autobombe in der syrischen Stadt Homs, Dezember 2015 / Imago Images

Aber sie testeten den Westen. Den ersten Versuchsballon ließ Putin 2008 steigen. Zuerst provozierte er Tiflis zum Vorgehen gegen dessen abtrünnige Provinz Südossetien, dann marschierte er in Georgien ein. Der Westen, beschäftigt mit Finanzkrise und US-Wahlen, schaute zu und redete sich die Lage schön. Kanzlerin Angela Merkel meinte, beide Seiten seien gleich schuld, ihr Vorgänger Gerhard Schröder sagte, niemand in der russischen Führung habe ein Interesse an militärischen Konflikten – und machte Washington für die Eskalation verantwortlich. SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier hielt unverbrüchlich an seiner Halluzination einer „Modernisierungspartnerschaft“ mit Moskau fest.

Der nächste, weit größere Streich folgte 2014. Die russische Annexion der Krim und der Beutezug in der Ost­ukraine waren der gröbste Verstoß gegen das Verbot des Angriffskriegs und der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen seit dem Zweiten Weltkrieg. Wieder reagierte der Westen schlaff. Deutschland beschenkte Moskau sogar noch mit dem Bau einer zweiten Gaspipeline. In einem Akt geopolitischer Fahrlässigkeit waren Merkel und Steinmeier bereit, sich noch abhängiger von dem Aggressor zu machen und die Sicherheit der Mittel- und Osteuropäer und insbesondere der Ukraine für Sonderbeziehungen zum Kreml zu kompromittieren. 

Mit ihrer Skrupellosigkeit standen sie nicht allein. Siemens-Boss Joe Kaeser nannte den Überfall auf die Ukraine und die westlichen Sanktionen „kurzfristige Turbulenzen“, Ex-CSU-Chef Edmund Stoiber umarmte bei einem Moskaubesuch den russischen Präsidenten vor laufenden Kameras, und Schröder verteidigte seinen Busenfreund und pekuniär großzügigen Arbeitgeber Putin weiter bedingungslos. 

Derart ermutigt, schritt der Kremlherr 2015 zum dritten Test westlicher Entschlossenheit. In Syrien rettete er durch Flächenbombardements und Wagner-Soldateska seinen Verbündeten Baschar al Assad vor der Niederlage gegen die Rebellen. Die gezielte Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und Wohngebieten war ein Kriegsverbrechen, wie es Russland zuvor in Tschetschenien begangen hatte und danach in der Ukraine praktizieren sollte. Von Aleppo wie von Grosny blieben nur Schuttberge zurück. Der Westen beließ es bei Protesten und Sondersitzungen des impotenten Sicherheitsrats. US-Präsident Obama verkündete „rote Linien“, die er Assad dann folgenlos zertrampeln ließ. Die immer dreisteren Versuche, die bestehende Ordnung zu stürzen, erreichten ihren Höhepunkt am 24. Februar 2022 mit der russischen Invasion der Ukraine.
 

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Am anderen Ende Eurasiens beobachtete Peking genau die Reaktionen Wa­shingtons und Brüssels auf Moskaus Militäraktionen, hegt es doch selbst Territorialansprüche, vor allem im Südchinesischen Meer. Angesichts westlicher Untätigkeit schüttete China dort immer schneller Riffe und Atolle auf, erklärte sie zu seinem Hoheitsgebiet und rüstete sie militärisch auf. Das Seegebiet von der Größe des Mittelmeers birgt reiche Bestände an Fisch, Öl und Gas, und ein Drittel des globalen maritimen Handels läuft dort hindurch. 

Peking begründet seine Ansprüche gegenüber den erzürnten Anrainern mit der Lüge, das Gebiet sei historisch stets chinesisch gewesen. Eine Verurteilung durch den Ständigen Gerichtshof in Den Haag 2016 erkennt es nicht an. Zugleich verschärft Peking seine Drohungen, Taiwan ins eigene Imperium einzugliedern – notfalls mit Waffengewalt.

Vom Gipfel führt der Weg nach unten

Dass Moskau und Peking gerade jetzt gegen das westliche System rebellieren, hat vier Gründe. Erstens hat der Westen in den vergangenen Jahren an Macht eingebüßt. Sein Anteil am Weltsozialprodukt lag im Jahr 2000 noch bei 57 Prozent, bis 2020 fiel er auf 42. Chinas Anteil hingegen stieg von 3,8 auf 17,5 Prozent, das Land überholte die USA und Deutschland als größte Exporteure der Welt. Und waren die USA 2000 noch für 163 von 195 Ländern ein wichtigerer Handelspartner als China gewesen, galt das 2019 nur mehr für 58 Staaten. 

Bei den globalen Rüstungsausgaben ging der westliche Anteil ebenfalls deutlich zurück. Peking pumpt enorme Summen in Flottenbau und Kurzstreckenraketen, um jede Hilfe der amerikanischen Navy im Falle eines Angriffs auf Taiwan vereiteln zu können. Seit 2020 verfügt China über 340 Kriegsschiffe – und damit über mehr als die USA. Auch Moskau steckt seit zwei Jahrzehnten massiv Geld in die Rüstung, die Ausgaben dafür wuchsen um 714 Prozent und katapultierten das Land beim Militärbudget global von Rang 21 auf Rang 5. 

Zweitens strahlte der Westen in den 2010er Jahren Schwäche aus, und Putin wie Xi als erfolgreiche Diktatoren können diese riechen. Die USA und Europa zerlegten sich innenpolitisch, was Russland und China nach Kräften anheizten. Der Kreml finanzierte Marine Le Pens rechtsradikalen Front National in Frankreich, seine Internet­trolle in Sankt Petersburg befeuerten Brexit und Trump-Kandidatur. Fridays-for-Future-, Black-Lives-Matter- und Wokeness-Bewegung, die Selbstankleber der „Letzten Generation“, endlose Gendersternchen-, Einwanderungs- und Corona-­Debatten, Afghanistan-Abzugsfiasko – aus Sicht Moskaus und Pekings ist der Westen dekadent, zerstritten und handlungsunfähig. 

Drittens befinden sich Russland und China am Zenit ihrer Macht. Ihre Bevölkerungen im arbeitsfähigen Alter schrumpfen rapide, die russische nach UN-Prognosen bis 2100 um 40 Prozent, die chinesische um 60. Russlands einziger Exportschlager, Öl und Gas, wird angesichts des Wachstums der grünen Energien nicht mehr lange so viele Dollars in die Kremlkasse spülen. China, meist als künftige Weltwirtschaftsmacht Nummer eins gehandelt, dürfte angesichts von katastrophaler Demografie, Deflation und Immobilienkrise wohl nie zu den USA aufschließen. Ökonomen sprechen bereits von „Peak China“, vom Gipfel, den das Land Ende der 2010er Jahre erklommen hat. Vom Gipfel führt der Weg allerdings stets nach unten. 

Eine eingeschlagene Rakete in Bergkarabach, September 2022 / Imago Images

Die Zeit spielt nicht für Moskau und Peking, zumal Hypernationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottungspolitik es ihnen unmöglich machen, um die wichtigste Ressource des Planeten zu buhlen: hochleistungsfähige mobile Arbeitskräfte in der IT, in der Grundlagenforschung und im Management. Vielmehr fliehen junge, gut ausgebildete Menschen zu Hundertausenden aus diesen Ländern oder kehren von Studienaufenthalten nicht wieder zurück.

Viertens schließlich sind Putin und Xi Diktatoren im fortgeschrittenen Rentenalter, der eine 71, der andere 70. Zwar haben sie sich auf Lebenszeit selbst inthronisiert, aber viele gute Jahre bleiben ihnen nicht mehr, um als Mehrer ihrer Reiche in die Geschichtsbücher einzugehen – 2021 hatten Männer in Russland eine durchschnittliche Lebenserwartung von 64, in China von 75 Jahren. Mit dem Eroberungsversuch der Ukraine setzt Putin alles auf eine Karte, mit der wiederholt versprochenen „Heimholung“ Taiwans könnte Xi bald dasselbe probieren. Russische Herrschaft über Kiew und chinesische über Taipeh sollen ihr historisches Vermächtnis sein.

Russland als idealer Unruhestifter

In der heutigen Achsenzeit geht es anders als in den späten 1940er Jahren nicht darum, Chaos durch Ordnung zu ersetzen. Das Gegenteil ist der Fall: Moskau und Peking wollen das westliche System innen- wie außenpolitisch sprengen und auf den Trümmern ihre Herrschaftsformen und Imperien ausweiten. Russland versucht dies mit Artilleriegranaten, Panzern und Söldnern, China mit wirtschaftlicher Abhängigkeit sowie mit systematischem Ausbau seiner Positionen in Territorialdisputen und internationalen Gremien. 

Beide Staaten brauchen einander, um die westliche Ordnung zum Einsturz zu bringen. Nicht umsonst reiste Putin drei Wochen vor dem Generalangriff auf die Ukraine nach Peking. Obgleich es keine Belege gibt, dass er Xi von seinen Angriffsplänen unterrichtete und sich dessen Plazet abholte, so versprachen sich beide Freundschaft „ohne Grenzen“. Dies war das Signal für die Invasion, das Putin brauchte.

Für Peking ist Russland ein idealer Unruhestifter. Der Überfall auf die Ukraine, das Schüren des serbischen Opfer-Chauvinismus gegenüber Kosovo, das Verdrängen französischer Anti-Terror-­Streitkräfte im Sahel – all dies fesselt die Aufmerksamkeit und Energie des Westens an Kriege und Konflikte, die weit weg sind vom Südchinesischen Meer und Taiwan. Während sich China international als Friedensmacht inszeniert, setzt der Kreml auf krude Gewalt. Das ist eine perfekte Arbeitsteilung, sogar wenn Putin sich dabei zunehmend Peking ausliefert. Seine devote Haltung bei Xis Besuch in Moskau im März und seine Huldigung von dessen Belt-and-Road-Initiative Ende Oktober zeigen, um Gerhard Schröders Wort zu bemühen, wer Koch und wer Kellner ist im bilateralen Verhältnis.

Die westliche Ordnung

Russland und China sind die größten Staaten, die die westliche Ordnung zerstören wollen. Aber sie sind nicht die einzigen. Auch kleinere Mächte streben nach einer Vormachtstellung in ihren jeweiligen Regionen und scheren sich immer weniger um etablierte Regeln. Nordkorea baute die Bombe und Langstreckenraketen, der Iran strebt mit aller Macht danach, die Nummer eins im Mittleren Osten zu werden, Belarus fliegt muslimische Flüchtlinge ein, um sie an die Grenze zu Polen zu karren und die EU zu destabilisieren. 

Alle drei nutzen dafür Mittel und Methoden, die allen Prinzipien des Westens zuwiderlaufen: Sie drohen, erpressen, nehmen die eigenen Bürger in Geiselhaft, bauen Massenvernichtungswaffen und fördern Terroristen. Für Moskau und Peking sind das willkommene Verbündete, weil sie den Westen herausfordern. Da passt es, dass sich der Paria Russland mit Teheran und Pjöngjang im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zusammentut: Das eine Land liefert Kamikaze-Drohnen, das andere Artilleriegranaten. Wenn es jemals eine Achse des Bösen gab auf der Welt, hier ist sie.

Russische Soldaten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, Februar 2000 / picture alliance

Selbst vor Antisemitismus macht Putin nicht Halt und knüpft damit nahtlos an Zaren, orthodoxe Kirche und Stalin an. Den Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj überzog er Anfang September im russischen Fernsehen mit Schimpftiraden. Einen ethnischen Juden habe der Westen da an die Spitze des Landes gesetzt, um das menschenfeindliche Wesen dieses Staates zu verschleiern – der Jude als Inkarnation sinisterer Machenschaften, so wenig originell wie bösartig. 

Antisemitische Klischees

Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober warf sich Putin der Terrororganisation an den Hals und erklärte, Israels Blockade des Gazastreifens seit nichts anderes als die Nazibelagerung Leningrads. Sofort bedankte sich die Hamas artig für sein „unermüdliches Bemühen, die zionistische Aggression gegen das palästinensische Volk“ zu beenden.

Peking bedient ebenfalls antisemitische Klischees, indem es die amerikanische Politik als von Juden kontrolliert dämonisiert und im sonst national völlig zensierten Internet Israel als Hassobjekt freigibt. Eigentlich wollen Russland und China die USA aus dem Nahen und Mittleren Osten verdrängen. Wenn sich das nicht erreichen lässt, dann suchen sie die Supermacht zumindest in Konflikte hineinzumanövrieren und zu denunzieren, um in der arabischen Welt zu punkten und Washington zu schwächen. „Bloodletting“, „Zur-Ader-Lassen“, nennt der Politikwissenschaftler John Mearsheimer dieses historisch erprobte Rezept.

Wer kann die westliche Ordnung am Leben erhalten? Mit der entschlossenen Antwort auf Russlands Überfall auf die Ukraine hatte die EU noch Anlass zur Hoffnung gegeben, sie erwache endlich aus ihrem außen- und sicherheitspolitischen Koma. Heute ist klar: Das war die eine glorreiche Ausnahme, die Regel ist Impotenz. Jahrelang gerierte sich Brüssel zum Beispiel als Vermittler beim Territorialdisput zwischen Aserbaidschan und Armenien. Als Bakus Streitkräfte im September die armenische Enklave Bergkarabach eroberten und „ethnisch säuberten“, kamen von der EU nur kleinlaute Proteste. Der Deal mit Tunesien zur Reduzierung der Massenimmigration über das Mittelmeer platzte schon nach wenigen Wochen. Nicht einmal vor der eigenen Haustür sind die Europäer durchsetzungsfähig. In der Dauerfehde zwischen Serbien und Kosovo wirken sie ratlos. 

Und in der Frage der Unterstützung Israels nach den Terrorattacken der Hamas am 7. Oktober desavouierten der Außenbeauftragte Josep Borrell und Ratspräsident Charles Michel öffentlich den entschlossenen Kurs von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der Formelkompromiss, den die Staats- und Regierungschefs nach langen Debatten am 26. Oktober zur Lage in Nahost gefunden hatten, hielt nicht mal einen Tag. Dann kündigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihn schon wieder auf, indem er nicht mehr von kurzen „Feuerpausen“ sprach, sondern eine generelle „Feuerpause“ forderte. 

Die wirklichen Krisen auf dem Planeten

Lange Zeit beruhte die Strahlkraft der EU auf ihrer ökonomischen Stärke. Doch selbst da fällt sie immer weiter hinter die USA und andere Staaten zurück. War die Wirtschaftskraft ihrer Mitglieder 1990 noch 10 Prozent größer als die der USA, liegt sie heute ein Drittel darunter. Henrik Müller, Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund, kam zu dem Schluss, die EU sei „langsam, undynamisch und schwach“. 

Ihr Agrarprotektionismus im grünen Mäntelchen – Stichwort Chlorhühnchen – ruinierte 2016 schon das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA. Vor wenigen Wochen ereilte ein Vertrag mit Australien dasselbe Schicksal. Wenn es um die wirklichen Krisen auf dem Planeten geht, bei denen Taten und Machtmittel gefragt sind und nicht nur große Worte, gibt deshalb niemand einen Pfifferling auf die Union. „Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“, hat Mao schon 1938 erkannt. Ohne eigene Armee fällt die EU international als ernst zu nehmender Akteur und Bewahrer der liberalen westlichen Ordnung aus.

Die Schwäche der EU ist vor allem die Schwäche Deutschlands. Als größte Wirtschaftsmacht des Kontinents und bevölkerungsreichster Staat müsste sie führen, nicht zaudern. Aber es fehlt an allem: an strategischen Denkern in der Politik und klugen Debatten in der Öffentlichkeit, an den militärischen Fähigkeiten und am Willen, sie notfalls einzusetzen. Die von Kanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“ blieb ein PR-Gag, wie NZZ-Chefredakteur Eric Gujer analysierte, die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr fließen nur zögerlich ab, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato verfehlt die Bundesrepublik nach wie vor. 

Bei hehren Appellen für Klimaschutz und Menschenrechte, beim Bau von Gedenkstätten und Erinnerungszentren ist Berlin zwar Weltspitze. Aber sobald Außen- und Sicherheitspolitik konkret werden, versagt es. Was etwa vom Versprechen zu halten ist, Israels Existenzrecht sei deutsche Staatsräson, legte die Abstimmung in der UN-Generalversammlung zum Nahostkonflikt am 27. Oktober schonungslos offen. Obwohl die Resolution den Terror­überfall der Hamas nicht erwähnte und sie deshalb ein Nein verdient hätte, flüchtete sich die Ampelregierung in eine Enthaltung, um die arabische Welt nicht zu verprellen.

Eine neue Achsenzeit

Die Amerikaner hingegen haben erkannt, dass sie in eine neue Achsenzeit eingetreten sind. Trump hat als erster Präsident verstanden, wie dramatisch China die amerikanische Vormachtstellung bedroht. Er agierte aber zu konfus und wurde mit seinem isolationistischen und autoritären Agieren selbst zur Gefahr für die westliche Ordnung. Biden hingegen baut auf das wichtigste Gut der USA in ihrer Rivalität mit Peking und Moskau: ihre militärische Macht und ihr globales Bündnissystem. 

Nur die Amerikaner bemühen sich um eine Deeskalation im Nahen Osten nach dem Mordzug der Hamas gegen Israel. Zwei Flugzeugträgergruppen vor Libanons Küste sind bessere Argumente, Hisbollah und Teheran vom Eröffnen einer zweiten Front gegen Israel abzuhalten, als Dutzende EU-Erklärungen. Und nur die Amerikaner verstehen, was der französische Staatsphilosoph Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert wusste und was in der Bundesrepublik und in der EU nie angekommen ist: Macht ohne Recht ist Tyrannei, Recht ohne Macht ist Ohnmacht.

Biden mag alt sein und seine „senior moments“, seine Rentnermomente, haben. Aber er ist ein Kind der westlichen internationalen Ordnung und sieht mit klarem Blick, welche Gefahr ihr droht. „Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte – einer dieser Momente, wo die Entscheidungen, die wir heute treffen, die Zukunft auf Jahrzehnte bestimmen werden“, sagte er in seiner Fernsehansprache an die Nation am 20. Oktober, in der er den Kongress zu einem 100-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine, Israel und Taiwan drängte. Ob das wirre Repräsentantenhaus dem Präsidenten folgt, ist ungewiss. Doch bleiben die USA die „unverzichtbare Nation“, wie die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright 1998 sagte. Das gilt heute noch mehr als damals.

 

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