Opposition gegen Putin - „Das Endziel ist Moskau“

Die russische Opposition gegen Wladimir Putin ist äußerst vielfältig und agiert zumeist vom Ausland aus. Doch ohne Unterstützung der Profiteure des kleptokratischen Regimes kann eine Wende in Russland kaum gelingen.

Putin hat mittlerweile viele Gegner, die sein Regime zum Einstürzen bringen wollen / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Angeblich sind es nur ein paar Hundert Mann, die in den Reihen des Russischen Freiwilligenkorps und der Legion Freies Russland stehen. Mit Vorstößen auf Ortschaften im südrussischen Gebiet Belgorod haben die beiden Truppen wiederholt Schlagzeilen gemacht, als „bewaffnete Arme der russischen Opposition“. Doch die namhaftesten Oppositionellen, die entweder in Russland inhaftiert oder ins Ausland gegangen sind, wussten nichts von den Aktionen dieses Korps und dieser Legion, die nach Angaben ihrer Führer unabhängig agieren und sich durch Spenden finanzieren. Überdies kann von einer geschlossenen Front gegen das totalitäre Regime Wladimir Putins keine Rede sein. Vielmehr ist die Opposition zersplittert, es fehlt ihr an unumstrittenen Köpfen, die die regimekritischen Gruppen hinter sich scharen könnten.

Es ist ein Déjà-vu in der Geschichte Russlands: So wie heute Wladimir Putin, so ließ vor genau 100 Jahren Wladimir Lenin alle Gegner unerbittlich verfolgen, die Außerordentliche Kommission, russisch abgekürzt Tscheka, setzte den von ihm verkündeten „roten Terror“ um. An den Rändern Sowjetrusslands aber lieferten sich bewaffnete Formationen immer wieder Scharmützel mit der Roten Armee, so wie nun das Russische Freiwilligenkorps und die mit ihm verbündete Legion die Truppen des Kremls unter Druck setzen. Ein Sprecher der Legion hat die kühne Parole ausgegeben: „Das Endziel ist Moskau.“

Berlin wird wieder zum Zufluchtsort

Wie heute waren auch damals Hunderttausende ins Ausland geflohen. Berlin wurde zum Zentrum der Emigration, 360 000 Russen suchten 1923 in der deutschen Hauptstadt um Asyl nach. Der gutbürgerliche Stadtteil Charlottenburg wurde wegen der vielen Russen, die sich dort einmieteten, „Charlottengrad“ genannt. Vorübergehend Zuflucht fanden an Havel und Spree viele Künstler, darunter die später weltberühmten Maler Marc Chagall und Wassily Kandinsky.

Berlin bekam seinen Platz auch in der russischen Literaturgeschichte. Einige der bedeutendsten Schriftsteller warteten dort die Entwicklungen in Sowjetrussland ab. Zu ihnen zählten der schillernde Satiriker Ilja Ehrenburg, der Sozialkritiker Maxim Gorki, der elitäre Prominentensohn Vladimir Nabokov, der künftige Nobelpreisträger Boris Pasternak, der adlige Lebemann Alexei Tolstoi, der indes nach Moskau zurückkehrte und dank seiner historischen Romane über Zaren als „roter Graf“ die Gunst Stalins erlangte, sowie die bisexuelle Lyrikerin Marina Zwetajewa, die zwei Generationen später wegen ihrer Verse über Liebe und Verlangen bei jungen Russinnen Kultautorin wurde. 

Wladimir Sorokin stellt das Leben im postsowjetischen
Russland in Form von Grotesken und Satiren dar / Zoe
Noble

100 Jahre später wiederholt sich die Geschichte, wieder sind unter den nach Berlin gekommenen Russen einige international bekannte Schriftsteller: Maria Stepanowa, die jüngst mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet wurde, Ljudmila Ulitzkaja, deren Romane in drei Dutzend Sprachen übersetzt wurden, Viktor Jerofejew, der wegen der prallen Sexszenen in seinem Roman „Moskauer Schönheit“ lange als Skandalist galt, aber zunehmend mit politischen Essays ein Echo fand, und der Sprachexperimentator Wladimir Sorokin, der in Form von Grotesken und Satiren das Leben im postsowjetischen Russland darstellt.

Rund 1000 politische Gefangene

Bei allen Unterschieden in ihrem Werk ist ihnen gemeinsam, dass sie nun ihre Solidarität mit der angegriffenen Ukraine erklären. In ihrer Heimat gelten sie daher offiziell als Unpersonen, ihre Bücher wurden aus dem Verkauf genommen und aus Bibliotheken entfernt. Ljudmila Ulitzkaja erklärte bereits nach der Annexion der Krim und der russischen Invasion in den Donbass vor neun Jahren: „Ich schäme mich für mein ungebildetes und aggressives Parlament, für meine aggressive und inkompetente Regierung, für die Staatsmänner an der Spitze, Möchtegern-Supermänner und Anhänger von Gewalt und Arglist, ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat.“ 

Maria Stepanowa sieht, dass Putin sein Drehbuch von der Zukunft Russlands realisieren wolle: „Aber dieses Buch hat ein übler Typ verfasst, der sich kaum für seine eigenen Charaktere interessiert. Es ist ihm egal, ob sie überleben oder sterben. Ihre Bedürfnisse und Wünsche kümmern ihn nicht.“ Wladimir Sorokin ging einen Schritt weiter: „Ich habe den Grad des Wahnsinns Putins nicht richtig eingeschätzt. Er zerstört alles, was er anfasst.“ Viktor Jerofejew, Autor zahlreicher Texte über das Weltbild der Führung um Putin, schrieb über den russisch-ukrainischen Krieg: „Wir alle sind in der Hölle angekommen.“

Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, deren Romane in drei
Dutzend Sprachen übersetzt wurden / Isolde Ohlbaum

Diese Hölle erleben nun Oppositionelle, die in Russland geblieben sind. Rund 1000 politische Gefangene, die wegen ihres Protests gegen den russischen Angriffskrieg in Haft kamen, sind bislang von Menschenrechtsorganisationen erfasst. Im vergangenen Jahr wurde das Strafrecht um das Gesetz gegen die „Verbreitung falscher Informationen über die russischen Streitkräfte“ erweitert, jede Art von Kritik am Krieg gegen die Ukraine kann mit Gefängnis bis zu 15 Jahren bestraft werden.

Nawalny ist trotzdem umstritten

Auf den bekanntesten politischen Häftling des Landes, den Juristen und Dokumentarfilmer Ale­xander Nawalny, kommt wegen dieses „Fake-­News-Paragrafen“ ein weiterer Strafprozess zu. In einer von seinen Anwälten verbreiteten Erklärung heißt es nämlich: „Die Ukraine muss ein unabhängiger demokratischer Staat bleiben, der sich selbst verteidigen kann. Russland muss aufhören, Quelle der Aggression und Instabilität zu sein.“ Nawalny war mit Videodokumentationen über Korruption und Bereicherung der Kremlelite international bekannt geworden, den Film über ein für Putin errichtetes gigantisches Schloss am Schwarzen Meer haben im Internet auch Millionen seiner Landsleute angeklickt. 2020 überlebte er einen offenkundig von russischen Geheimdienst­agenten verübten Giftanschlag nur knapp, die Spezialisten der Berliner Charité retteten ihn. 

Nach seiner Rückkehr nach Moskau wurde er in zwei fragwürdigen Betrugsverfahren zu neun Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Am 4. Juni demonstrierte eine Gruppe junger Leute aus Anlass von Nawalnys Geburtstag im Zentrum Moskaus für seine Freilassung, prompt fuhr Polizei auf. Auf dem Anorak einer rüde abgeführten jungen Frau standen die Wörter: „Du bist nicht allein!“ 

Nawalny ist zwar mit Abstand der bekannteste Kremlgegner, doch unter den Oppositionellen ist er keineswegs unumstritten. Ihm werden nicht nur Auftritte bei nationalistischen Gruppen in seinen jungen Jahren vorgehalten, sondern auch rassistische Äußerungen. So bezeichnete er 2007 in einem Videoclip Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien, die angeblich eine besonders hohe Kriminalitätsrate aufweisen, als „Karies am gesunden Volkszahn“ Russlands und verglich sie mit „Kakerlaken, die man nicht in seiner Wohnung haben will“. Auch rechtfertigte er 2014 die Annexion der Krim mit dem Satz: „Sie ist kein Butterbrot, das man hin- und herschiebt.“ 

Nawalny distanziert sich von seiner Vergangenheit

Wegen derartiger Sprüche hielten proeuropäische Gruppierungen, die allerdings nur kleine Kreise von Intellektuellen erreichen, lange Distanz zu Nawalny. Dazu gehört die Gruppe Solidarnost, die indes mit dem Vorhaben scheiterte, nach dem Vorbild der Solidarnosc in Polen eine breite Volksbewegung gegen Putin ins Leben zu rufen. 

Zu den Solidarnost-Gründern gehörte der Politologe Ilja Jaschin, er bekam permanent Ärger mit den Sicherheitskräften, nachdem er eine Online-­Unterschriftensammlung unter dem Motto „Putin muss gehen“ initiiert hatte. Als er vor einem Jahr eine Videodokumentation über das Massaker von Butscha auf Youtube veröffentlichte, verhaftete ihn der Inlandsgeheimdienst FSB. Ein Moskauer Gericht verurteilte ihn wegen der Verbreitung von „Fälschungen über die Streitkräfte“ zu achteinhalb Jahren Gefängnis. Jaschin lachte laut bei der Urteilsbegründung. 

 

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Da Nawalny sich mittlerweile von seinen umstrittenen Äußerungen distanziert hat, gilt er vielen Kommentatoren der oppositionellen Medien, die nun von Berlin, Wien, Prag und vor allem Riga aus online arbeiten, als geläutert. Auch dank seines monatelangen Aufenthalts in Berlin nach seiner Vergiftung 2020 habe er begriffen, dass kulturelle Vielfalt eine demokratische Gesellschaft durchaus stärken kann. Jedenfalls sieht ein Teil der Oppositionellen im In- wie Ausland ihn nun als Hoffnungsträger, der in der Zeit nach Putin eine führende Rolle in der russischen Politik spielen sollte und dank seiner Popularität namentlich in der jungen Generation zur Stabilisierung der Gesellschaft beitragen könnte. 

Das Russland von heute sei eine „kafkaeske Welt“

Die politische Stimmung der jungen Russen hat die Kulturjournalistin, Dramaturgin und Regisseurin Irina Rastorgueva untersucht, die wie so viele andere Kulturschaffende ebenfalls nach Berlin übergesiedelt ist. So hat sie im Internet viral gegangene satirische Memes über Putin analysiert, mit prägnanten Kurztexten versehene Fotocollagen und Karikaturen. In deren weiter Verbreitung sieht sie durchaus Potenzial für das Aufkommen einer neuen Protestgeneration. 

Rastorgueva verweist auch auf die mutigen Frauen, die im Rahmen der Aktion „Mariupol 5000“ zum Gedenken an die Opfer der von russischen Bombern und Artilleriegranaten zerstörten Hafenstadt vielerorts Holzkreuze mit der Inschrift aufgestellt haben: „Wie viele starben in Mariupol? Wofür?“ Diese feministische Untergrundorganisation ist horizontal, nicht hierarchisch organisiert, sie hat keine Anführerinnen und ist deshalb für die Sicherheitskräfte schwer greifbar.

Leonid Wolkow, einer der wichtigsten Helfer des inhaftierten
Kreml-Kritikers Alexander Nawalny / Jens Gyarmati

Den Putinismus hat Rastorgueva in ihrem luziden Buchessay „Das Russlandsimulakrum – kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland“ analysiert: Alles werde simuliert, beginnend mit Wahlen bis zu Verfahren einer angeblich unabhängigen Justiz. Das Russland von heute sei eine „kafkaeske Welt“, in der Protest großen Mut erfordere, denn die Bürger sähen sich „einem Monster mit dem Verstand eines Tyrannen und dem Benehmen eines Banditen“ gegenüber.

Gegen Putins Gleichschaltung

Zu den Mutigen gehört der Journalist Wladimir Kara-Mursa, Spross einer ursprünglich aus Armenien stammenden angesehenen Moskauer Intellektuellenfamilie und Mitarbeiter des 2015 in Sichtweise des Kremls ermordeten demokratischen Oppositionsführers Boris Nemzow. Auch Kara-­Mursa wurde zweimal Opfer von Giftanschlägen; dem Kreml ist er offenkundig lästig, weil er im westlichen Ausland Dokumentationen über systematische Grundrechtsverletzungen in Russland vorgestellt hat.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine gründete er gemeinsam mit dem früheren Schachweltmeister Garri Kasparow und dem früheren Ölmagnaten Michail Chodorkowski, der in einem manipulierten Prozess zu neun Jahren Lager verurteilt worden war, sowie anderen Putin-­Kritikern ein Antikriegskomitee. 

In den ersten Jahren nach Putins Einzug in den Kreml im Jahr 2000 hatte Chodorkowski immer wieder öffentlich die Gleichschaltung von Justiz und Medien angeprangert, in London hatte er die Stiftung Open Russia gegründet, die Dokumentationen dazu publizierte. Kurz vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi, bei denen dank der Manipulation von Dopingproben durch den Geheimdienst russische Sportler eine Reihe von Medaillen gewannen, war er im Januar 2014 überraschend freigekommen und lebt seitdem in der Schweiz. 

Härter als die Sowjetunion

Kasparow hatte bei Vorträgen in den USA und Westeuropa vor den imperialistischen Ambitionen Putins gewarnt: „Seine Ideologie ist ein Klumpen Hass.“ Nach der Ermordung Nemzows, mit dem er befreundet war, erklärte Kasparow zur Kremlpropaganda, die imaginäre Erfolge verkündet und vor dem angeblich aggressiven Westen warnt: „Wie ein Drogenabhängiger braucht Putin eine immer stärkere Dosis, um in der Gesellschaft diese Euphorie und diese Paranoia aufrechtzuerhalten.“ Auch er hat Russland verlassen, er lebt mit seiner Familie in New York. 2016 gründete Kasparow in der litauischen Hauptstadt Vilnius das Freie Russische Forum, regelmäßig treffen sich in diesem Rahmen Oppositionelle, die ins Exil gegangen sind, beim letzten Treffen in Berlin im April waren 70 Gruppierungen vertreten. 

Die Medien des Kremls trommeln gegen Chodorkowski und Kasparow: „Für Silberlinge aus dem Westen bewerfen sie die Heimat mit Dreck.“ Sicher fühlen können sie sich als Exilanten aber nicht, die russischen Geheimdienste haben mehrere Mordanschläge im Ausland verübt. Auch dies hat Tradition: Der NKWD, die Geheimpolizei Stalins, ermordete Regimegegner, die ins Exil gegangen waren, bekanntester Fall: Leo Trotzki. Der KGB setzte diese Tradition fort, bekanntester Fall: der umstrittene ukrainische Nationalist Stepan Bandera, der 1959 in München Opfer eines Anschlags mit Blausäure wurde. Kasparow sagt dazu in Anspielung auf den Tod des früheren KGB-Agenten Alexander Litwinenko, der als Putin-Gegner 2006 in London mit radioaktivem Polonium vergiftet worden war: „Ich trinke nicht Tee mit Fremden.“ Nach der Berliner Veranstaltung im April klagten zwei russische Journalistinnen, die für Exilmedien arbeiten, über Vergiftungssymptome.

Offensichtlich sind sich Chodorkowski und Kasparow im Klaren darüber, dass sie als Anführer einer vereinigten Opposition nicht infrage kommen, denn die Medienkampagne, die Emigranten als Vaterlandsverräter brandmarkt, findet in der russischen Bevölkerung durchaus ein Echo. Doch zurückkehren können sie kaum – ihr in Moskau zurückgebliebener Mitstreiter Kara-Mursa wurde im April zu 25 Jahren Strafkolonie verurteilt, seine im Ausland gehaltenen Vorträge bewertete das Moskauer Gericht als Hochverrat. Jan Ratschinski, Vorsitzender der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten, dennoch von den russischen Behörden aufgelösten Menschenrechtsorganisation Memorial, sagte: „Nicht einmal in der Sowjetunion gab es derartig harte Strafen für das gesprochene Wort.“ Die Absicht des Regimes sei klar: „Die Bevölkerung soll eingeschüchtert werden.“ 

Wenn ein Antikriegsbild im Gefängnis endet

Memorial wurde bereits 2016 zum „ausländischen Agenten“ erklärt, weil die Organisation auch Spenden aus dem Ausland bekam; sie hatte nicht nur Massengräber von Opfern der Großen Säuberungen dokumentiert, sondern auch Rechtsbeugungen der heutigen Behörden. Putin, der als KGB-Offizier ohnmächtig den Zerfall der Sowjetunion in Dresden miterlebt hatte, sagte über den NKWD, die blutrünstige Terrortruppe Stalins: „Die allermeisten waren aufrichtige Staatsdiener und Patrioten.“

Bereits vor zwei Jahrzehnten, als man in Berlin noch naiv auf eine Demokratisierung Russlands hoffte, ließ er an der Moskauer Geheimdienstzentrale Lubjanka eine Gedenktafel für den langjährigen KGB-Chef Juri Andropow anbringen. Andropow hatte Dissidenten in psychiatrischen Kliniken quälen lassen.

Die russischen Medien im Exil berichten fast jede Woche über Prozesse gegen Menschen, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilen, ein selbst gemaltes Plakat mit den Wörtern „Nein zum Krieg“ reicht für mehrere Jahre Gefängnis. Durch die internationalen Medien ging der Fall der 13-jährigen Mascha Moskaljow: Sie hatte in der Schule ein Antikriegsbild gemalt, ihre Lehrerin denunzierte sie, die Schulleitung schaltete den Geheimdienst ein. Dem Vater, bei dem sie seit der Trennung der Eltern lebte, wurde das Sorgerecht entzogen, er wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die Tochter kam in ein Kinderheim.

Ist Nawalny die richtige Gallionsfigur?

Angesichts dieser Nachrichten stellte die Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, die zu den Gründern von Memorial gehörte, nüchtern fest: „In Russland hat Putin jegliche organisierte Opposition zerschlagen.“ Sie selbst hat ebenfalls Russland verlassen, sie wohnt in Weimar, an der Universität Jena ist sie Gastprofessorin und beteiligt sich sehr aktiv an den Debatten, wie das Regime Putins erschüttert werden kann.

Umstritten ist unter den Putin-Gegnern im Exil, ob Nawalny der Anführer einer die Wende erzwingende Bewegung sein kann. Gegen ihn wird eine nüchterne Kalkulation angeführt: Sein radikaler Kampf gegen die Korruption irritiert diejenigen in den Eliten von Politik und Wirtschaft, die insgeheim den Krieg als Katastrophe für Russland ansehen, denn sie gehörten ja bislang zu den Profiteuren des kleptokratischen Putinismus. Doch ohne jegliche Unterstützung aus diesen Kreisen kann eine Wende in Russland kaum gelingen. 

Zweifellos nimmt die Anti-Putin-Stimmung auch in höchsten Kreisen zu, doch angesichts der merkwürdigen Todesfälle unter Spitzenmanagern staatlicher Banken und von Industriekonzernen wagt sich niemand aus der Deckung, solange die Militärführung noch vom bevorstehenden Sieg spricht, der Putins Macht zementieren würde.

Die Legion Freies Russland spielt keine Rolle

Keine Rolle in den Planspielen der demokratischen Opposition spielen das Russische Freiwilligenkorps und die Legion Freies Russland, ihren Anführern wird unterstellt, mit einer liberalen Gesellschaftsordnung nichts im Sinn zu haben. Sie werfen Putin vor, sich wie ein Zar zu inszenieren, das Land mit Terror zu überziehen und mit der Kremlclique das Land auszuplündern, während ein Drittel der Russen in Armut lebt. In einer über soziale Medien verbreiteten Videobotschaft heißt es: „Wir rufen alle Russen, alle Soldaten und Offiziere Russlands auf, sich uns und unserem Kampf für ein freies Russland anzuschließen.“

Im Namen der Legion tritt Denis Kapustin auf, er spricht fließend nicht nur Englisch, sondern auch Deutsch, weil er vorübergehend in Deutschland lebte. Noch als Jugendlicher war er vor zwei Jahrzehnten mit seinen Eltern als „jüdischer Kontingentflüchtling“ nach Köln gekommen. Kapustin fand Anschluss an rechtsextreme Kreise und organisierte Kampfsportturniere. Doch kehrte er nach mehreren Jahren nach Russland zurück und machte sich einen Namen unter Ultras, den allzeit gewaltbereiten Fußballfans. Die deutschen Behörden verhängten vor vier Jahren ein Einreiseverbot gegen ihn. 

Die beiden Formationen gehören offenbar zur ukrainischen Fremdenlegion, die das Verteidigungsministerium in Kiew nach dem russischen Überfall gegründet hat. Ein Sprecher der Legion teilte mit, dass sie dem Oberkommando der Streitkräfte unterstehen, solange sie sich auf dem Territorium der Ukraine befinden. Außerhalb des Landes aber agierten sie eigenständig, Kiew habe mit den Kämpfen im grenznahen Gebiet Belgorod nichts zu tun – eine Aussage, die indes weithin als Schutzbehauptung gilt.

Die sozialen Medien machen den Unterschied

Im großen militärischen Schlagabtausch spielen die Russen, die auf der ukrainischen Seite kämpfen, keine entscheidende Rolle. Auch die Intellektuellen, die vor Putins Repressionsapparat Zuflucht im Ausland gesucht haben, bringen das System nicht zum Wanken. Der bekannte Kulturjournalist Iwan Tolstoi hat keine Illusionen: „Die Oppositionellen werden aus dem Ausland keinen Einfluss auf die Entwicklungen in Russland haben.“ Tolstoi gilt als einer der besten Kenner der Geschichte der russischen Emigration: Seit knapp drei Jahrzehnten arbeitet er in Prag für das russische Programm des US-Senders Radio Liberty, er ist Enkel des „roten Grafen“ Alexei Tolstoi, der vor seiner Rückkehr nach Moskau vor genau 100 Jahren, im Juli 1923, eine der auffälligsten Figuren im Charlottengrader Exil war. 

Damals bekämpften sich Gruppen jeglicher Couleur unerbittlich, von Sozialisten, die Lenin verfolgen ließ, weil er das Monopol der Bolschewiken im linken Spektrum beanspruchte, über Sozialdemokraten und Liberale, die alle Gegner des Zaren gewesen waren, bis zu Zaristen. Opfer der Auseinandersetzungen wurde der Vater Vladimir Nabokovs, der Herausgeber der liberalen Tageszeitung Rul (Ruder) war: Auf einer politischen Veranstaltung in der Alten Philharmonie in Kreuzberg erschoss ihn ein ehemaliger zaristischer Offizier. 

Im Gegensatz zu den Charlottengrader Russen von damals finden die Berliner, Prager oder Rigaer Russen von heute aber ein Echo in der Heimat: Über Youtube und soziale Medien, die in Russland noch nicht gesperrt sind, informieren sie ihre Landsleute über die aktuellen Entwicklungen. Iwan Tolstoi erklärt: „Die Russen ordnen sich traditionell bereitwillig einem Führer unter, der in ihren Augen stark ist. Wenn aber dieser Führer Schwächen zeigt, so wendet sich das Volk von ihm ab.“ 
In diesem Sinne sind sich alle Oppositionellen einig: In Russland werden sich nur nach einer militärischen Niederlage, für die seine Landsleute Putin verantwortlich machen werden, die Dinge zum Besseren wandeln.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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