Überflutete Straßen in Cherson / picture alliance

Ukraine-Krieg - Die Folgen des Dammbruchs

Die Zerstörung des Nowa-Kachowka-Staudamms in der Region Cherson verändert sowohl die Landschaft als auch den Kriegsverlauf. Das volle Ausmaß der Schäden wird erst in einigen Wochen zu erkennen sein. Im Kernkraftwerk Saporischschja könnte es ohne genügend Wasser zur Kernschmelze kommen.

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Die seit langem befürchtete Zerstörung des Nowa-Kachowka-Staudamms wurde am Dienstag Realität: Städte und Dörfer flussabwärts in der Südukraine wurden überflutet, es kam zu überstürzten Evakuierungen. Der 1956 als Teil des Kachowka-Wasserkraftwerks errichtete Damm schuf ein 18 Milliarden Kubikmeter großes Reservoir, das die gesamte Halbinsel Krim sowie das Kernkraftwerk Saporischschja, das größte in Europa, mit Wasser versorgt. Sowohl Russland, das die Krim und das Kernkraftwerk besetzt hält, als auch die Ukraine haben sich gegenseitig beschuldigt, den Damm zerstört zu haben. In jedem Fall hat das Ereignis wichtige taktische und strategische Auswirkungen und unterstreicht die Bedeutung des Dnjepr als Frontlinie in diesem Krieg.

Der Dnjepr beginnt in Russland und fließt durch Weißrussland, bevor er in die Ukraine gelangt, wo er bis zum Krieg als wichtiger Handelskorridor und Route zum Schwarzen Meer diente. Seit dem Einmarsch Russlands erfüllt er hauptsächlich eine Rolle als Hürde. Russische Truppen, die von der Krim aus angriffen, überquerten den Dnjepr zu Beginn des Krieges und besetzten die Region Cherson, wo der Fluss ein großes Delta bildet. Fast neun Monate lang war die russische Armee auf beiden Seiten des Flusses in Cherson stationiert.

Dnjepr wichtig für den Feldzug in der Südukraine

Im November 2022 befreite die Ukraine das städtische Westufer von Cherson und drängte die Russen über den Dnjepr. Dabei wurden die Straßen- und die Eisenbahnbrücke von Antoniwka zerstört, was große Truppenbewegungen über den Fluss in diesem Gebiet stark einschränkte und es den russischen Streitkräften praktisch unmöglich machte, über die Autobahn M14 nach Odessa weiterzuziehen. In den folgenden Monaten verminten beide Seiten ihre Dnjepr-Ufer.

Es ist nicht schwer zu erkennen, warum der Dnjepr so wichtig ist, insbesondere für den Feldzug in der Südukraine. Abgesehen von den russischen Offensivzielen liegt die Krim nur etwa 80 Kilometer entfernt und scheint potenziell verwundbar zu sein. Der Abschnitt des Ostufers, den Russland in Cherson hält, befindet nicht weit von der Mündung des Dnjepr entfernt, wo sich der Fluss verengt. Um ihre Position zu verteidigen, haben die russischen Streitkräfte Bäume gefällt, Scharfschützen in den Häusern entlang des Flusses stationiert und Schützengräben und andere Befestigungen angelegt.

 

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Seit dem Bruch des Nowa-Kachowka-Damms stehen viele dieser russischen Befestigungen unter Wasser oder werden es bald tun. Die ukrainischen Stellungen am Westufer sind ebenfalls bedroht, allerdings aufgrund der höheren Lage auf ihrer Seite nicht in gleichem Maße. Die russischen Massenevakuierungen im Vorfeld der lang erwarteten ukrainischen Gegenoffensive haben jedoch dazu geführt, dass zum Zeitpunkt des Vorfalls nur wenige Menschen vor Ort waren.

Darüber hinaus war die Krim für die Trinkwasserversorgung auf den Kachowka-Stausee angewiesen, dessen Vorräte nun, da der Nord-Krim-Kanal nicht mehr nutzbar ist, schrumpfen werden. Vorteilhaft für Moskau ist, dass die Überschwemmung jeden ukrainischen Vorstoß auf dem Landweg in Richtung Krim erheblich behindern wird. Außerdem werden die russischen Linien in einer der schwächsten Verteidigungspositionen erheblich verkürzt.

Der militärische Vorteil der Zerstörung des Staudamms besteht nach Angaben russischer Militärblogger darin, dass jeder ukrainische Versuch, den Dnjepr zu überqueren und nach Osten zu marschieren, erheblich erschwert wird. Westlichen Militärquellen zufolge sind die Russen sogar „mit ziemlicher Sicherheit“ schuld, da für eine Aktion dieses Ausmaßes Sprengstoff im Voraus hätte deponiert werden müssen und weil die Russen den Damm seit Beginn des Krieges kontrollieren. Die Sprengung des Damms wäre demnach jedoch auch ein Zeichen russischer Verzweiflung. Es würde bedeuten, dass Moskau nicht in der Lage ist, seine Soldaten nach Westen zu verlegen, um den Rest von Cherson zurückzuerobern.

Ohne genügend Wasser könnte es zu einer Kernschmelze kommen

Die Zerstörung des Staudamms schafft auch zusätzliche Probleme für Kiew. Das Land hatte bereits vor dem Verlust des Wasserkraftwerks Kachowka Strommangel. Darüber hinaus lieferte der Stausee Kühlwasser für das von Russland besetzte Kernkraftwerk Saporischschja. Ohne genügend Wasser könnte es in der Anlage zu einer Kernschmelze kommen.

Die ukrainische Betreibergesellschaft des Kraftwerks geht davon aus, dass der Stausee vorerst genug Wasser liefern sollte, aber der Wasserstand sinkt nach Angaben des Leiters der Internationalen Atomenergiebehörde um etwa fünf Zentimeter pro Stunde. Am frühen Morgen lag er bei etwa 16,40 Metern. Unter 12,70 Metern ist es unmöglich, in die Kühlkreisläufe der Anlage zu pumpen, sodass den Betreibern nur wenige Tage bleiben, um eine Lösung zu finden. Der IAEO-Chef sagte, es bestehe keine unmittelbare Gefahr, aber es sei wichtig, dass ein Kühlbecken intakt bleibe, um genügend Wasser zur Kühlung der stillstehenden Reaktoren bereitzustellen. Im Falle einer Kernschmelze könnte radioaktives Material je nach Material und Wetterlage mehrere hundert Kilometer weit – weit über die Ukraine hinaus – transportiert werden.

Düstere Aussichten für die sozioökonomische Erholung

Abgesehen von den nuklearen Risiken wird die Staudamm-Explosion auch andere nachhaltige Auswirkungen für die Ukraine haben. Der Kachowka-Stausee versorgte ein riesiges Bewässerungssystem, das die ukrainische Industrie- und Agrarproduktion unterstützte. Vor dem Krieg waren etwa 80 Prozent der ukrainischen Gemüse- und Obstproduktion von diesem Bewässerungsnetz abhängig. Der Wiederaufbau dieses Systems könnte Jahrzehnte dauern und die ohnehin schon gewaltigen Kosten für den Wiederaufbau Kiews um unglaubliche Summen erhöhen.

Nicht zuletzt wird auch die Tierwelt am Dnjepr durch die Unterbrechung ihres Schutzgebietes in Mitleidenschaft gezogen. Nach Angaben des ukrainischen Präsidialamtes sind durch die Zerstörung des Damms 150 Tonnen Öl aus dem Dammmechanismus ausgetreten; weitere 300 Tonnen könnten entweichen.

Nach Angaben der „Ukraine War Environmental Consequences Work Group“, einer Vereinigung von Aktivisten und Fachleuten, die die Auswirkungen des Krieges auf die Umwelt dokumentieren, würde ein vollständiger Dammbruch einen Großteil des Ostufers des Flusses wegspülen. Es ist auch nicht bekannt, welche anderen Schadstoffe sich womöglich in den Fluten befinden. In den nächsten fünf bis sieben Tagen, wenn der Wasserstand zu sinken beginnt, dürfte sich ein klareres Bild ergeben.

Die Zerstörung des Staudamms verändert die militärische Geografie im Süden der Ukraine. Die Folgen werden jedoch noch weitreichender sein und angesichts der Bedeutung des überfluteten Gebiets für die landwirtschaftliche Produktion des Landes langfristig düstere Aussichten für die sozioökonomische Erholung der Ukraine bedeuten.

 

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Sabine Lehmann | Mi., 7. Juni 2023 - 17:14

Ob das tatsächlich die Russen waren oder doch die Ukrainer selbst, bleibt doch wohl erstmal abzuwarten. Wobei ich davon ausgehe, dass die Wahrheit darüber nie an die Öffentlichkeit geraten wird. Wie war das nochmal mit der gesprengten Gasleitung in der Ostsee? Alle wussten darüber Bescheid, die Amis, die Nato, die Deutschen, Schlumpf Olaf auch. Nämlich dass ukrainische Spezialtaucher die Sprengung der Gasleitung planten. Sie wussten es alle und haben es aus "guten" Gründen aus machtpolitischen Interessen geschehen lassen. Und wir Deutschen dürfen uns deshalb ausziehen bis auf´s Hemd, weil wir nichts mehr bezahlen und uns nichts mehr leisten können. Alles auf unsere Kosten, im Prinzip alles Verbrecher und Lügner! Links-grün an vorderster Front involviert.
Die spielen Krieg mit zigtausend Menschenopfern so als säßen sie bei Monopoly, kaltschnäuzig und abgezockt bis zum erbrechen. Wieviel Dreck auch ein Selenskyj am Stecken hat, werden wir nie erfahren, bei Putin ist es offensichtlich.

Niemand von uns hier wird in der Lage sein beurteilen zu können, wer, was, wo und wie an üblen Kriegsschweinereien tatsächlich verantwortlich angeordnet und/oder durchgeführt hat. In diesem Krieg ist, wie bei jedem Krieg eigentlich keine Seite frei von solchen Verbrechen. Ja, man kann ständig analysieren, wem was mehr oder weniger nutzt, wer, wann, welche Gelegenheit hatte. Ich bin deshalb bei irgendwelchen Schuldzuweisungen raus aus dem Rennen. Die überbordenden Schuldzuweisungen nur in eine Richtung ist genauso unsinnig,
wie alles nur der UA zu zuschreiben. Wenn ich den Artikel richtig verstehe haben alle Beteiligten irgendeinen erheblichen Nachteil von dieser Sprengung. Und manchmal werden auch völlig irrationale Entscheidungen getroffen, weil man ganz andere Ziele damit verfolgt als nur Zerstörung und töten. Und ja, ich möchte es schon gar nicht mehr wissen, wer da vorher Bescheid wusste, etwas ahnte, es gar beobachtet und geschehen lassen hat.

Albert Schultheis | Mi., 7. Juni 2023 - 18:46

für den aufschlussreichen Bericht über das Ausmaß der Überschwemmungen und deren Folgen. Danke auch dafür, daß sie uns die Lage am südl. Dnjepr weitgehend frei von den üblichen dümmlichen Schuldzuweisungen näherbringen.

Tomas Poth | Mi., 7. Juni 2023 - 21:52

Solche Dämme, als auch strategisch wichtige Brückenbauwerke sind überall, auch in Deutschland, mit einer Sprengkammer gebaut und vorbereitet, um im Kriegsfall Verteidigungslinien zu errichten und zu halten.
Der Sprengstoff dort war aller Voraussicht nach schon von der Ukraine eingebracht, spätestens seit 2014.
Die Frage die bleibt ist lediglich wer die Sprengung veranlaßt hat, wenn es denn eine Sprengung war. Darüber wird spekuliert!
Wie man nun aus der NYT, oder war es die Washington Post, weiß, hat ein ukrainisches Kommando die Nordstream Pipelines gesprengt!? Unser Bundeskanzler soll vorgewarnt gewesen sein?
Angebliche Beweise sollen vorliegen.

Christoph Kuhlmann | Do., 8. Juni 2023 - 07:07

Russland verkürzt seine Front am Dnjepr Ufer für 4,5 Wochen um ca. 100 Kilometer. Der volkswirtschaftliche Schaden kann über die Jahrzehnte im dreistelligen Milliardenbereich liegen. Die Front bröckelt und die große Offensive der Ukraine hat bisher nicht einmal angefangen. Russische Widerstandskämpfer halten, mit Unterstützung der Ukraine, bei Belgorod Gebiete auf russischem Territorium. Ich hätte damit gerechnet, dass der Spuk innerhalb wenige Tage erledigt sei. Die prorussische Militärblogger Szene ist alles andere als optimistisch und die Rekrutierungsbemühungen scheinen keine deutliche Stärkung der russischen Kräfte zu bewirken. Dafür tauchen jetzt immer mehr alte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus China auf. Man fragt sich, worauf Putin wartet?

"Eine Münze hat immer zwei Seiten2. Eine uralte Weisheit, besonders im Ukrainekrieg. Man erfährt von Selenskyj keine Strategie. Glaubhafter sind für mich objektive, nachvollziehbare, auch geopolitisch betrachtete Informationen.

Parallel zu Frau Colibasani´ lesenswerten Artikel, wünsche ich mir einen Bericht von Moritz Gathmann. Seine beiderseitigen, Stellungnahmen sind für mich nachvollziehbar.

Sabine Jung | Do., 8. Juni 2023 - 09:30

eine Tragödie unermesslichen Ausmasses. Aber ist dieser gesamte Krieg dieses nicht auch?
Und es könnte Schluss gemacht werden, wenn es Verhandlungen geben würde. Aber das ist ja politisch durch die Hauptakteure USA/NATO nicht gewollt.
Also geht das Leid einfach weiter.
Wir bauen auch fleissig wieder diese Region auf.