Syrien-Türkei-Konflikt - Verrat an den europäischen Bündnispartnern

Der Einmarsch türkischer Truppen nach Nordsyrien ist ein Verstoß gegen die UN-Charta. Das hat auch Folgen für die EU. Zwischen den Großmächten USA, Russland und China wird sie so derzeit zerrieben. Die EU muss sich unabhängig machen von ihren Bündnispartnern – auch militärisch

Der Einmarsch der Türkei in Syrien offenbarte die Sicherheitsprobleme in der EU / picture alliance
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Autoreninfo

Harald Kujat ist ein deutscher General a. D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 der 13. Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

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Im März verkündete US-Präsident Donald Trump den Sieg über den Islamischen Staat. Das war voreilig, denn noch wurde gekämpft. Allerdings weniger von amerikanischen Soldaten als von kurdischen Kämpfern und den syrischen Streitkräften des Machthabers Bashar Al Assad. Inzwischen ist Syrien soweit von dieser und weiteren Terrororganisationen befreit, dass die politische Stabilisierung eingeleitet und der wirtschaftliche Wiederaufbau in Angriff genommen werden könnte; mit einer neuen Verfassung, der Einsetzung einer Übergangsregierung und freien Wahlen, die die Ablösung des Assad-Regimes einleiten.

Dieser Prozess hätte die Pläne des türkischen Präsidenten vereitelt, das große osmanische Reich wieder entstehen zu lassen. Selbst sein strategisches Zwischenziel, einen kurdischen Staat auf syrischem Territorium, an der Grenze zur Türkei zu verhindern, wäre bei einer Normalisierung der Lage in Gefahr geraten.

Der Kampf gegen die Kurden

Mit dem Vorwand, lediglich eine Sicherheitszone errichten zu wollen, erreichte Erdogan in einem Telefongespräch mit Präsident Trump den Abzug der im Nord-Irak zur Unterstützung der kurdischen Kämpfer eingesetzten amerikanischen Soldaten. Damit wurden die engen Verbündeten der USA bedenkenlos ihrem größten Feind ausgeliefert. Die Flucht aus der Verantwortung für die Sicherheit langjähriger, enger Verbündeter ist zu einem Markenzeichen amerikanischer Außenpolitik unter Präsident Trump geworden. Israel, aber auch die osteuropäischen Nato-Verbündeten wären gut beraten, sich darauf einzustellen.

Zu den Folgen der erratischen Politik Trumps gehört, dass er selbst den von ihm so großspurig und voreilig verkündeten Sieg über die Terrormiliz Islamischer Staat gefährdet, weil viele tausend IS-Kämpfer aus den nicht mehr ausreichend gesicherten Lagern fliehen können und nach einer kurzen Zeit der Rekonstitution den Terror wieder aufnehmen werden. Nicht nur in Syrien und dem Irak sondern auch in Europa. Hunderttausende Kurden sind auf der Flucht, von denen viele in Europa ihr Ziel finden werden. Wie schon bei der Eroberung der kurdischen Enklave Afrin ist zu befürchten, dass die islamischen Hilfstruppen der Türkei ungezählte Menschenrechtsverletzungen begehen.

Türkei hat gegen UN-Charta verstoßen

Die kurdischen Kämpfer können die türkischen Streitkräfte trotz heftigen Widerstands nicht ohne militärische Unterstützung aufhalten. Durch die Vermittlung Russlands kämpfen nun Einheiten der syrischen Streitkräfte an ihrer Seite. Mit deren Hilfe konnte die aktive Verteidigung mit dem Ziel aufgenommen werden, die verlorenen Gebiete wieder einzunehmen und die türkischen Angreifer zurückzuwerfen. Die wenigen verbliebenen amerikanischen Soldaten haben keinen Einfluss auf den Verlauf der Kampfhandlungen. Russisches Militär soll einen direkten Zusammenstoß zwischen türkischen und syrischen Verbänden verhindern. Russland ist jetzt die entscheidende Ordnungsmacht. Die Zukunft der gesamten Region und das Schicksal der Kurden liegen in den Händen Russlands.

Bei westlichen Politikern wächst allerdings die Sorge, eine militärische Auseinandersetzung zwischen der türkischen und der syrischen Armee könnte die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nato-Vertrags auslösen. Der türkische Überfall auf Syrien ist eine völkerrechtswidrige Aggression. Nach Artikel 51 der UN-Charta hat Syrien das Recht zur Selbstverteidigung. Selbst wenn die syrischen Streitkräfte dabei auf türkisches Territorium vorrücken sollten, wäre dies kein geeigneter Anlass, die Beistandsverpflichtung der Nato-Verbündeten nach Art. 5 des Nato-Vertrages in Kraft zu setzen, denn auch die kollektive Bündnisverteidigung der Nato wird durch das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung auf der Grundlage der UN-Charta legitimiert. Aber selbst wenn einzelne Nato-Staaten den türkischen Vorstoß unterstützen sollten, wäre ein positives Votum zugunsten der Türkei höchst unwahrscheinlich, da alle Verbündeten zustimmen müssten. Die Bundesregierung könnte dies schon deshalb nicht, weil die Verfassung die Beteiligung an einem Angriffskrieg verbietet.

Scharfe Reaktion aus den USA

Inzwischen hat die amerikanische Regierung ihren Kurs geändert und den türkischen Angriff verurteilt, Strafzölle und Sanktionen gegen türkische Regierungsmitglieder ausgerufen und sogar damit gedroht hat, „die Invasion der Türkei in Syrien schlicht nicht länger (zu) tolerieren“. Was das konkret bedeuten könnte, ist bisher offen.

Die Außenminister der Europäischen Union konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Beschluss verständigen, die Lieferung von Waffen an die Türkei zu stoppen. Ein allgemeiner Lieferstopp hätte zwar keine Auswirkungen auf die laufenden Angriffsoperationen der türkischen Streitkräfte, aber er wäre zumindest eine Demonstration der Einigkeit. Wirtschaftssanktionen wie im Falle Russlands, wurden offensichtlich angesichts der Drohung Erdogans, 3,7 Millionen Flüchtlinge nach Europa zu schicken, nicht einmal erwogen. Und die Tagesordnung bot auch keine Gelegenheit, den längst überfälligen Abbruch der Beitrittsgespräche zu verkünden.

Die EU wird zwischen starken Kräften zerrieben

In der Energieversorgung abhängig von Russland, in der Sicherheit von den Vereinigten Staaten, von den Folgen des Handelsstreits zwischen den USA und China betroffen und von einem engen Nato-Verbündeten wirtschaftlich unter Druck gesetzt, durch innere Widersprüche und zentrifugale Kräfte mit selbstgemachten Herausforderungen ringend, ist Europa in der Machtarithmetik der neuen Weltordnung der großen Mächte, Vereinigten Staaten, Russland und China, ein zu vernachlässigender Faktor. Die Unfähigkeit der regierenden Politiker, die großen Herausforderungen der Zukunft frühzeitig zu erkennen und geeignete Gegenstrategien zu entwickeln, ist Anlass zu größter Besorgnis: Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in vielen Teilen der Welt, das ausufernde Bevölkerungswachstum, die großen Migrationswellen, die Beseitigung ethnischer und religiöser Konfliktursachen sowie die Lösung von Krisen und Konflikten, die Folgen der Klimaveränderung, die Beseitigung oder zumindest Eindämmung der nuklearen Bedrohung.

Immerhin erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron nach Trumps Ankündigung, den INF-Vertrag zu kündigen, Europa und seine Sicherheit seien die Hauptopfer dieser einseitigen Maßnahme. Und er forderte, Europa müsse sich verteidigen können, „ mit Blick auf China, auf Russland und sogar auf die USA.“ Als Konsequenz forderte Macron eine „wahre europäische Armee.“ Die Bundeskanzlerin fasste in diesem Zusammenhang das Versagen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik auf der Münchner Sicherheitskonferenz in die Worte, die Kündigung sei „unabwendbar“ gewesen.

Verrat an den europäischen Bündnispartnern

Mit der Kündigung des INF-Vertrages setzen die USA ihre Strategie fort, die sie 2001 mit der Kündigung des ABM-Vertrages begonnen haben: Sie wollen sich einen militärischen Vorteil verschaffen, der das strategische Gleichgewicht mit Russland zu ihren Gunsten verändert. Damit verstoßen sie gegen den Grundsatz, dass das Bündnisgebiet eine strategische Einheit bildet und es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in der Nato geben darf, Europa also die gleiche Sicherheit beanspruchen kann wie die USA. Die Gefahren für Europa durch die Bedrohung mit eurostrategischen Nuklearwaffen könnte sehr bald Realität werden. Dies als Verrat an der Sicherheit der europäischen Verbündeten zu werten, ist sicherlich nicht zu weit gegriffen.

Mehr denn je ist Europa gefordert, sich zwischen Russland und den USA sowie gegenüber China zu behaupten. Der britische Historiker Timothy Ash spricht in diesem Zusammenhang von der Selbstbehauptung Europas. Sie beginnt damit, dass die Europäer sich auf ihre politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Stärken besinnen, sie fördern und ausbauen und im Dienste ihrer Interessen einsetzen.

Deutschland und Frankreich sollten dabei vorangehen und sich gemeinsam bemühen, das Verhältnis zu Russland in Ordnung zu bringen, indem sie der Ukraine einen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur einräumen, der mit den legitimen Sicherheitsinteressen Russlands vereinbar ist und die wirtschaftliche und politische Stabilisierung des Landes fördert. Dazu muss auch die Nato im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit Russland einen Beitrag leisten. Das  bedeutet nicht, auf Distanz zu den USA zu gehen. Die USA bleiben unser wichtigster Verbündeter. Aber angesichts der Aussichten für eine zweite Amtszeit Trumps ist es angeraten, in größeren Zeiträumen denken.

Vision eines geeinten Europas

Auch wenn eine europäische Armee noch für lange Zeit eine ferne Vision bleiben wird, könnte die Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato ein pragmatischer erster Schritt in diese Richtung sein. Er würde dazu beitragen, größeren politischen und militärischen Einfluss in konzeptionellen und strategischen Fragen der Nato auszuüben und wichtige Führungspositionen in der militärischen Kommandostruktur zu besetzen. Größerer Einfluss bedeutet größere Verantwortung für die europäische Sicherheit zu übernehmen und setzt Bereitschaft voraus, dauerhaft die notwendigen finanziellen Mittel für die europäische Sicherheitsvorsorge aufzubringen.

Die Vision eines geeinten Europas ist bisher nur durch den Mut und die Weitsicht von Politikern wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing sowie den überzeugten Europäer Helmut Kohl vorangebracht worden. Am Ende der Übergangsphase nach dem Kalten Krieg hat sich eine neue Weltordnung herausgebildet, in der Europa sich behaupten muss. Dafür brauchen wir europäische Politiker, die in der Tradition dieser großen Europäer stehen.

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