Verteidigungsfähigkeit - Plant Putin einen Angriffskrieg gegen die Nato?

Auch wenn nichts darauf hindeutet, dass Putin die baltischen Staaten oder das restliche Europa angreifen will, gilt es, die eigene Verteidigungsfähigkeit gegen potentielle Bedrohungen zu stärken. Dazu gehört auch eine Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Kommt die Bedrohung aus dem Osten? Leopard-2-A6-Kampfpanzer der Bundeswehr / dpa
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Autoreninfo

Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Die Lage im Ukraine-Krieg hat sich 2023 grundlegend verändert: Nach der gescheiterten Gegenoffensive der Ukraine wähnt sich Putin auf dem Weg zu einem Sieg, den er unter großen Anstrengungen in dem jetzt zu einem Abnutzungskrieg mit hohen Opferzahlen mutierten Krieg zu erringen hofft. Nicht verändert hat sich dagegen die Argumentation derjenigen, die die deutsche Debatte in den Leitmedien beherrschen und unverdrossen für einen ukrainischen Sieg auf dem Schlachtfeld und einseitig für mehr Waffenlieferungen an die Ukraine werben. Dabei tritt jetzt die Argumentation in den Vordergrund, dass es Putin nicht nur um die Ukraine gehe, sondern er weitere Staaten wie die baltischen Staaten und langfristig das gesamte westliche Bündnis bedrohe. Typisch für diese Auffassung ist der am 14. Dezember 2023 veröffentlichte Aufruf in Die Zeit, mit dem 70 Prominente aus Wissenschaft und Politik mehr Unterstützung für die Ukraine fordern.

Angelpunkt des Aufrufs ist die Behauptung, dass die Ukraine die Freiheit und Sicherheit des Westens verteidige. Dies legt den bereits üblichen Argumentationszusammenhang nahe, dass es sich beim Ukraine-Krieg um einen Stellvertreterkrieg handele. Dies ist nicht nur falsch, es ist auch unmoralisch. Die Nato oder der Westen befinden sich eben nicht in einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland, die in einem Drittland, der Ukraine, ausgetragen wird. Ebenso wenig kämpfen die ukrainischen Streitkräfte im Auftrag und im Namen des Westens. Die Behauptung, dass die Ukraine einen Stellvertreterkrieg zur Verteidigung unserer Freiheit und Sicherheit führt, ist auch unmoralisch und feige, da man niemand anderen für seine eigenen Anliegen oder Interessen einen Krieg führen oder in den Tod schicken sollte. So waren auch insbesondere Stimmen aus den USA widerwärtig, die frohlockten, dass die russischen Streitkräfte durch den Krieg geschwächt würden, ohne dass dabei ein US-Soldat zu Schaden kommen würde.

Aber warum dann die Notwendigkeit starker militärischer Unterstützung der Ukraine? Letztlich geht es um die Wahrung für die regelbasierte Weltordnung zentraler, nicht nur im westlichen Interesse liegender Prinzipien: des Verbots von Angriffskriegen und der Gewährleistung territorialer Integrität. Russland hat in eklatanter Weise gegen diese Prinzipien verstoßen, indem es der Ukraine gar die Existenzberechtigung als selbständiger Staat abgesprochen hat. Sollte Russland mit seinem völkerrechtswidrigen militärischen Angriff Erfolg haben, so würde damit ein Präzedenzfall geschaffen, den es im Interesse der Wahrung einer grundlegenden internationalen Ordnung zwischen den Staaten unbedingt zu vermeiden gilt. Der Rückfall in das alleinige Recht des Stärkeren würde zu chaotischen Verhältnissen führen und wäre nicht im Sinne der friedlichen Koexistenz aller Staaten – unabhängig davon, ob demokratisch verfasst oder nicht. Es muss deshalb darum gehen, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, dem Angriffskrieg zu widerstehen und sich als eigenständiger und lebensfähiger Staat in gesicherten Grenzen zu behaupten. Darauf ist die Unterstützung für die Ukraine angelegt.

Putin dürfte eine strategische Niederlage nicht akzeptieren

Ein solcher Begründungsansatz, der auf emotional aufgeladene und überhöhte Zusammenhänge verzichtet, schließt keine diplomatischen Lösungen oder Kompromisse aus. Nicht emotionaler Furor sondern nüchterner Realismus sollte die einzunehmende politische Haltung bestimmen. Hierzu gehört auch, dass die Folgen und Eskalationsrisiken des eigenen Tuns bedacht werden. So war die militärische Unterstützung bisher bewusst begrenzt, um schwerwiegende Eskalation bis hin zu Nuklearschlägen zu vermeiden – ein Aspekt, der immer wieder von den Befürwortern einer unbegrenzten militärischen Unterstützung der Ukraine kleingeredet oder ignoriert wird. Selbst wenn dieser Aspekt durch die relativen Erfolge Russlands auf dem Schlachtfeld aktuell nicht mehr so stark im Vordergrund steht, so darf er doch nicht aus dem Blick geraten. Putin dürfte eine strategische Niederlage nicht akzeptieren, was dann die Gefahr einer nuklearen Eskalation mit unabsehbaren Folgen heraufbeschwört.

Putin hat am letzten Wochenende Warnungen des US-Präsidenten vor russischen Angriffsabsichten gegen europäische Nato-Staaten als „völligen Blödsinn“ abgetan. Aber natürlich darf man dessen Worte nicht für bare Münze nehmen. Besser ist es, sich an Fakten zu halten. Und da ist klar, dass durch den Ukraine-Krieg die russischen Streitkräfte nachhaltig geschwächt sind und ein Angriff zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Erfolg verspräche und deshalb völlig illusorisch wäre. Nach den bisherigen militärischen Misserfolgen steht Russland vor der Aufgabe, jetzt seine konventionellen Streitkräfte gerade auch personell und materiell neu aufzustellen, um sie wieder zu raumgreifenden Operationen zu befähigen. Dies dürfte mehrere Jahre erfordern. Aber auch dann ergibt sich die Frage, ob Putin eine Aggression gegen die Nato wagen würde. Die Fehlkalkulation und die massiven Verluste Russlands im Ukraine-Krieg sollten dem an sich gewieften Strategen Putin eine Lehre gewesen sein. Zudem gibt die Vorgeschichte des Kriegs keine Anhaltspunkte für weitergehende russische Absichten.

 

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Dennoch: Es gibt keinen Grund, die Hände jetzt in den Schoß zu legen. Die Nato hat keinerlei Versuch unternommen, im Ukraine-Krieg auf ein Vermittlungsergebnis oder einen Kompromiss mit Russland hinzuwirken. Stattdessen standen die Zeichen auf Konfrontation, Bestrafung und Ausgrenzung Russlands. Wir befinden uns auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg, oder wir sind bereits in ihm. Der ist gefährlicher als der alte. Die Situation ist nicht nur aufgrund des Fehlens rüstungskontrollpolitischer Vereinbarungen heute weniger stabil und berechenbar. Wir befinden uns auch auf dem Weg in eine neue, komplexere und gefährlichere Weltordnung. Zudem hat Russland jetzt eine drastische Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben um 60% beschlossen und seine Volkswirtschaft bereits weitgehend auf eine Kriegswirtschaft umgestellt. Demgegenüber ist die Dramatik und die Dringlichkeit entschlossenen Handels in Deutschland und in den anderen europäischen Staaten der Nato noch nicht angekommen. Verteidigungsminister Pistorius hat die verbleibende Zeit, um sich auf eine von Russland ausgehende Kriegsgefahr vorzubereiten, auf fünf bis acht Jahre veranschlagt.

Ob diese Einschätzung zutrifft, bleibt offen. Aber klar ist: Deutschland wie die anderen europäischen Nato-Staaten tun nicht genug, um künftigen Bedrohungen vorzubeugen und von einem Krieg abzuschrecken. Dabei geht es sowohl um die Aufrechterhaltung der eigenen Verteidigungsfähigkeit und die Schließung eklatanter Fähigkeits- und Ausrüstungslücken als auch um die Vorbereitung auf ein nicht völlig auszuschließendes Ausscheren der USA aus der Nato nach einem Regierungswechsel in Washington 2024. In jedem Fall muss sich Europa darauf einrichten, dass die USA – unabhängig von der künftigen Regierung – auf erheblich mehr Engagement für die Verteidigung Europas dringen werden. Zudem muss unser Kontinent in einer sich entwickelnden neuen, auch wirtschaftlich stärker konfrontativ aufgestellten Weltordnung auch militärisch mehr für seine Selbstbehauptung tun. Die bisher unternommenen Anstrengungen – insbesondere die ausbleibende bzw. viel zu langsame Umstellung der Rüstungsindustrie auf eine Art „Kriegsproduktion“ – reichen nicht, um die Ukraine künftig militärisch in einem Russland vergleichbaren Umfang zu unterstützen und die Einsatzfähigkeit und Kampfkraft der eigenen Streitkräfte aufzubauen und zu sichern. Dies gilt bereits ohne Berücksichtigung der bröckelnden Solidarität mit der Ukraine in einigen Ländern Europas und der USA.  

Auf einem anderen Blatt steht, ob die Situation hat so eskalieren müssen

Zur Illustration der Situation sei nur auf die gerade wieder begonnene Diskussion zur Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland hingewiesen. Verteidigungsminister Pistorius setzt sich entschieden dafür ein und ist der Meinung, dass deren Aussetzung 2011 ein schwerer politischer Fehler war. Aber selbst aus seiner eigenen Partei erfährt Pistorius jetzt Widerspruch; so erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag, Sönke Rix, dass der Zwang zu einer Dienstpflicht der falsche Weg sei; auch SPD Generalsekretär Kühnert sekundierte am 19. Dezember mit der Behauptung, dass eine Wehrpflicht in der SPD nicht mehrheitsfähig sei. Und der verteidigungspolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Alexander Müller, lehnt ebenso wie sein Fraktionsvorsitzender Dürr den verpflichtenden Wehrdienst als Eingriff in die Freiheitsrechte, der nicht im Verhältnis zur Bedrohung stehe, ab. Pistorius erklärt jetzt relativierend, dass das von ihm bevorzugte schwedische Modell zwar eine verpflichtende Musterung der jungen Leute beinhalte, aber nur eine geringe Zahl zur Bundeswehr ginge und dies keine Verpflichtung sei.

Selbst wenn die Strukturen für eine Wehrpflichtarmee weitgehend abgeschafft wurden und deren Wiedererrichtung Zeit und vor allem viele Haushaltsmittel verschlingen würden und deshalb eine Beschränkung auf das sogenannte schwedische Modell als allein realistisch angesehen wird: Es stellt sich schon die Frage, ob sich mit dem schwedischen Wehrpflichtmodell ein bedrohungsgerechter Streitkräfteumfang und ein ausreichendes Reservistenpotential herstellen lässt. Der Ausgang der Debatte und die sich ergebende Entscheidung des Verteidigungsministers, mit der im Frühjahr zu rechnen ist, wird Auskunft darüber geben, inwieweit sich Deutschland zu einer wehrhaften Demokratie und dem hierzu erforderlichen Mentalitätswechsel wird durchringen können.

Das klingt alles sehr martialisch-düster und wenig optimistisch; aber so lassen sich die aktuellen Erfordernisse und Probleme beschreiben, denen sich die Bundesregierung verteidigungspolitisch zu stellen hat. Auf einem anderen Blatt steht, ob die Situation hat so eskalieren müssen. Und: Inwieweit man in der Vergangenheit andere politische Wege hätte beschreiten können oder müssen, um heute nicht vor dem Scherbenhaufen einer konfrontativ geprägten Politik gegenüber Russland zu stehen.

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