Russische Partisanen attackieren Belgorod - Der Krieg ist in Russland angekommen

Die Verdrängung der ukrainischen Armee in Bachmut und die westliche Lieferung von F-16-Kampfjets geraten im russischsprachigen Internet in den Hintergrund. Der Angriff russischer Putin-Gegner in Belgorod dominiert die sozialen Medien - und versetzt das politische Moskau in Panik.

Partisanen der „Legion Freiheit für Russland“ bekennen sich zu den Angriffen / screenshot (twitter@Gerashchenko_en)
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Es waren nicht die Bilder von siegestrunkenen Söldnern der Wagner-Truppe in der weitgehend zerstörten Stadt Bachmut, die sich in den letzten Stunden blitzartig sowohl über russische als auch ukrainische Internetportale verbreiteten. Es war auch nicht der knappe Kommentar von US-Präsident Joe Biden zu den Warnungen aus Moskau vor der Lieferung amerikanischer Kampfflugzeuge des Typs F-16 an die Ukraine. 

Vielmehr waren es verwackelte Nachtaufnahmen von Rauchwolken über einer Stadt sowie von Autoschlangen; die Bilder stammen angeblich aus der grenznahen russischen Region Belgorod. Die Autos waren demnach unterwegs nach Norden, ihre Insassen suchten das Weite angesichts der Nachrichten über erbitterte Kämpfe im Süden der Region. In der Nacht kam es in dem rund 350.000 Einwohner zählenden Belgorod zu mehreren Explosionen, die Behörden riefen einen „Terroralarm“ aus.

Für das politische Moskau ein Schock

Die staatlichen Medien in Moskau vermeldeten empört, dass ukrainische Einheiten auf russisches Territorium vorgedrungen seien. Kiew dementierte. Es handle sich vielmehr um zwei Formationen, die russische Putin-Gegner gebildet hätten: das Russische Freiwilligenkorps und die Legion Freiheit Russlands; beide kämpften auf ukrainische Seite, um ihren Beitrag zum Sturz des zunehmend totalitären Regimes Putins zu leisten.

Über Twitter wurde eine Erklärung einer Gruppe schwer bewaffneter russischsprachiger Männer verbreitet, die angeblich zu diesen Freiwilligen gehören, inklusive englischer Übersetzung: 

Den Nachrichten zufolge griffen sie Polizeiposten und Büros des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB an. Die Nachrichten bedeuten, dass erstmals in diesem Krieg Kampfhandlungen auf russischem Boden stattfinden – für das politische Moskau ein Schock. Das ukrainische Nachrichtenportal Kanal 24 veröffentlichte überdies eine kurze Videosequenz, wie die Flagge der russischen Opposition an Ballons über Moskau fliegt. Die Farben weiß-blau-weiß beziehen sich auf die russische Nationalflagge, doch deren Rot, das in den Augen der Opposition für den blutigen Angriffskrieg steht, wurde durch Weiß, die Farbe des Friedens, ersetzt.

Verdrängung der Ukrainer in Bachmut gerät in den Hintergrund

Ganz in den Hintergrund geraten ist in den sozialen Medien die Gratulation Putins an die Adresse Jewgeni Prigoschins, des Chefs der Wagner-Truppe, wegen des „großen Sieges in Artjomsk“. So nennen die Russen nach wie vor das umkämpfte Bachmut. Der Name geht auf einen Bolschewiken mit dem Kampfnamen Artjom zurück, der 1918 Einheiten der Roten Armee in den Kämpfen gegen die Verbände der kurzlebigen Ukrainischen Republik angeführt hat. Nach dem russischen Angriff auf den Donbass 2014 bekam die Stadt ihren historischen Namen zurück, der vermutlich tatarischen Ursprungs ist.

Zwar jubelten Kommentatoren des staatlichen Fernsehsenders Rossija I: „Eine wichtige Etappe auf dem Weg nach Kiew ist genommen!“ Allerdings gab es einige Verwirrung um die Siegesmeldung Prigoschins. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj räumte zunächst ein, dass seine Truppen sich aus der Stadt zurückgezogen hätten, machte aber wenig später einen Rückzieher: Am Westrand der Stadt werde nach wie vor gekämpft. 

Der Generalstab in Kiew teilte überdies mit, dass ukrainische Verbände die Anhöhen nördlich und südlich der Stadt zurückerobert hätten. Westliche Militärexperten halten deshalb den triumphalen Auftritt Prigoschins und die Glückwünsche Putins für verfrüht. Denn die russischen Verbände im Stadtgebiet könnten in die Zange genommen werden. 

 

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Ohnehin gilt die Verdrängung der Ukrainer keineswegs als Glanztat der Wagner-Truppe sowie der regulären Streitkräfte Moskaus: Die Kämpfe dauerten ein halbes Jahr, sie offenbarten schwere Differenzen in der Moskauer Militärführung, Prigoschin erlaubte sich sogar, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow in sozialen Medien als unfähig zu beschimpfen. Die russischen Angreifer haben nach westlichen Schätzungen mehrere Zehntausend Mann verloren. 

Westliche Militärexperten maßen den Meldungen über das angebliche Ende der Schlacht von Bachmut keine große Bedeutung zu. Weder bedeute sie einen strategischen Erfolg für Moskau, noch einen schweren Rückschlag für Kiew. 

Verstärkung der ukrainischen Luftwaffe durch F-16

Im Vordergrund standen stattdessen Analysen über die angekündigte Verstärkung der ukrainischen Luftwaffe durch F-16, wobei nicht die USA sie liefern werden, sondern europäische Nato-Partner. Großbritannien, Dänemark, die Niederlande und Portugal haben signalisiert, dass sie dazu bereit seien. 

In einer Stellungnahme des Kremls wurde davor gewarnt: „Dies bedeutet ein Risiko!“ Biden sagte dazu trocken: „Es ist ein Risiko für sie.“ Lange hatte der US-Präsident es abgelehnt, auf die Bitten Selenskyjs um die Lieferung von Kampfflugzeugen einzugehen. Auf dem G7-Gipfel in Hiroschima am vergangenen Wochenende schwenkte er um und überraschte damit die anderen Teilnehmer.  

Die Bundesluftwaffe verfügt über keine F-16, Bundeskanzler Olaf Scholz ist somit die Sorge genommen, sich zu der Zusage Bidens äußern zu müssen, dass die Nato-Partner aus Washington grünes Licht bekommen, wenn sie Maschinen aus eigenen Beständen an Kiew abgeben.

Partisanen versetzten Zivilbevölkerung in Panik

Russischen Militärbloggern macht die F-16 Sorgen. Sie zitieren aus Berichten, dass sie den russischen Maschinen überlegen sei. Sie würde es den Ukrainern erlauben, Ziele im russischen Hinterland effektiver anzugreifen.

Zwar hat Biden den Ukrainern die Zusicherung abverlangt, dass sie amerikanische Waffen nur auf dem eigenen Territorium einsetzen. Doch aus Moskau heißt es, dass die Forderung Bidens nicht ernst gemeint sei. Vielmehr decke die Nato die Angriffe der Ukrainer auf russisches Territorium.

Der ukrainische Militärgeheimnis HUR meldete, dass die Aktionen der russischen Freiwilligen auf der Seite Kiews nicht nur Teile der Zivilbevölkerung in Panik versetzt hätten. Auch die russische Militärführung habe reagiert: Sie habe eilig die Atommunition, die an Standorten im Bezirk Belgorod eingelagert gewesen sei, nach Norden abtransportiert. 

Herrschte vor zwei Wochen noch Unklarheit über die Hintergründe der Explosion von zwei kleineren Drohnen über dem Kreml in Moskau, so steht nun zweifelsfrei fest, dass der Krieg in Russland angekommen ist.

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