Russische Rüstungsindustrie - Alles ins Militär

Der Ukrainekrieg bringt das russische Militärarsenal an Kapazitätsgrenzen – zumal Hightech-Güter wegen der Sanktionen des Westens fehlen. Der Kreml investiert deshalb immense Summen in seine Rüstungsindustrie, allerdings mit ungewissem Erfolg.

Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau am 11. Mai / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

So erreichen Sie Ekaterina Zolotova:

Anzeige

Anderthalb Jahre nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine haben die russischen Streitkräfte ihre Hauptziele noch immer nicht erreicht und kämpfen nun gegen eine weitere ukrainische Gegenoffensive. Ein solch langwieriger Feldzug erfordert für alle beteiligten Parteien umfangreiche militärische Ausrüstung, ganz zu schweigen von der Finanzierung. Ein großer Vorteil für die Ukraine ist, dass sie auf externe Quellen für militärische und finanzielle Unterstützung zurückgreifen kann. Russland hingegen muss sich auf seine eigene Fähigkeit verlassen und seine Kriegsanstrengungen selbst finanzieren.

Und da die russische Wirtschaft unter immer stärkerem Sanktionsdruck steht, muss Moskau damit rechnen, dass es in Zukunft zu einem Mangel an Waffen kommen könnte – was seine Fähigkeit, den Krieg weiter zu führen, einschränken und es möglicherweise dazu zwingen würde, Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts früher als gewünscht aufzunehmen. Die russische Rüstungsindustrie befindet sich daher an einem Scheideweg: Sie drängt darauf, die Produktion zu erhöhen, und kämpft gleichzeitig damit, modernere Waffensysteme für den langfristigen Bedarf des Landes zu entwickeln.

Prigoschin beklagte schwindende Munitionsvorräte

Seit Monaten wird darüber spekuliert, ob Russland ein Mangel an Waffen und Ausrüstung droht. Die Spekulationen begannen, nachdem die russische private Militärfirma „Wagner Group“ in der Ukraine an Boden gewonnen hatte. Ab Mai, als die Schlacht um Bachmut ihren Höhepunkt erreicht hatte, beklagte sich Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wiederholt über die schwindenden Munitionsvorräte für seine Truppen. Es gab auch Berichte, wonach russische Beamte mit ihren nordkoreanischen Amtskollegen zusammengetroffen waren, um mehr Munition zu beschaffen – allerdings hat keine der beiden Seiten dies bisher bestätigt.

Es wird angenommen, dass die Reise des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu nach Nordkorea im Juli und der Besuch von Kim Jong-un in der russischen Region Fernost im September Teil dieser Bemühungen waren. Für den Kreml besteht der Vorteil darin, dass die westlichen Sanktionen keine Auswirkungen auf den Handel mit Pjöngjang haben, und dass die nordkoreanischen Waffen hauptsächlich aus sowjetischen oder ähnlichen Systemen bestehen, die mit den russischen Lieferungen kompatibel sind. Der Nachteil ist jedoch, dass Nordkorea nur über begrenzte Waffenvorräte verfügt und kaum in der Lage ist, seine Vorräte aufzufüllen.

Es wird jedoch immer deutlicher, dass Moskau wegen eines möglichen Munitionsmangels besorgt ist – was sich auch daran zeigt, dass in russischen Medien mit einem starken Anstieg der Rüstungsproduktion geprahlt wird. In der russischen Presse wurde berichtet, dass Rüstungsunternehmen ihre Produktionslinien erweitert und das Produktionsvolumen erhöht haben, manchmal sogar um das Zehnfache im Vergleich zu früheren Raten.

Russland als Waffen-Exporteur

Trotz dieses Anstiegs hat Russland keine nennenswerten Erfolge in der Ukraine zu verzeichnen. Diese Diskrepanz spiegelt die Tatsache wider, dass der Krieg nicht der einzige Grund für den Produktionsanstieg ist. In gewisser Weise ist der Krieg nur der Anstoß für den aktuellen Entwicklungsschub im Verteidigungsbereich, der viel weiter reichende, langfristige Ziele verfolgt. Was die Sicherheit betrifft, so muss Moskau seine Grenzen schützen und seine Stellung als eine der größten Militärmächte der Welt behaupten. Auf wirtschaftlicher Ebene ist die russische Rüstungsindustrie ein Netzwerk von Forschungseinrichtungen und rund 2000 Industrieunternehmen, die oft in großen Holdinggesellschaften zusammengefasst sind. Sie beschäftigt mehr als zwei Millionen Menschen und trägt durch Verkäufe ins Ausland zum Haushalt bei. Trotz der westlichen Sanktionen entfallen auf Russland immer noch etwa 16 Prozent der weltweiten Waffenlieferungen, wobei die wichtigsten Abnehmer Indien, China, Algerien, Ägypten und Vietnam sind.

In der Tat hat sich der Kreml vor zwei Jahrzehnten daran gemacht, seinen geschwächten, aber einst mächtigen militärisch-industriellen Komplex zu stärken, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und einem drastischen Rückgang der staatlichen Verteidigungsaufträge in den frühen 1990er Jahren im Niedergang begriffen war. Der Krieg in der Ukraine hat jedoch ein neues Gefühl der Dringlichkeit geschaffen. Russland hat in der Ukraine alle Teile seiner Streitkräfte und praktisch alle ihm zur Verfügung stehenden Waffen eingesetzt (natürlich mit Ausnahme seiner nuklearen Triade) – darunter beispielsweise zum ersten Mal Abfangjäger vom Typ MiG-31K, die ballistische Hyperschallraketen tragen können.

Enorme Steigerung der Rüstungsausgaben

Ende 2022 kündigte Schoigu eine 50-prozentige Erhöhung der Mittel für staatliche Verteidigungsaufträge im Jahr 2023 an. Außerdem hat Russland im vergangenen Jahr mit der Massenproduktion einer ganzen Reihe von Produkten begonnen, darunter die Mehrfachraketen Tornado-S und das Flugabwehrraketensystem S-500 Prometheus. Im März erklärte Wladimir Putin, Russland werde dreimal mehr Munition produzieren, als der Westen an Kiew liefern wird. Um seine Position auf dem internationalen Rüstungsmarkt zu halten, muss Moskau auch in der Lage sein, bestehende Verträge zu erfüllen und neue Aufträge anzunehmen, was es auch während des Ukraine-Krieges getan hat. Auf einer Messe in diesem Jahr, dem Armeeforum, unterzeichnete das russische Unternehmen Rosoboronexport mehrere Waffenexportverträge im Umfang von rund 600 Millionen Dollar.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Dieser Aufschwung hat letztlich dazu beigetragen, die durch die westlichen Sanktionen und Isolationsbemühungen verursachten Rückgänge in anderen Branchen auszugleichen. Laut Bloomberg schrumpfte das russische verarbeitende Gewerbe im Jahr 2022 nur um 0,7 Prozent, was zum großen Teil dem Wachstum im Verteidigungssektor zu verdanken ist. Für 2023 wird mit einem Wachstum von zwei Prozent gerechnet, was wiederum auf die Zuwächse in der Rüstungsindustrie zurückzuführen ist.

Bei der Versorgung der russischen Kriegsmaschinerie in der Ukraine geht es jedoch nicht nur darum, mehr zu produzieren. Sondern auch darum, moderne, effektive Waffen zu entwickeln, die Russland dabei helfen, den Kampf so lange wie möglich aufrechterhalten und das eigene Land langfristig verteidigen zu können. Zwar verfügt Russland über genügend Rohstoffe, um das derzeitige Produktionsniveau zu halten, doch ist es fraglich, ob es auch in der Lage ist, seine Produktion weiter auszubauen und modernere Waffensysteme zu entwickeln. Dazu sind umfangreiche Modernisierungen, Umstrukturierungen und der Ersatz von Importen erforderlich, die aufgrund des westlichen Sanktionsregimes nicht mehr zugänglich sind. Bislang ist es Moskau jedenfalls nicht gelungen, diese Ziele zu erreichen.

Dies ist nicht zuletzt eine Frage der Finanzierung. In seinem Entwurf für den föderalen Haushalt 2024 plant Moskau, mehr für die Landesverteidigung auszugeben als für jeden anderen Bereich – nämlich umgerechnet 105 Milliarden Euro –, was 29,3 Prozent des Gesamthaushalts und sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die Aufstockung geht jedoch zulasten anderer wichtiger Posten. Die Ausgaben für Soziales etwa werden so gering sein wie zuletzt im Jahr 2011. Der Kreml kann nur eine bestimmte Zeit lang Mittel von der Wirtschaft und den Sozialausgaben abzweigen. Und in Anbetracht des Zustands der russischen Wirtschaft ist es unwahrscheinlich, dass ein organisches Wirtschaftswachstum in der Lage sein wird, die erheblichen Investitionen zu tragen, die für die Modernisierung und Umstrukturierung einer Verteidigungsindustrie wie der russischen erforderlich sind.

Streben nach Autarkie

Es ist auch eine Frage der Technologie. Russlands technologische Eigenständigkeit ist nach wie vor begrenzt, obwohl es in Russland seit zwei Jahrzehnten Bestrebungen gibt, Autarkie zu erreichen – unter anderem durch die Verwendung ausschließlich einheimischer Materialien und Komponenten in der Rüstungsproduktion. Die Öffnung der russischen Wirtschaft nach dem Kalten Krieg führte zu einer zunehmenden Verwendung von Hightech-Gütern aus anderen Ländern und damit zu einer Abhängigkeit von ausländischen Technologien. Die russische Industrie ist zu etwa 40 Prozent auf Importe angewiesen, und bestimmte Sektoren, darunter die Automobilindustrie und die Pharmazie, sind nach wie vor stark von ausländischen Waren abhängig. 

Der Kreml veröffentlicht keine offiziellen Zahlen über die Importabhängigkeit der Verteidigungsindustrie, aber für mehr als 800 Arten von russischer Militärausrüstung werden Teile aus den USA und Europa verwendet. Darüber hinaus war der Abbruch der Beziehungen zur Ukraine im Jahr 2014 ein schwerer Schlag für die Branche, weil bis dahin einige der russischen Schiffs- und Flugzeugmotoren sowie andere Luftfahrtausrüstungen von ukrainischen Unternehmen hergestellt wurden.

Ohne Zugang zu westlicher Technologie wird es äußerst schwierig sein, moderne und wirksame Waffen herzustellen. Offizielle Stellen haben wiederholt betont, dass Russland zwar über Waffen verfügt, aber nicht über genügend moderne Waffen. Bisher hat das Land verbesserte Versionen des Hubschraubers Ka-52M, des gepanzerten Mannschaftstransporters BTR-82AM und der Kampfpanzer T-80 und T-72 entwickelt. Russland hat noch einige Möglichkeiten, an wichtige Technologien heranzukommen, darunter Parallelimporte und seine wenigen verbleibenden ausländischen Partner wie China, das in einem kürzlich veröffentlichten Bericht der US-Geheimdienste beschuldigt wird, Moskau „wahrscheinlich“ mit Schlüsseltechnologien mit doppeltem Verwendungszweck wie Drohnen und Kampfjetteilen zu versorgen.

Forschungsausgaben sind gesunken

Dennoch ist der Anteil der Hightech- und wissensintensiven Industrien am russischen Bruttoinlandsprodukt in den vergangenen zehn Jahren mit rund 20 Prozent praktisch unverändert geblieben. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind auf weniger als ein Prozent des Haushalts gesunken. Einem Bericht des russischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft zufolge würde das Erreichen der technologischen Souveränität bis 2030 eine Aufstockung der Mittel für Forschung und Entwicklung um 45 Prozent erfordern. Der Bericht besagt auch, dass der Übergang zu einem innovationsorientierten Wirtschaftswachstum eine Verdoppelung der Innovationstätigkeit in der Industrie und anderen Bereichen erfordert, wobei die damit verbundenen Kosten um 50 Prozent steigen würden.

Bis 2030 sollte sich die Zahl der innovativen Waren und Dienstleistungen sowie der Patentanmeldungen in etwa verdoppeln. Im Jahr 2022 waren die Patentanmeldungen jedoch rückläufig, wenngleich in einigen High-Tech-Bereichen ein Anstieg der Anmeldungen zu verzeichnen war, darunter Flugzeuge (2,1 Prozent), Eisenerzeugung und -verarbeitung (6,4 Prozent) sowie Computerprogramme, Datenbanken und integrierte Schaltungstopologien (16,3 Prozent).

Ein weiteres großes Hindernis für russische Innovationen ist das Personal. Qualifizierte Arbeitskräfte sind in der Rüstungsindustrie Mangelware. Nach Angaben des Ministeriums für Industrie und Handel werden im Jahr 2023 mehr als 16.000 hochqualifizierte Arbeitskräfte für die Herstellung der gängigsten Waffen und Ausrüstungen benötigt.

Fortschritte beim Hochfahren der Produktion

Die russische Rüstungsindustrie hat immerhin Fortschritte beim Hochfahren der Produktion gemacht. Im Juli erklärte der russische Minister für Industrie und Handel, dass in einem Monat mehr Munition ausgeliefert wurde als im gesamten vergangenen Jahr. Die Importsubstitution braucht jedoch Zeit, und der Kreml möchte vermeiden, in Hightech-Produkte zu investieren, für die möglicherweise keine ausreichende Nachfrage besteht, um die Kosten zu rechtfertigen. Daher hat er die Veränderungen langsam umgesetzt und der Entwicklung einer nachhaltigen Verteidigungsindustrie, die auch nach dem Ende des Ukraine-Konflikts wettbewerbsfähig sein wird, Vorrang eingeräumt.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob Russland in der Lage sein wird, seinen Bedarf an Verteidigungsgütern außerhalb der Ukraine zu decken, und ob es weiterhin innovativ sein kann, wenn der Krieg weiterhin seine finanziellen und personellen Ressourcen aufzehrt.

In Kooperation mit

Anzeige