Russlands Invasion in die Ukraine - Warum Putin nicht wankt

Wladimir Putin kann es sich nicht leisten, den Ukrainekrieg zu verlieren. Deswegen lautet sein Befehl an die russischen Truppen jetzt offenkundig, den kollektiven Willen der Ukrainer zu brechen. Denn er weiß, dass in totalen Trümmerwüsten und unter Belagerung irgendwann jeder Widerstand bricht. Der Westen muss darauf reagieren mit härtestmöglichen Sanktionen und maximaler Abschreckung an der Frontlinie.

Rauchwolken über der westukrainischen Großstadt Lwiw an diesem Freitagmorgen, nachdem am Flughafen mehrere russische Raketen eingeschlagen sind / picture alliance
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Autoreninfo

Julian Reichelt, Jahrgang 1980, war Kriegsreporter für die Bild-Zeitung und von 2017 bis Oktober 2021 deren Chefredakteur.

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Mit jedem Tag, den die Ukrainer ihre Heimat verteidigen, verklärt sich der realistische Blick auf das Schlachtfeld. Jedes Bild von zerstörten russischen Panzern wächst in den Herzen aller freiheitsliebenden Menschen zum Mythos, zur Sehnsucht nach Happy End und Befreiung. Aus Sehnsucht wird schnell Wahrnehmung, Einschätzung, Analyse. Putin wanke, die Ukraine auf dem Weg zum unwahrscheinlichsten aller Siege.

Aber wer ernsthaft glaubt, Putin könnte diesen Krieg verlieren, muss apokalyptische Fragen beantworten: Wenn Putin eine Niederlage in der Ukraine als existenzielle Bedrohung seiner Macht sieht, wovon man ausgehen muss, würde er dann auf den Einsatz all seiner Vernichtungskraft verzichten? Würde er freiwillig, sozusagen aus einem letzten Rest von Rücksicht, in eine Niederlage und seinen eigenen Untergang gehen? Würde Putin vor dem letzten Zivilisationsbruch zurückschrecken, wenn sein Krieg der verbrannten Erde scheitert?

Nichts, was wir derzeit sehen, deutet darauf hin. Ebenso wenig das, was wir von Wladimir Putin hören.

Eskalative Kriegslogik

Putins Kriegslogik war schon immer die eskalative Logik des übermächtigen Tyrannen. Der Tyrann, der bereit ist, alle Regeln zu brechen, alle Konventionen zu missachten, und mit überlegener Feuerkraft immer weiter zu eskalieren, kann auf dem Schlachtfeld nicht verlieren. Das ist es, was wir bei Putin gerade sehen. Er ist vom Bewegungskrieg in den Bestrafungskrieg gewechselt. Der Befehl an seine Truppen lautet ganz offenkundig, den kollektiven Willen der Ukrainer zu brechen. Es ist nicht so, dass sein Militär auch zivile Ziele beschießt; Putins Feuerkraft richtet sich nun zuallererst und vor allem gegen Zivilisten. Putin weiß, dass in totalen Trümmerwüsten und unter Belagerung irgendwann jeder Widerstand bricht. Er weiß auch, dass die Aufmerksamkeit des Westens schwindet – im deutschen Bundestag hatte man nach kurzer Selenskyj-Rede genug von der deprimierenden Thematik.

Putin verliert derzeit nicht, und wenn er nicht verliert, dann gewinnt er. Er hat begonnen, eine ukrainische Stadt nach der anderen Schicht um Schicht abzutragen. Selbst Lemberg, nur eine Autostunde von der Nato-Grenze entfernt, gerät jetzt zunehmend ins Visier seiner strategischen Bomber. Heute Morgen weckte der Donner von Explosionen die Stadt.

Aleppo und Grozny – das sind erkennbar und eindeutig Blaupausen für die ganze Ukraine. Stadt um Stadt, Kiew wohl ganz zuletzt. Putins Bodentruppen graben sich in ihren Stellungen ein und verhindern jede funktionierende Staatlichkeit, sie zermürben, zerklüften und zerfressen das Land, es ist eine tumorhafte Form der Belagerung. Der Zustand in diesen Tagen, auch wenn er uns an manchen Tagen hoffnungsvoll erscheinen mag, ist für die freie Ukraine eine tödliche Diagnose.

Verzweifelt suchen Politiker und Journalisten in den Hauptstädten des Westens nach Anzeichen, dass ihr halbherziges Handeln Wirkung zeigt, Putin zusetzt, ihn verunsichert, gar zur Umkehr bewegt. Doch da ist nichts nachhaltig erkennbar. Warum nicht?

Für Wladimir Putin war Phase 1 des Krieges das schockartige Austesten roter Linien. Er weiß nun, dass er konventionell einen Krieg bis an die Außengrenze der Nato heranführen kann, ohne eine Reaktion befürchten zu müssen. Die Nato schwört, sie werde nicht eingreifen, die Bundesregierung verspricht, dem Kreml weiter Gas und Öl abzukaufen und seine Kriegskassen mit Milliarden in harter Währung zu füllen.

Totale Zerstörung der Ukraine

Die zweite Phase des Krieges wird die totale Demütigung der Nato und die totale Zerstörung der Ukraine sein. Mit den Konzepten der vergangenen Wochen wird diese Katastrophe nicht mehr abwendbar sein, weil die Abschreckung vollkommen falsch konzipiert ist.

Aus der Flüchtlingskrise kennen wir Push- und Pull-Faktoren, die eigentlich gegensätzlich wirken sollen. Gegen Putin wirken beide Faktoren gegen uns. Sanktionen, die – vor allem aufgrund deutscher Intervention – viel zu weich sind, verstärken die breite Unterstützung für Putin in der Bevölkerung, während sie das Regime gleichzeitig mit genug Cash ausstatten, um Unterdrückung nach innen und Aggression nach außen zu finanzieren. Wir befeuern Putins Narrativ, füllen täglich seine Kassen und pushen seine Offensive weiter gen Westen. Gleichzeitig wirkt die militärisch geschwächte Nato, der weiche Westen, der nicht kämpfen will und das auch deutlich macht, als Pull-Faktor auf Putins Aggression. Unser Ziel war Abschreckung, tatsächlich haben wir Putin in all seinen Annahmen und seiner Aggressivität nur bestärkt. Es muss Putin fast amüsieren, dass die Bundesregierung für die Panzer, die er auf uns zurollen lässt, auch noch Benzin und Munition bezahlt.

Wladimir Putin ist kein brillant-ideologischer Stratege, sondern ein taktischer Fanatiker mit einem fantastischen Gespür für die Schwächen von Demokratien. Er weiß, dass Systeme, die ideologisch nicht geeint sind, Stress nicht vertragen. Deswegen setzt er unser westliches System, das ungeeint ist wie nie zuvor, unter größtmöglichen Stress und beobachtet, welche Optionen sich daraus ergeben. Wenn er verhandeln lässt, dann nicht, um eine Einigung zu erzielen, sondern um unsere Friedenssehnsucht zu befeuern, uns Hoffnung zu geben und diese Hoffnung dann wieder zu brechen. Hoffnung schenken und brechen – es ist eine Verhörmethode aus den Foltergefängnissen seiner Geheimdienstwelt, die er auf die Diplomatie und unseren medialen Gemütszustand anwendet.

Demütigung für den Westen

Wladimir Putin wird zweierlei suchen: für sich den Sieg und für den Westen die Demütigung. Beides zusammengenommen macht es wahrscheinlicher denn je zuvor, dass er vor unseren Augen Massenvernichtungswaffen einsetzt. Sein Militär verfügt über rund 2400 taktische Atomsprengköpfe, die er auf dem Schlachtfeld oder auch gegen Städte in der Ukraine einsetzen könnte. „Eskalieren, um zu deeskalieren“, heißt das in der russischen Doktrin. Putin muss davon ausgehen, dass er selbst in solch einem Szenario keine Gegenwehr des Westens zu erwarten hätte, dass unser System unter nuklearem Stress vermutlich schnell nach Verhandlungsoptionen und „Off-Ramps“ suchen würde.

Ein noch skrupelloserer Krieg ist für Wladimir Putin derzeit die beste Option, um das eigene Überleben zu sichern und gleichzeitig über Lockerung der Sanktionen verhandeln zu können. Diese Anreizsetzung des Westens ist verheerend. So schmerzhaft und riskant es scheinen mag, um die Ukraine zu retten: dem Putin-Regime muss begegnet werden mit härtestmöglichen Sanktionen in seinem Rückraum und maximaler Abschreckung an der Frontlinie. Die Nato sollte sich zum Beispiel darauf einigen und sehr deutlich machen, dass der Einsatz von Massenvernichtungswaffen in Europa automatisch zu ihrem Eingreifen führen würde. Deutschland sollte dabei führen, denn nichts anderes bedeutet unser historischer Schwur „Nie wieder“.

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