Streitgespräch über Migration - „Das alles ist sozialer Sprengstoff!“

Wie umgehen mit der illegalen Migration? Und wer trägt die Verantwortung? Darüber streiten die Seenotretterin Lea Reisner, der grüne Landrat Jens Marco Scherf und Jens Spahn von der CDU.

Flüchtlingsboot im Mittelmeer / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Jens Marco Scherf ist Landrat des Landkreises Miltenberg in Bayern und arbeitete zuvor als Rektor einer Verbandsschule. Der grüne Kommunalpolitiker erlangte bundesweite Bekanntheit, als er im Januar 2023 einen Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz verfasste.

Jens Spahn ist seit 2002 Mitglied des Bundestags. Der frühere Bundesgesundheitsminister, Jahrgang 1980, gehört seit 2014 dem CDU-Präsidium an, von Januar 2021 bis Januar 2022 als einer der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden.

Lea Reisner ist ausgebildete Krankenschwester und war mehrere Jahre auf einem Rettungsschiff für in Seenot geratene Migranten aktiv. Sie kandidiert für die Linkspartei zur Europawahl und ist Mitautorin des Buches „Grenzenlose Gewalt – Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“.

Hinweis: Dieses Gespräch wurde vor der jüngsten Einigung des Europäischen Parlaments zur EU-Asylreform geführt und ist Teil der aktuellen Print-Ausgabe. 

Herr Scherf, in den vergangenen Wochen gab es einigen Streit wegen der Bezahlkarte für Flüchtlinge – also um die Frage, ob man Asylbewerbern statt Geld faktisch nur noch Sachleistungen geben soll. Ihre Partei, die Grünen, sträubte sich lange gegen eine bundeseinheitliche Regelung. Wie handhaben Sie das bei sich im Landkreis? Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?

Jens Marco Scherf: Mit der Bezahlkarte haben wir im bayerischen Landkreis Miltenberg natürlich noch keine Erfahrungen gemacht. Aber wir erwarten die Einführung bayernweit. In Bayern wird das in den kommenden Wochen in vier Landkreisen ausprobiert im Rahmen eines Pilotprojekts. Ich unterstütze das auch, denn wir erhoffen uns davon eine Vereinfachung – dass wir nicht mehr hundertfach jeden Monat Bargeld auszahlen müssen. Das ist nämlich nicht nur ein Sicherheitsrisiko, sondern auch eine hohe Belastung, egal ob im Landratsamt oder in den Rathäusern vor Ort.

Herr Spahn, ist die Bezahlkarte ein effizienter Schritt, um die Migration zu drosseln? Sind Geldleistungen ein Pull-Faktor? Was versprechen Sie sich von dieser Regelung?

Jens Spahn: Es ist eine Maßnahme von vielen. Und sie ist wichtig, um die Kontrolle über Migration zurückzugewinnen. Die entscheidenden Maßnahmen liegen allerdings an der EU-Außengrenze und darüber hinaus. Für Deutschland geht es neben Grenzkontrollen und neben der Durchsetzung von Rückführungen natürlich auch um die Frage, welche Leistungen es für Asylbewerber gibt. Und da besteht übrigens kein gesetzlicher Anspruch auf Bargeldzahlungen. Wir erleben ja viele Rücküberweisungen in die Herkunftsländer – aber die soziale Unterstützung in Deutschland war und ist nicht dafür vorgesehen, dass man damit jemand anderen im Heimatland unterstützt oder möglicherweise die Schlepper bezahlt. Deswegen ist es richtig, die Bargeldauszahlung zu beenden. Ich würde mir sogar wünschen, dass die Bezahlkarten nur für einen bestimmten Warenkorb gelten, also etwa für Kleidung, für Lebensmittel – für das, was man zum Leben braucht. Aber eben nicht für Alkoholika oder Ähnliches.

Lea Reisner: Herr Spahn, Ihr Vorschlag widerspricht dem deutschen Grundgesetz, er widerspricht der Menschenwürde. Es ist höchstrichterlich festgelegt. Ohnehin kommen die Menschen doch nicht nach Deutschland, um maximal 410 Euro im Monat zu kassieren. Sondern sie kommen hierher, weil es bei uns Demokratie gibt, weil es hier Rechtsstaatlichkeit gibt, weil sie hier im Zweifelsfall Familie haben. Und weil sie sich erhoffen, hier Arbeit zu finden. Die Behauptung, dass die Menschen massenweise Geld in ihre Heimatländer zurücküberweisen, entspricht außerdem nicht den Tatsachen. Das sind einfach Behauptungen, die da aufgestellt werden.

Jens Spahn: Im Gesetz sind Sachleistungen als Regelprinzip verankert. Und zu den 400 Euro, die Sie nennen, kommt ja noch Geld fürs Wohnen und fürs Heizen dazu. Und es sind die Kommunen, die den Wohnraum suchen und zur Verfügung stellen müssen – wo gleichzeitig Hunderttausende Familien in Deutschland händeringend nach einer Wohnung suchen. Selbstverständlich haben die hohen Zuwanderungszahlen auch mit Sozialleistungen zu tun – was ja auch der menschlichen Logik entspricht. Als Migrant würde ich doch auch in das Land gehen, wo die höchsten Leistungen winken. Und weil man sich innerhalb der Europäischen Union das Zielland faktisch aussuchen kann, kommen die meisten Migranten zu uns. Nicht ohne Grund heißt es in Griechenland, in Italien oder in Spanien über uns Deutsche: Ihr habt es selbst zu verantworten, wenn im Zweifel alle zu euch wollen! Und es geht bei alldem letztlich auch um die Akzeptanz bei der Bevölkerung. Da stellen sich nämlich viele Menschen die Frage: Wie kann es sein, dass jemand, der möglicherweise sogar ausreisepflichtig ist, die gleichen Sozialleistungen bekommt wie jemand, der dauerhaft hier leben wird und auch integriert werden soll? Das alles ist sozialer Sprengstoff.

Jens Marco Scherf / Markus Hintzen

Herr Scherf, wie ist es um die Akzeptanz der Bevölkerung im Landkreis Miltenberg bestellt?

Jens Marco Scherf: Die Akzeptanz ist natürlich ein großes Problem. Der Konsens in der Bevölkerung ist eigentlich sehr groß, dass wir eine große Bereitschaft haben, Menschen in Not zu helfen. Wir haben in meiner Region eine große Tradition in Sachen Arbeitsmigration. Aber in den vergangenen Monaten ist leider genau das passiert, was ich befürchtet habe: Woche für Woche brauchen wir mehr Flüchtlingsunterkünfte im Landkreis Miltenberg, mittlerweile sind es über 100. Und das sind alles kleine politische Explosionsherde, wo sich Widerstand regt und wo die Akzeptanz zurückgeht. Auch unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vor Ort sagen: Es sind die Grenzen der Belastbarkeit auf der kommunalen Ebene einfach überschritten. Einheimischen fällt es schwer, Wohnraum zu finden. Und durch die vielen Flüchtlingsunterkünfte entziehen wir nicht nur Wohnraum, sondern auch Kapazitäten für Kindergärten oder Schulen. Ich könnte endlos weitermachen. Das sind lauter praktische Gründe, weshalb die Akzeptanz auf verschiedenen Ebenen deutlich nachlässt.

Und was bedeutet das für die Integration?

Jens Marco Scherf: Das ist ein Riesenproblem. Um all die Menschen wirkungsvoll – also gesellschaftlich, sprachlich und dann möglichst schnell auch beruflich – zu integrieren, fehlen uns komplett die Ressourcen. Dazu fehlt vor allem auch das Personal. Die Integrationskurse sind allesamt auf ein halbes, auf ein Dreivierteljahr hin ausgebucht.

Jens Spahn: Wir hatten in den letzten zehn Jahren 2,8 Millionen Asylanträge in Deutschland, hinzu kommen gut eine Million Menschen aus der Ukraine, die jetzt bei uns sind. Die Integrationsaufgabe ist riesig; das ist ja nicht nach zwei Wochen Integrationskurs getan. Ich war viermal in Afghanistan und habe eine Vorstellung davon, wie groß die kulturellen Unterschiede sind und wie lange es dauert, sich hier einzufinden. Was Deutschland dringend braucht, damit wir das überhaupt schaffen können, ist eine Pause bei der irregulären Migration. Im Übrigen kann auch nicht die Lösung für die ganze Welt darin bestehen, nach Deutschland zu kommen. Rund 5 Prozent der syrischen Bevölkerung wohnen mittlerweile in Deutschland, ebenso 1 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Wir werden das Problem Afghanistans nicht lösen, indem es irgendwann 100 Prozent sind, die hier in Deutschland leben.

Jens Spahn / Maurice Weiss

Herr Spahn, Sie haben im Zusammenhang mit der Migration sogar von einer „Existenzfrage“ für unsere Demokratie gesprochen. Was meinen Sie damit?

Jens Spahn: Ich habe schon im Jahr 2015 darauf hingewiesen, dass eine derart massenhafte Zuwanderung auf Dauer keine Akzeptanz finden wird. Und ich will auch nicht, dass wir weiterhin unkontrolliert irreguläre Migration erleben, dass wie im letzten Jahr jeden Tag im Schnitt 1000 Menschen einfach nach Deutschland einreisen und letztlich auch bleiben können. Damit sind wir auch schon beim Thema Demokratie: Die Menschen hier in Deutschland wollen helfen, aber sie wollen eben, dass wir dabei die Kontrolle und die Grenzen des Machbaren im Blick haben. Deshalb meine These: Entweder beendet die demokratische Mitte irreguläre Migration, oder irreguläre Migration beendet die demokratische Mitte. Das Ende des Parteiensystems, wie wir es bisher in Europa kannten, hängt maßgeblich zusammen mit der Frage von Migration und Integration.

Frau Reisner, für Sie ist die Migration auch eine Existenzfrage, aber in einem ganz anderen Sinne: Sie sehen in den neuen Restriktionen beim Thema Asyl und Zuwanderung die Existenz von Menschenrechten in Gefahr. Würden Sie denn abstreiten, dass Migration schon irgendwie begrenzt werden muss, damit unser Sozialstaat nicht endgültig überfordert wird und die gesellschaftliche Stimmung in diesem Land noch weiter kippt?

Lea Reisner: Ich habe mich selber lange in der kommunalen Flüchtlingshilfe engagiert – und habe sehr viel Respekt vor dem, was die Kommunen und Landkreise leisten. Ich sehe die Überlastung dort. Das Problem ist aber, dass die Kommunen finanziell einfach nicht gut genug ausgestattet sind. Es fehlt ihnen das Geld, um den kommunalen Wohnungsbau voranzutreiben, um Schulen und Kindergärten so auszustatten, wie es nötig wäre. Als Linke fordern wir deshalb in unserem Europawahlprogramm, einen europaweiten Fonds aufzusetzen, der die Kommunen je nach ihrer Aufnahmebereitschaft gezielt unterstützt, damit sie sich nicht entscheiden müssen, ob sie jetzt eine neue Flüchtlingsunterkunft bauen oder ob sie stattdessen beispielsweise ihre Schulen sanieren.

Wo soll das Geld denn herkommen? Wir haben in Deutschland eine Schuldenbremse.

Lea Reisner: Wir haben allein in Deutschland Steuerflucht im Umfang von jährlich 100 Milliarden Euro, wir haben massive Vermögen in privater Hand. Man könnte auch mal verhindern, dass Unionspolitiker irgendwelche verrückten Maut-Ideen haben, womit sie 240 Millionen Euro in den Wind schießen. Da gibt es eine Menge an Optionen, wie man Geld zur Verfügung stellen könnte, um die Kommune darin zu unterstützen, die Menschen vernünftig unterzubringen. Und zwar ohne einen Konkurrenzkampf heraufzubeschwören zwischen beispielsweise einer Krankenschwester wie mir auf der einen Seite und den Geflüchteten auf der anderen Seite.

Jens Spahn: Frau Reisner, Linke wie Sie glauben immer, alle Probleme ließen sich mit Geld lösen. Das ist aber nicht der Fall – und schon gar nicht bei der Akzeptanz von Massenmigration. Ohnehin müssen die Kommunen sparen, weil ihnen derzeit Gewerbesteuereinnahmen wegbrechen und sie gleichzeitig richtig viel Geld ausgeben müssen, um diese hohen Zuwanderungszahlen irgendwie zu bewältigen. Das wird noch richtig explosiv in den nächsten Monaten und Jahren. Zum Zweiten: 100.000 ukrainische Kinder allein in Nordrhein-Westfalen zusätzlich, das entspricht 4000 Schulklassen. Da geht es doch nicht nur um Geld. Wo sollen die Lehrer herkommen? Die Lehrerausbildung dauert sieben Jahre! Und wir sehen mittlerweile auch an den Pisa-Studien die Folgen dieser großen Zahl an Migration. Integration kann nur dann gelingen, wenn die Mehrheit in den Schulklassen noch Deutsch spricht und auch klar ist, in welche Art von Gesellschaft hinein integriert werden soll. Die Leute wollen nicht, dass wir theoretisch für 40 Millionen Afghanen Aufnahmebereitschaft signalisieren.

Herr Scherf, fehlt es Ihnen im Landkreis an Geld, um die Integration zu bewältigen?

Jens Marco Scherf: Ich habe große Zweifel, dass das Geld in diesem Umfang tatsächlich da ist. Allein für die Unterbringung fehlen den Kommunen in Deutschland in den Jahren 2022 und 2023 über sechs Milliarden Euro. Aber selbst wenn wir das ganze Geld hätten, fehlen uns ja am Ende das Personal und die Strukturen, um die Integration zu bewältigen. Aber ich fürchte, die Zuwanderungspause, von der Herr Spahn spricht, werden wir nicht bekommen. Wir kriegen das ganze Problem wirklich nur gelöst, wenn wir Ordnung in die Migration bekommen. Wenn die Bevölkerung in großen Teilen den Eindruck hat, dass wir als Staat die Lage nicht im Griff haben, und zwar weder auf Bundes-, auf Landes- noch auf kommunaler Ebene, dann gehen uns die Menschen zunehmend von Bord.

 

Mehr zum Thema:

 

Herr Scherf, Ihre Partei, also die Grünen, war ja immer besonders offen, was das Thema Migration angeht. Vor gerade mal drei Jahren hat die heutige Parteivorsitzende Ricarda Lang sich vor das Kanzleramt gestellt mit einem Plakat, auf dem zu lesen stand: „Wir haben Platz“. Sind Sie denn schon einmal auf die Parteioberen zugegangen und haben versucht, sie mit Ihren Erfahrungen als Landrat zu konfrontieren?

Jens Marco Scherf: Ja, natürlich. Ich habe mich schon im November 2022 an die Landes- und Bundesebene der Grünen gewandt und darauf hingewiesen, dass da im Schatten der Ukrainekrise ein großes Problem auf uns zukommt, welches wir anpacken sollten.

Aber Sie konnten nicht durchdringen?

Jens Marco Scherf: Genau. Man muss auch ein Scheitern eingestehen.

Herr Spahn, selbst Bundeskanzler Olaf Scholz hat in einem Spiegel-Interview vor gar nicht allzu langer Zeit gefordert, man müsse jetzt in großem Stil abschieben.

Jens Spahn: Und was hat er dann gemacht? Das Problem ist: Es wird immer viel angekündigt, es werden Abschiebungen im großen Stil versprochen, es werden Ministerpräsidentenkonferenzen abgehalten, der Kanzler selbst spricht von einem „historischen Kompromiss“. Und dann kommt ein Rückführungsverbesserungsgesetz, auf dessen Grundlage gerade mal zusätzlich 600 ausreisepflichtige Menschen abgeschoben werden können. Genau das ist es, was massiv Vertrauen kostet. Das sehen wir im Übrigen ja auch an der politischen Stimmung im Land.

Frau Reisner, was halten Sie von der Ankündigung des Bundeskanzlers, in großem Stil abzuschieben?

Lea Reisner: Das ist Populismus pur. Es gibt aktuell in Deutschland 16.000 Menschen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind – also 16.000 Menschen, bei denen es keine Abschiebehindernisse gibt. Diese Debatte geht deshalb absolut am Thema vorbei, denn selbst wenn man diese 16.000 Personen abschieben würde, hätte man immer noch keinen bezahlbaren Wohnraum, immer noch nicht genug Kitaplätze, dann hat man immer noch keine Schulen saniert, dann hat man immer noch nicht den ÖPNV ausgebaut. Und nicht zuletzt gilt auch für Deutschland die Genfer Flüchtlingskonvention!

Jens Spahn: Bei der Genfer Flüchtlingskonvention ging es ursprünglich um politische Verfolgung. Mittlerweile können wir aber Menschen nicht in ihre Heimatländer zurückführen – zum Teil aufgrund von Gerichtsurteilen –, weil sie dort womöglich in sozial schwierigere Situationen kommen. Wir können auf diese Weise natürlich noch ein paar Jahre so weitermachen. Aber dann werden wir nur eines erleben: Dass nämlich keiner von uns dreien hier überhaupt noch in einer politisch verantwortlichen Situation sein wird. Sondern stattdessen die Populisten und im schlimmsten Fall die Extremisten von ganz rechts. Deswegen bitte ich geradezu flehentlich darum, dass wir in der demokratischen Mitte unseres Landes endlich zu Entscheidungen kommen, die dieses Thema lösen. Und zwar nicht in Pressekonferenzen, sondern in der Sache: durch nationale Maßnahmen und durch Maßnahmen an der Außengrenze. Sonst wird es in ganz Europa ein sehr, sehr böses Erwachen geben.

Lea Reisner / Maurice Weiss

Frau Reisner, Sie waren jahrelang als Seenotretterin auf einem Schiff unterwegs, haben ertrinkende Migranten aus dem Wasser geholt. Wie haben Sie die Situationen vor Ort erlebt?

Lea Reisner: 2017 war einer meiner ersten Einsätze – und ein prägendes Ereignis. Wir sind zu einem sinkenden Boot gekommen, neben dem ich eine Frau aus dem Wasser gezogen habe, die nicht aufhörte zu schreien. Nach einer Weile stellte sich heraus, dass sie kurz zuvor ihre zweijährige Tochter verloren hatte. Sie war mit dem Mädchen aus einem afrikanischen Land geflohen, aus einer Zwangsehe heraus, aus der Angst, dass auch ihre Tochter eine Genitalverstümmelung würde erleiden müssen. Diese Frau hatte eine wirklich ganz traumatisierende Flucht hinter sich – mit Vergewaltigungen, mit faktischer Versklavung in Libyen. Ich habe Menschen kennengelernt, die saßen das zehnte, elfte, zwölfte Mal auf so einem Boot; die haben es so oft versucht, sind aber immer wieder von der libyschen Küstenwache zurückgepusht worden. Die probieren es so lange, bis sie sterben oder in Europa ankommen – weil sie eben in existenziellen Krisen sind. Deshalb werden wir Migration auch nicht beenden können. Zumindest nicht, solange wir Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit hochhalten wollen.

Herr Spahn, Sie sind Mitglied einer Partei, die das „C“ im Namen trägt. Wie steht es um die christliche Verantwortung?

Jens Spahn: Was Frau Reisner beschreibt, sind furchtbare Schicksale. Und was täglich auf dem Mittelmeer passiert, ist unerträglich. Ich weiß aber auch: Zur Barmherzigkeit gehört die Fähigkeit, überhaupt helfen zu können und sich dabei nicht zu übernehmen. Es existiert kein Menschenrecht, wonach jeder in das Land seiner Wahl gehen kann, um dort dauerhaft zu bleiben. Wenn wir als Maßstab anlegen, dass überall dort, wo es schlechter ist als in Deutschland, gewissermaßen einen Anspruch darauf gibt, sich auf den Weg zu uns zu machen, dann wird das nicht funktionieren. Und deswegen gehören für mich zum Christlich-Sein auch gesunder Menschenverstand und ein Blick dafür, was überhaupt machbar ist. Wir können nicht die Verantwortung für alle Regionen der Welt übernehmen. Ein Staat muss in der Lage sein, seine Grenze zu schützen.

Herr Scherf, können Sie aus Ihrer Erfahrung als Landrat beziffern, wie groß der Anteil derjenigen ist, die wirklich vor politischer Verfolgung in ihrer Heimat zu uns fliehen? Und wie viele gekommen sind, weil sie schlicht nach besseren Lebensumständen suchen?

Jens Marco Scherf: Dazu müsste ich wirklich in die Menschen hineinschauen können. Aber wir wissen ja alle, dass ein Anteil von etwa 0,5 Prozent tatsächlich von politischer Verfolgung im klassischen Sinne betroffen ist. Es ist ein Dilemma: Was im Mittelmeer passiert ist, ist furchtbar und unerträglich. Aber es wird uns nicht gelingen, hier bei uns allen Menschen zu helfen. Außerdem gibt es noch viel mehr Menschen, die von Zwangsehen und ähnlichen Schicksalen betroffen sind – von denen aber längst nicht alle die Möglichkeit haben, sich überhaupt auf den Weg zu machen.

Frau Reisner, Sie sind Mitautorin eines Buches mit dem Titel „Grenzenlose Gewalt – Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“. Warum sprechen Sie so martialisch von „Krieg“?

Lea Reisner: Die europäische Grenzschutzagentur Frontex verfügt über ein Budget von 900 Millionen Euro. Was da an Waffentechnik und an Überwachungstechnik eingesetzt wird, das hat schon etwas durchaus Militärisches. Und das Ziel der EU ist Abschottung. Abschottung funktioniert aber nicht.

Herr Spahn, funktioniert Abschottung wirklich nicht? Die EU-Staaten haben sich ja auf einen „Asylpakt“ geeinigt, in dem Abschottung eine zentrale Rolle spielt. Was ist von diesem Asylpakt zu halten?

Jens Spahn: Da hat Frau Reisner durchaus einen Punkt. Abschottung wurde jahrelang versucht, hat aber nie wirklich funktioniert. Konsequenter Grenzschutz wurde allerdings auch nicht richtig versucht. Der Asylpakt an sich ist immerhin schon mal ein erster Schritt, nachdem zehn Jahre lang vergeblich versucht wurde, eine EU-weite Einigung über Migrationsfragen zu finden. Gleichwohl darf man sich davon keine Wunder versprechen. Der entscheidende Punkt ist: Wir dürfen nicht weiterhin das Signal in alle Welt aussenden, dass jeder hierbleiben kann, der es irgendwie bis nach Europa schafft. Und sich auch noch das Land seiner Wahl aussuchen kann – was darauf hinausläuft, dass die meisten Menschen dorthin gehen, wo es die höchsten Sozialleistungen gibt. Konkret bedeutet das: Menschen, die Italien, Spanien oder Griechenland erreichen, müssten eigentlich unmittelbar zurückgebracht werden an die nordafrikanische Küste. Wenn man das ein paar Wochen lang konsequent durchsetzt, zahlt niemand mehr 10.000 Euro für einen Schlepper.

Herr Scherf, haben Sie Hoffnung, dass sich wegen des europäischen Asylpakts die Situation in Ihrem Landkreis demnächst entspannt?

Jens Marco Scherf: Nicht für morgen, auch nicht für in zwei Wochen oder in zwei Monaten. Aber es macht mir Hoffnung, dass offenbar im Grundsatz verstanden wurde: Es muss gehandelt werden! Wir befinden uns gerade in einem Jahrzehnt der Umbrüche, der starken Veränderung. Und es gibt außer der Migration noch viele andere Herausforderungen. Wenn die Menschen aber wegen der unbewältigten Migrationsproblematik das Vertrauen in die Politik verlieren, dann wird das beispielsweise auch beim Klimaschutz so sein. Und das können wir uns einfach nicht leisten. 

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

 

Die April-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige