Russische Atomdrohung - „Hiroshima naht“

Der russische Außenminister Sergej Lawrow warnt vor dem Ausbruch eines Dritten Weltkriegs. Ein Bluff oder eine unverhohlene Drohung? Da Russland seine Kriegsziele offenkundig auf konventionellem Wege nicht erreichen kann, ist der Abwurf einer Atombombe auf Kiew eine reale Möglichkeit. Die einzige Autorität, die Putin von einem solchen Einsatz abhalten könnte, wäre die russisch-orthodoxe Kirche. Doch die gibt sich nach wie vor staatstreu.

Atombombentest über der Wüste von Nevada / dpa
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Dirk Notheis ist Mitherausgeber von Cicero und Gründer des Mittelstands­finanzierers Rantum Capital.

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Nein, Wladimir Putin ist kein Psychopath, sondern ein eiskalt kalkulierender Machtpolitiker, dem jedwede Skrupel zur Verfolgung seiner Ziele fremd sind und der mit einer territorialistisch-imperialen Ideologie seine großrussische Vision von Würde und Kontrolle, ohne Rücksicht auf Verluste, umzusetzen sucht. Die faktische territoriale Größe Russlands verleiht ihm und all seinen Vorgängern bis zurück in die Zarenzeit dabei ein übersteigertes Selbstbewusstsein und eine im Kontrast zur, von der Rohstoffproduktion einmal abgesehen, marginalisierten real-ökonomischen und weltpolitischen Relevanz stehende Selbstwahrnehmung. Es ist diese tief in der russischen Seele verwurzelte gefühlte territoriale Autorität der schieren Landesgröße und die daraus erwachsende historisch hegemoniale Anspruchsideologie, die ihm im Wechselspiel mit einer hochprofessionellen Propagandamaschine bei der eigenen Bevölkerung nachhaltigen Rückhalt und Unterstützung und damit auch nach außen die nötige Legitimation für Aggression und Übermut verleihen. Über diese tiefe kausale Wahrheit sollten wir uns bei der kritischen Beurteilung der Situation niemals hinwegtäuschen.

Putin ist in der Kommunikation seiner Ziele im Übrigen sehr klar und konsistent. Wir haben als westliche Demokratien, aus welchen Motiven auch immer, hier nur nicht rechtzeitig und fokussiert zugehört, beziehungsweise, wie etwa weite Teile der Führung der deutschen Sozialdemokratie bis hin zu ehemaligen und aktuellen Kanzlern oder Ministerpräsidentinnen, getreu dem Motto „Es darf nicht sein, was nicht sein soll“, nicht zuhören wollen. Ein Wladimir Putin setzt ausschließlich auf Sieg, niemals auf Platz. Letzteres verbietet schon allein der übersteigerte, territorial aufgeladene Stolz des Kremlfürsten. Die einmal gesetzten und verkündeten Ziele nicht zu erreichen, hieße, eine Niederlage einzugestehen, und diese existiert in der Welt Wladimir Putins schlicht nicht. Man muss dazu nur den Spiritus Rector der modernen russischen Außenpolitik, den langjährigen Kreml- und Putin-Berater Sergey Karaganov, in seinem bemerkenswerten Interview mit dem Corriere della Sera vom 8. April 2022 lesen, dann werden die Dinge auch für den letzten Ungläubigen klar. Einen wie auch immer gearteten Kompromiss mit Blick auf die ausgelobten Ziele wird es mit Wladimir Putin und seinem Regime nicht geben.  

„Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“

Zur Erinnerung: Die Ziele waren „Entnazifizierung“, will heißen Regimewechsel in Kiew und Einsetzung eines moskauhörigen Diadochen, sowie „Entmilitarisierung“, meint Entwaffnung und völlige Zerschlagung der heutigen ukrainischen Armee. Zusammengenommen bedeutet dies die Auslöschung der Existenz der heutigen demokratischen Ukraine. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte, kremlhörige ehemalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wartet bereits in seinem Moskauer Exil darauf, mit einem russischen Jet einzufliegen und durch Putins Gnaden wieder eingesetzt zu werden. Ach ja, daneben auch und nur, weil es sich als Narrativ eben seit Jahren so gut stricken lässt, noch die Befreiung der russischstämmigen Bevölkerung im Osten der Ukraine vor Terror und angeblichem Genozid durch die ukrainischen Staatsorgane. Im Kern geht es aber auch hier um etwas anderes, nämlich um Rohstoffe und den alleinigen Zugang zum Asowschen Meer bzw. zur Krim. In der Ostukraine liegen, bislang weitestgehend unerschlossen, die größten Erdgas- und Ölvorkommen des Landes.

Mit dem Fall Mariupols und der neuerlichen Großoffensive in der Ostukraine mag zumindest das letzte Ziel für Putin in Erfüllung gehen und eine erste erfolgreiche Etappe seiner propagandistisch-vaterländischen „Spezialoperation“ markieren. Diese lässt sich auf der bereits anberaumten Parade zur Wiederkehr des Sieges über Nazideutschland am 9. Mai in Moskau sicher mit hinreichendem Pathos feiern. Ein Sieg im Putinschen Sinne ist dies jedoch noch lange nicht, und all diejenigen, die ihre Hoffnung darauf setzen, dass er sich damit zufriedengeben und in ein sogenanntes „Friedensabkommen“ mit der Rest-Ukraine einlenken könnte, wozu es im Übrigen zweier williger Parteien bedarf, werden erneut Lügen gestraft werden. Die beiden ersten und zugleich strategisch weit bedeutenderen Ziele Putins werden für ihn bei nüchterner Betrachtung der Fakten jedoch lediglich in einem Extremszenario realisierbar sein, und das wird Folgen zeitigen, die wir uns kaum vorstellen wollen oder können.

Wie ist nun die heutige Ausgangslage in diesem Licht zu bewerten? Putins politische Konzession an die winterlichen Olympia-Gastgeber in Peking, die Waffen erst nach dem Erlöschen des olympischen Feuers sprechen zu lassen, hat die eigentliche Kriegstaktik des russischen Generalstabs zunichte gemacht, der bereits fünf Wochen früher auf winterlich hart gefrorenen Böden mit schwerem Gerät tief, schnell und flexibel in die Ukraine zur Einnahme Kiews eindringen wollte. Mit Panzern fährt es sich eben nun mal schlecht im Matsch frühlingsgetauter Böden. Der daraus erzwungene Feldzug über Straßen und Autobahnen hat nicht nur groteske Bilder von bisweilen 40 Kilometer langen Autobahn-Konvois mit dem „Z“ beschert, sondern auch der ukrainischen Armee leichte Ziele geschenkt. Die massiven russischen Verluste während der Anfangsoffensive sprechen hierzu eine eindeutige Sprache und gehen ebenso eindeutig auf das Konto eines Mannes, des vermeintlich großen Feldherrn im Kreml. Keiner wagt dies in Moskau so auszusprechen, aber aus gut informierten Kreisen ist zu vernehmen, dass dieser Dissens zwischen Generalstab und Putin in der russischen Armee bis heute für erhebliches Grummeln und Verwerfungen sorgt.

Angst ist das einzig wahre Herrschaftsprinzip des Diktators

Ebensowenig hat Putin mit dem massiven Widerstand der ukrainischen Armee und dem zähen Kampfeswillen der ukrainischen Bevölkerung gerechnet. Statt sich aus Angst der gefühlten Übermacht des Aggressors ohnmächtig zu unterwerfen, haben insbesondere die gezielten russischen Bombardements von Schulen, Kindergärten, Theatern und Krankenhäusern einen gegenteiligen Solidarisierungseffekt mit der Regierung Selenskyj erzeugt und ein von nationalem Pathos getragenes „Jetzt erst recht“ bei den Ukrainern bewirkt. Dabei ist bekanntlich die Angst das einzig wahre Herrschaftsprinzip des Diktators. In diesem Sinne muss Putin konstatieren, dass er offensichtlich bis heute nicht genügend Angst für die Erreichung seiner Ziele und die Entsolidarisierung der Bevölkerung von ihrer politischen Führung zu erzeugen imstande war. Diese wäre aber Voraussetzung für die angestrebte vollständige Kapitulation Kiews und den abschließenden Sieg Russlands.

Dass eine Stadt mit ursprünglich vier Millionen Einwohnern und der räumlichen Erstreckung von Kiew sowie der Kampfbereitschaft ihrer Einwohner nicht im Sturm zu erobern ist, ja wahrscheinlich auch nach langem zähen Häuserkampf nicht vollständig eingenommen werden kann, ist eine weitere Erkenntnis, zu der der Kreml mittlerweile bei rationaler Betrachtung gekommen ist. Die Realisierung des Putinschen Ziels „Entnazifizierung“ ist aber unmittelbar an den Fall von Kiew beziehungsweise an die Auslöschung der dort agierenden politischen Klasse und ihrer Führungspersönlichkeiten, namentlich Präsident Selenskyj und den beiden Brüder Klitschko, geknüpft. Zu freiwilliger Aufgabe werden diese niemals bereit sein, das ist auch dem Herrn im Kreml unmissverständlich klargeworden. Dass sich insbesondere Wladimir Klitschko aus freien Stücken und aus der warmen Sicherheit Miamis in die ultimative Todeszone begeben hat, um seinem Volk und Bruder in diesen schweren Stunden persönlich zur Seite zu stehen, kann in diesem Zusammenhang nur als weithin sichtbarer Beleg für diese These gewertet werden und verdient im Übrigen allerhöchsten Respekt.

Wie wird die Welt auf das neuerliche Hiroshima reagieren?

Will der kühle Analytiker Putin folglich doch noch seine beiden Kernziele, Regimewechsel und Entwaffnung der ukrainischen Armee, erreichen, so muss er unweigerlich über das Maß bisher zum Einsatz gelangter militärischer Mittel hinausgreifen. Seine Strategie für die zweite Phase des Krieges kann und wird damit folglich auf die maximale Erzeugung von nackter Angst ausgerichtet sein, um den für seinen Sieg benötigten Schock und die daraus resultierende Resignation des Widerstandswillens der ukrainischen Bevölkerung zu brechen, getreu der Parole: „Lieber rot als tot“.

Sein Ziel wird dabei Kiew heißen, und es steht zu befürchten, dass wir alle eines nicht allzu fernen Tages Augenzeugen eines apokalyptischen Schlages: der Erscheinung eines großen Pilzes über dem Himmel der ukrainischen Hauptstadt werden. Abgefeuert von einem U-Boot in den Gewässern Kaliningrads und mit der Geschwindigkeit von Hyperschall-Trägern in weniger als zwei Minuten ins tödliche Ziel befördert, wird die Welt siebenundsiebzig Jahre nach Hiroshima erneut von der Detonation einer Atombombe aus ihren Fugen gerissen und in einem mortalen Déjà-vû in den ultimativen Albtraum katapultiert. Unter der von den Sprengkörpern erzeugten Druck-, Hitze- und Strahlungswelle werden Zehntausende, wahrscheinlich Hunderttausende unschuldiger Menschen ihr Leben lassen. Die damit im gleichen Zug bewerkstelligte Auslöschung der politischen Führung der Ukraine nimmt Putin nicht nur billigend in Kauf, sie erfüllt gar sein an Zynismus nicht zu überbietendes Ziel der „Entnazifizierung“ der Ukraine mit einem Schlag. Dies ist so rational wie furchtbar und die Lehre aus der Analyse Putinscher Verhaltenweisen ist: „Expect the Unthinkable“.

Wie wird die Welt auf das neuerliche Hiroshima, auf den ultimativen Einsatz von Atomwaffen durch den russischen Aggressor reagieren? Nach anfänglicher Schockstarre wird sich im Westen allenthalben ein Gefühl der Ohnmacht breitmachen. Die unfassbare Grenzüberschreitung sprengt die Grenzen unseres humanistisch-demokratischen Denkens wie Antwortens und führt geradewegs in Paralyse und Apathie. Noch mehr wirtschaftliche Sanktionen? Vollständige Ächtung von Wladimir Putin und seiner Nomenklatura? Möglicherweise die Reaktion, aber all dies wird ihn nicht anfechten. Sein Volk weiß zu leiden und das seit Jahrhunderten. Erst unter den Zaren, dann unter dem Stalinismus und heute unter der autoritären Kleptokratie Putins und seiner Nomenklatura. Putin hat nichts zu verlieren, denn schon jetzt, spätestens nach dem Massaker von Butscha, wird in der freien Welt kein aufrechter Mensch mehr eine Scheibe Brot von ihm nehmen, geschweige denn sich auf Gruppenbilder oder roten Teppichen mit ihm ablichten lassen. Vielleicht mit Ausnahme von Gerhard Schröder, aber dazu muss man kein weiteres Wort mehr verlieren.

Alle christlichen Kirchen sollten auf Patriarch Kyrill einwirken

Die einzige militärische Antwort auf einen russischen Atomschlag könnten die USA geben. Allein sie besitzen die militärische Stärke und Macht dazu. Putin weiß das und wird Washington, propagandistisch vorbereitet, brüsk und ohne Skrupel entgegenhalten: „You had your Hiroshima, you even had your Nagasaki. I have my Kiew now, so shut up.“ Wird sich die Weltmacht USA dadurch provoziert und herausgefordert fühlen? Ist die Führung in Washington, ist Präsident Joe Biden so mutig oder vielleicht auch so wahnsinnig, um mit allen Konsequenzen dafür das Leben amerikanischer Soldaten und gegebenenfalls auch das von US-Zivilisten, das heißt möglicherweise einen dritten Weltkrieg riskieren? Symbol hin, Symbol her, ein Atompilz allein ändert alles und doch nichts. Putin wird darauf spekulieren, und man darf unterstellen, dass er die Konsequenzen bereits heute kühl vorausgeplant hat. Wer bei Sergey Karaganov zwischen und in den Zeilen liest, der kennt die Antwort bereits. Selbst der der Artikel 5 des Nato-Vertrages wird von ihm in seiner Integrität und Wirksamkeit nicht nur angezweifelt, sondern gar als Chimäre diffamiert. Das Inferno wird folglich folgenlos bleiben.  

Wenn es denn die Abschreckung durch mögliche Reaktionen der USA oder der Nato nicht sind, was kann dann diese Welt noch vor dem ultimativen Schritt des Kreml-Herren bewahren? Die einzige Autorität, die dazu in der Lage wäre, eine für Putin wirksame rote Linie zu zeichnen, wäre die russisch-orthodoxe Kirche. Sie verfügt bis heute über in weite Teile der russischen Bevölkerung hineinreichende Wirkungsmacht und könnte mit einem klaren, von allen Kanzeln gleichzeitig verkündeten christlichen Ukas die moralische Latte für Putin so hoch legen, dass er im Fall eines Einsatzes von Atomwaffen im Ukrainekrieg mit nachhaltigem Autoritätsverfall in der eigenen Bevölkerung rechnen müsste. Diese Stellung der Kirche ist im Übrigen der Grund, warum der sonst völlig agnostische Putin sich, wie kaum ein anderer seiner Vorgänger im Kreml, um den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill I., und die kirchliche Organisation insgesamt so sehr bemüht hat.

Die Hoffnung, dass Kyrill bereit wäre, eine solche „rote A-Linie“ auszurufen, darf bei realistischer Betrachtung jedoch als außerordentlich gering erachtet werden. Die russisch-orthodoxe Kirche war schon zur zaristischen Zeit in ihrer Ausrichtung eine Staatskirche und hat sich stets neben ihrem spirituellen Auftrag auch als tragende Säule staatlicher Autorität verstanden. Nie hat sie sich in letzter Konsequenz als freie, moralische Instanz mit Verantwortung zu Gegenrede und Widerstand empfunden beziehungsweise als solche profiliert. Auch die jüngsten Äußerungen von Kyrill I. sprechen diesbezüglich eine eindeutige und erschütternde Sprache, wenn er den Westen und die Nato öffentlich für den Krieg in der Ukraine verantwortlich macht und behauptet, der Westen habe Russland in einer „großangelegten geopolitischen Strategie“ zum Feind erkoren. Die westlichen Kräfte hätten beschlossen, nicht selbst gegen Russland zu kämpfen, sondern die Ukraine und die Brudervölker Russlands in Feinde zu verwandeln, so der Patriarch.

Als Christ mag man sich für diese kruden Thesen nicht nur schämen, sondern steht geradezu fassungslos vor solchen Aussagen aus dem Munde eines hohen Geistlichen. Daraus kann und muss folglich umso mehr der Auftrag an die Gemeinschaft aller christlichen Kirchen und an ihrer Spitze an den Papst ergehen, sich mit Patriarch Kyrill zumindest auf eine gemeinsame Minimalformel zu verständigen, die auf eine unmissverständliche Ächtung jedweder Verwendung von Atomwaffen in der aktuellen Auseinandersetzung abzielt. Wenn diese Bemühungen im Hintergrund noch nicht bereits laufen, dann ist es jetzt allerhöchste Zeit dazu. Dringlichkeit ist geboten, denn für den Fall, dass die öffentliche Ziehung einer roten Linie durch die russisch-orthodoxe Kirche ausbleiben sollte, wird das Inferno immer wahrscheinlicher und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit auf uns zurasen. Wir alle sind dazu aufgerufen, dies im Sinne der Menschheit und der Humanitas mit allen Mitteln zu verhindern. Jeder an seinem Platz!

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