Sprengungen von Nord Stream - „Alle haben ein Motiv“

Deutsche Ermittlungsbehörden haben bei der Aufklärung der Anschläge auf die Nord-Stream-Pipeline neue Spuren entdeckt. Wer welches Interesse an den Sprengungen gehabt hätte und wie ernst man aktuelle Berichte nehmen sollte, erklärt der Militärexperte und frühere Bundeswehr-Oberst Ralph Thiele.

Gas aus der gesprengten Pipeline an der Wasseroberfläche/ dpa
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Autoreninfo

Felix Huber studiert Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.

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Ralph Thiele ist Militärexperte und ehemaliger Bundeswehr-Oberst.

Herr Thiele, welche Bedeutung hat die Sprengung von Nord Stream 1 und 2 für den Krieg in der Ukraine?

Der Krieg in der Ukraine ist ein hybrider Krieg, ein Krieg in der Grauzone. Deshalb ist er für viele Menschen schlecht greifbar. Seine Kernelemente sind Informationskrieg, Cyberkrieg, Sabotage-Aktionen, wie die Sprengungen der Pipelines, die zu Kriegszwecken und politischen Zielsetzungen genutzt werden. Im Fall von Nord Stream 2 werden sich die sich verdichtende Informationslage und die Frage der Täterschaft vermutlich schwerwiegend auf die internationalen Beziehungen auswirken. Dies könnte den Ausgang des Ukraine-Krieges maßgeblich entscheiden.

Wer hätte denn alles ein Motiv gehabt?

Alle haben ein Motiv. Die USA folgten mit Staatssekretärin Victoria Nuland einem harten Kurs, der die Abschaltung von Nord Stream 2 bezweckte. Die Ukraine und Polen hatten kein Interesse daran, dass die Gasversorgung Mitteleuropas an ihnen vorbeigeleitet wurde und sie somit leichter von der Gasversorgung abzuschneiden waren. Großbritannien und Norwegen profitieren davon, da sie die neue Öl- und Gasversorgung Europas nun überwiegend sicherstellen können.

Aber die USA profitieren nicht direkt?

Doch, die Amerikaner können ihre kreditfinanzierte Schiefergas-Produktion endlich mit Gewinn verkaufen. Durch die gestiegenen Öl- und Gaspreise lohnt es sich finanziell, denn die Rolle als Lieferant von Europa und Deutschland ist durchaus angenehm.

 

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In der Aufzählung fehlte bis jetzt Russland. Warum?

Russland hatte natürlich mit Nord Stream 2 die Chance, Deutschland am Nasenring herumzuführen, und hat deswegen durch die Anschläge Macht eingebüßt. Hier kommt nun eine andere Facette der hybriden Kriege ins Spiel: die Schwächung von Staat, Gesellschaft und europäischer Stabilität durch Unruhe. Denn jeder Schaden im Zusammenhalt der Europäer oder auch in transatlantischen Beziehungen ist natürlich ein Gewinn für Russland.

Ralph Thiele: „Es besteht ein großes öffentliches
Interesse an Antworten“ / privat

Wann hätte sich eine Selbstsprengung aus russischer Sicht gelohnt?

In dem Moment, in dem sich die deutsche Bundesregierung fragen muss, ob Verbündete unsere Energie-Infrastruktur bombardieren. Bei einer Beteiligung der USA läge der Gedanke nahe, dass sich Europa nun endlich unabhängig von den Amerikanern machen muss. Wären Norweger und Briten beteiligt gewesen, hätte das Sprengkraft für die innereuropäische Solidarität. Man muss sich auch die Frage stellen, wie die Öffentlichkeit damit umgehen würde, wenn sie erfahren müsste, dass eigene Bündnispartner gegebenenfalls Infrastruktur angreifen und die eigene Regierung das offen kommunizieren würde. Russland hat also durchaus auch Interesse an diesem unglaublich aufgeladenen Thema.

Wie beurteilen Sie die jüngsten Erkenntnisse über die Yacht, die eine polnische Firma zweier Ukrainer angemietet haben sollen?

Der bloße Fakt, dass es dieses Boot gab, sagt fast gar nichts aus. Bislang ist unklar, ob hier die ukrainische Regierung agiert, Amerikaner in Zusammenarbeit mit der Ukraine, Russen, die Selenskyj schwächen wollen, oder noch weitere bislang nicht besprochene Optionen. Der Katalog an möglichen Akteuren ist groß, echte Beweise liegen bisher nicht vor. Dies wird auch schwerfallen, weil viele Spuren sich im Hightech-Bereich bewegen und nur mit großen Schwierigkeiten zuzuordnen sind.

Was ändert sich dadurch in der Betrachtung der Vorfälle?

Die gesamte Ostsee wird mit Sonar überwacht. Immer, wenn sich jemand in diesem Unterwassergebiet bewegt, kann er über Sonar geortet werden. Deswegen lässt sich auch relativ exakt nachvollziehen, in welcher Reihenfolge die Zündungen vorgenommen wurden. Auffällig ist, dass sie mit relativ großen Abständen erfolgten. Das eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, die Sonar-Aufnahmen zu fälschen. Hier müsste man nach Spuren suchen, denn solche Fälschungsaktionen können nur durch hochprofessionelle Cyber-Organisationen vorgenommen werden. Zudem sind natürlich auch Satelliten- und Radar-Aufzeichnungen einzubeziehen, sodass das Thema immer komplexer wird.

Glauben Sie, dass die Öffentlichkeit jemals erfährt, was wirklich bei Nord Stream 2 vorgefallen ist?

Ich halte es für unwahrscheinlich. Denn jeder Staat hat eigene Sicherheitsbedenken und nationale Interessen. Wir Deutschen wollen vielleicht unser Verhältnis mit Amerika nicht belasten. Auch die Schweden sind den USA besonders eng verbunden. Die Amerikaner würden wohlmöglich die Ukrainer nicht bloßstellen wollen. Jeder Staat muss sich fragen, ob und zu welchem Preis er die gewonnen Erkenntnisse veröffentlichen würde.

Wie bewerten Sie die öffentliche Debatte über die Sprengungen?

Der öffentliche Diskurs geht weitestgehend am politischen und technologischen Portfolio vorbei. So werden viele zu naiven Beteiligten eines Informationskrieges. Deswegen brauchen wir unbedingt neue Kompetenzen zur Lagegewinnung. Sowohl im sachlichen, professionellen als auch gesellschaftlichen Rahmen. Die Folgen derartiger hybrider Eingriffe für unsere Sicherheit, für unsere Öffentlichkeit und die Rolle der Medien darin müssen stärker in den Fokus gerückt werden.

Trotzdem gibt es immer wieder neue Berichte über die Hintergründe.

Ich sehe hier vor allem beabsichtigte Beeinflussungen der öffentlichen Meinung und das Legen falscher Fährten. Aktuell steht die Frage im Mittelpunkt, welche Unterstützung wir vor diesem Hintergrund der Ukraine überhaupt zukommen lassen müssten, wenn sie Treiber eines Angriffs auf unsere Energieversorgung gewesen wäre. Das interessiert natürlich all die, die Ukraine gerne weniger unterstützen würden.

Wer in Deutschland hätte ein Interesse daran, die Ukraine nicht mehr zu unterstützen?

Es gibt eine ganze Reihe Menschen, die mit Recht hervorheben, dass die Kämpfe in der Ukraine nicht endlos weitergehen dürfen. Eine Verwicklung der Ukraine in die Nord-Stream-Sprengung wäre ein Anlass, die bisherige Unterstützung der Ukraine zu überdenken.

Sind wir denn überhaupt für einen hybriden Krieg gewappnet?

Leider nicht, denn wir haben dieses Thema lange Zeit auf die leichte Schulter genommen. In der Nato und in der Europäischen Union kamen bislang die modernen Technologien, die in hybriden Kriegen eingesetzt werden, zu kurz. Es gibt auch bisher keine gezielte Überwachung hybrider Akteure. Im Vergleich zu Russland oder auch China sind wir nur schlecht gewappnet, deren Aktivitäten im Kontext des Informations- und Cyberkriegs und der Sabotage zu verfolgen. Zudem ist es auch eine besondere Herausforderung, zu identifizieren, von wem eine konkrete hybride Bedrohung ausgeht: Ist es der Gegner oder vielleicht doch ein Verbündeter?  

Sollte man unter diesen Umständen allen Berichten grundsätzlich skeptisch begegnen?

Ja! Insbesondere durch die Arbeit von Seymour Hersh wurde die mediale Treibjagd eröffnet. Es besteht ein großes öffentliches Interesse an Antworten. Es werden also immer wieder einzelne Teile des großen Mosaiks zutage treten, aber man muss sich bewusst machen, dass Geheimdienste versuchen werden, Journalisten mit Informationen zu füttern. Eine grundsätzliche Skepsis und ein Fokus auf die harten Fakten sind deswegen empfehlenswert. Durch Erkenntnisse über Restbestände von Munition der Sprengungen, zurückgebliebene Materialien technischer Bauteile und etwaige erkannte Täuschungsversuche durch Cyber-Operationen wird man sich schrittweise der Wahrheit nähern.

Das Gespräch führte Felix Huber.

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