Russlands Misserfolge im Ukrainekrieg - Ein offenes Duell

Entgegen anfänglicher Erwartung hält die Ukraine den russischen Invasoren stand – und jetzt kann sie auch noch mit umfangreichen Waffenlieferungen rechnen. Womöglich ist das ukrainische Militär sogar dazu in der Lage, die Russen zum Rückzug oder sogar zum Abzug zwingen. Deswegen ändert sich nun auch die Strategie der Amerikaner. Moskau muss seinen Krieg neu kalibrieren.

US-Außenminister Antony Blinken und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag in Kiew / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Der Krieg in der Ukraine begann in einer irrigen Annahme, die von vielen, auch von den Vereinigten Staaten, geteilt wurde: dass nämlich Russland die Ukraine im Falle einer Invasion besiegen würde – und zwar schnell. Die Russen setzten ihre Truppen unvorsichtig und ohne viel Rücksicht auf die Ukrainer ein. Als die Russen auf Widerstand gegen ihre unorganisierten Panzer- und Infanterietruppen stießen, die so gut wie ohne Luftunterstützung operierten, räumten sie zwar Schwierigkeiten ein – gingen aber weiterhin davon aus, dass es sich bei den Problemen, mit denen sie konfrontiert waren, lediglich um Reibungen auf dem Schlachtfeld handelte. Und nicht um etwas, das den von ihnen angenommenen Ausgang des Krieges gefährdete.

Die Vereinigten Staaten teilten diese Ansicht weiterhin, schickten aber über Polen Nachschub in die Ukraine, um zu zeigen, dass Washington sich mehr dem Widerstand verpflichtet fühlte als der Überzeugung, Russland sei in Gefahr. Moskau setzte seinen Vorstoß an drei Fronten fort: von Weißrussland im Norden, über den Donbass im Osten und von der Krim im Süden. Es war ein chaotischer Vormarsch, da die Fronten nicht koordiniert waren und es nicht möglich war, drei verschiedene Fronten gleichzeitig zu versorgen. Das russische Scheitern wurde durch den 60 Kilometer langen Panzerstau von Weißrussland in Richtung Kiew symbolisiert.

Widerstand nicht gebrochen

Das Erstaunlichste, das Militärhistoriker noch jahrelang beschäftigen wird, ist die Tatsache, dass der ukrainische Widerstand nicht gebrochen wurde, sondern sich in vielen Fällen sogar noch verstärkte. Dies führte sowohl bei den Amerikanern als auch bei den Russen zu der Überzeugung, dass die Ukrainer über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgreich Widerstand leisten könnten – was die Russen so sehr in Verlegenheit bringen würde, dass es sie womöglich die dringend benötigte Glaubwürdigkeit bei Partnern wie China kostet. Aus amerikanischer Sicht wandelte sich der Ukrainekrieg von einer aussichtslosen Angelegenheit, bei der eine Niederlage mit Anstand hingenommen werden müsste, zu einer strategischen Chance.

Dieser Wandel wurde durch das Versagen Russlands ermöglicht. Washington hatte bereits das getan, was es für den am wenigsten gefährlichen strategischen Schritt hielt, nämlich einen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Moskau zu führen und die Nato zur Unterstützung dieser Mission zu vereinen. Das erklärt jedoch nicht die russischen Probleme auf dem Schlachtfeld: die Logistik, die Unfähigkeit, einen mobilen Krieg zu führen, und der Mangel an ausgebildeten Infanteristen. Selbst als Russland seinen gepanzerten Vorstoß von Weißrussland aus in Richtung Kiew aufgab und eine sehr viel vorsichtigere Strategie verfolgte, indem es gegen den Donbass vorging, wo es bereits erheblichen Einfluss hatte, und einen Angriff in Richtung Süden nach Odessa unternahm, war die Zeit deshalb nicht auf Moskaus Seite.

Also setzte Russland einen neuen Kommandeur ein, der in Syrien sowohl mit konventioneller Kriegsführung als auch mit Angriffen gegen die Bevölkerung operiert hatte. Die gleiche Taktik, die in städtischen Gebieten angewandt wurde, funktionierte – aber langsamer und mit größeren Verlusten für die Infanterie, als sie Russland ohne weiteres verkraften konnte. Zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass die ukrainischen Streitkräfte hoch motiviert und relativ gut ausgebildet waren. Sie konnten Verluste hinnehmen, sie ersetzen und ihre Truppen vor einem Zusammenbruch bewahren. Nicht so bei Russland. Die Ukraine wäre offenbar in der Lage, die Russen sehr wohl bis zu einem Patt bekämpfen, welches sich die Russen weder militärisch noch politisch leisten könnten. Angesichts der geringen russischen Reserven wäre es möglich, dass die Ukraine die Russen zum Rückzug oder sogar zum Abzug zwingen kann.

Zur Offensive in der Lage

An diesem Punkt änderte sich die Strategie der Amerikaner. Am Wochenende reisten der Außen- und der Verteidigungsminister der USA offen nach Kiew und boten den Ukrainern ohne Rücksicht auf russische Abhörmaßnahmen eine massive Waffenlieferung an – von unbemannten Flugzeugen über Artillerie und Radar bis hin zu allem, was zur Bewaffnung einer modernen Armee benötigt wird. Die Tatsache, dass die Lieferung dieser Waffen über Polen einige Zeit in Anspruch nehmen würde, zeigte ein weiteres Maß an Vertrauen. Und zwar dahingehend, dass die Kämpfe in den Wochen und Monaten, die die Lieferung dauert, weitergehen würden. Wenn wir uns das gesamte Waffenarsenal ansehen, können wir erahnen, dass die USA jetzt eine Truppe ausrüsten, die in der Lage ist, in die Offensive zu gehen.

An diesem Krieg waren schon immer die Vereinigten Staaten und Russland beteiligt, aber in gewisser Weise ist es jetzt ein offenes Duell zwischen ihnen. Die Russen müssen Truppen und Ausrüstung bereitstellen. Die USA stellen Ausrüstung zur Verfügung, aber keine Truppen. Die Amerikaner setzen darauf, dass die Ukraine mehr und besser ausgebildete Truppen aufstellen kann, die mit modernen Waffen ausgerüstet sind, während Russland damit zu kämpfen hat, seine Verluste zu ersetzen. Für die Vereinigten Staaten ist es viel einfacher, Waffen zu produzieren und zu liefern, als es für die Russen ist, Verluste zu verkraften.

Dies bringt Russland in eine schwierige Lage. In Anbetracht der angekündigten (und wahrscheinlich noch weiterer) Waffenlieferungen muss Moskau versuchen, den Krieg in den nächsten Monaten zu beenden – allerdings dann gegen eine viel besser bewaffnete und motivierte ukrainische Streitmacht. Und da es bisher nicht gelungen ist, sie zu brechen, dürfte sich der Kriegsverlauf gegen Russland wenden.

Der Besuch von zwei hochrangigen Kabinettsmitgliedern und die sehr offene Auflistung zumindest eines Teils der Waffenlieferungen sollen Moskau eindeutig signalisieren, dass es die Ukrainer nicht nur nicht besiegen wird, sondern dass die Ukraine Russland ganz vom Schlachtfeld verdrängen könnte. Natürlich ist jetzt ein russischer Präventivschlag möglich, aber eine offensichtliche Strategie für die Ukraine besteht darin, die Stellung zu halten, sich zurückzuziehen und wieder aufzurüsten. Vielleicht hoffen die Amerikaner auch, dass dies die Russen an den Verhandlungstisch zwingen wird. Das wäre das geringere Risiko.

Auf jeden Fall müssen die Russen, deren Geheimdienst wahrscheinlich wusste, dass es so kommen würde, einen Krieg neu kalibrieren, der nie wirklich kalibriert war.

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