Nord-Stream-Pipelines - Warum Russland ein Interesse an der Sabotage hat

Auf wessen Konto gehen die Explosionen an den russischen Ostsee-Pipelines? Die Spekulationen schießen ins Kraut, Moskau gibt der amerikanischen CIA die Schuld. Aber es existieren mehrere gute Gründe, warum Russland seine eigenen Gasleitungen selbst hätte zerstören können. Denn die Signalwirkung dieser Aktion ist in vielerlei Hinsicht immens.

Satellitenaufnahme der Stelle, an der das Gas aus dem Meer strömt / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

So erreichen Sie Ryan Bridges:

Anzeige

Das erste, was man über die Nord Stream 1- und 2-Pipelines wissen sollte, aus denen seit Montag Erdgas in die Ostsee gelangt, ist, dass es eigentlich vier Pipelines sind. Sie bestehen aus Stahl und Beton, liegen in dem betroffenen Gebiet etwa 70 Meter unter der Oberfläche und verlaufen parallel in zwei Paaren über mehr als 1200 Kilometer entlang des Meeresbodens. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass natürliche Ursachen dazu geführt haben, dass drei von ihnen etwa zur gleichen Zeit und am gleichen Ort ihren Inhalt auszuspucken begannen, als schwedische Seismologen zwei unterschiedliche Explosionen registrierten. 

Bevor sie explodierten, konnte jede der Nord Stream 1-Leitungen 27,5 Milliarden Kubikmeter russisches Gas pro Jahr an die Strände Deutschlands liefern. Die Rohre von Nord Stream 2 könnten dasselbe leisten, wenn sie jemals in Betrieb genommen würden – US-Sanktionen verhinderten einen früheren Start, dann marschierte Russland in die Ukraine ein, und Deutschland setzte das Abkommen aus. Jetzt kann nur noch eine der beiden Leitungen in Betrieb genommen werden, weil die andere Leitung ebenfalls in die Luft geflogen ist.

Ein heikler Moment

Es ist ein heikler Moment in Europa, und niemand möchte zu laut darüber spekulieren, wer die Schuldigen sein könnten. Zu viel Gerede über Sabotage könnte die Märkte noch mehr verunsichern oder übermäßigen Druck auf die politische Führung ausüben, Vergeltung zu üben. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete jedoch, dass Berlin und andere europäische Länder im Juni von der CIA über mögliche Angriffe auf die Pipelines informiert worden seien. Es werden Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen erhoben und Desinformationen ans Licht kommen, aber sehr vieles deutet auf Russland hin.

 

Jüngste Beiträge zum Thema:

 

Die Schlüsselfrage lautet: Wer sonst hätte die Fähigkeit und die Möglichkeit, diese vier Pipelines zu zerstören – und würde eine davon unversehrt lassen? Natürlich ist es möglich, dass eigentlich alle vier hätten zerstört werden sollen, aber die unbeschädigte Pipeline würde sich in der Nähe einer beschädigten befinden (da sie paarweise verlegt sind), und es vergingen viele Stunden, bevor Beobachter eintrafen. Die erste(n) Explosion(en) ereignete(n) sich gegen 2 Uhr nachts, aber Hinweise auf ein Leck wurden erst am Nachmittag gemeldet. Die zweite(n) Explosion(en) ereignete(n) sich gegen 19 Uhr. Die Zeit spielte also keine große Rolle.

Russland sieht die CIA als Täter

Das russische Staatsfernsehen gab der CIA die Schuld, und in der Tat haben die USA ein Interesse daran, Russlands Gasverbindungen nach Europa zu kappen, um Russland einen Teil seines Einflusses auf die Gasversorgung zu nehmen und Moskau die Schuld für den Anschlag zuzuweisen. Aber eine solche Sabotageaktion gegen das milliardenschwere Projekt eines Verbündeten wäre für die USA mit einem extrem hohen Risiko verbunden. Für Russland, dem die Pipelines gehören und dessen Vertreter seit Monaten erklären, dass sich ihr Land indirekt im Krieg mit dem Westen befindet, wäre das Risiko weitaus geringer. 

Noch wichtiger ist, dass die USA, die Ukraine oder ein anderes Land, das Russland schaden will, im Rahmen einer derart hochriskanten Operation mit Sicherheit alle vier Verbindungen zerstören würde. Denn nur Russland würde von der Aufrechterhaltung einer Verbindung profitieren.

Warum aber sollte Russland seine eigenen Pipelines in die Luft jagen? Um Europa zu demonstrieren, dass seine Sanktionen nicht greifen und dass der Kreml es ernst meint mit der Verlagerung seiner Energieexporte nach Asien und der Abkehr vom europäischen Markt – und dabei praktischerweise eine Verbindung offen zu lassen, falls Europa seinen Kurs ändert. Außerdem, um die Energiemärkte zu verunsichern, die europäischen Preise in die Höhe zu treiben sowie die öffentliche Meinung zu beeinflussen. (Die holländischen Gas-Terminkontrakte schossen am Dienstag um etwa 20 Prozent in die Höhe.) Und nicht zuletzt, um die europäischen Regierungen daran zu erinnern, dass sie Schwachstellen haben, die Russland noch nicht einmal ansatzweise ausgenutzt hat. Am Dienstag wurde eine Pipeline von Norwegen nach Polen mit einem Volumen von zehn Milliarden Kubikmetern in Betrieb genommen, die in der Nähe der dänischen Insel Bornholm verläuft, wo sich die Nord Stream-Explosionen ereigneten.

Deutscher Sinneswandel?

Wenn die Angriffe ausreichen, um in Deutschland einen Sinneswandel in Bezug auf das Risiko-Nutzen-Verhältnis einer weiteren Unterstützung der Ukraine herbeizuführen – was unwahrscheinlich erscheint –, dann hat Russland immer noch eine Ostseeverbindung sofort verfügbar. Die Reparatur der anderen würde wahrscheinlich Monate brauchen – zumal es eine Woche oder länger dauern wird, bis der Schaden überhaupt beurteilt werden kann (und die Deutschen bezweifeln, dass sich Nord Stream 1 überhaupt reparieren lässt). Aber durch die Pipelines wurde ohnehin kein Gas transportiert. Russland hat Nord Stream 1 Anfang September außer Betrieb genommen, und bis dahin war die Leitung nicht einmal annähernd voll ausgelastet. 

Russland verfügt auch über andere Routen, um Gas nach Europa zu leiten: über Weißrussland, die Ukraine und die Türkei sowie über eine schnell wachsende europäische Kapazität für den Import von Flüssiggas. Darüber hinaus ist Russland durch seine militärische Mobilisierung für weitere Monate durch den Krieg gebunden, so dass eine Verzögerung Moskau keinen Schaden zufügen würde, der nicht ohnehin schon programmiert ist.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Europäer einen eindeutigen Beweis finden werden, und in Anbetracht der Risiken sollten sie auch nicht zu sehr mit dem Finger auf andere zeigen. Die Bemühungen um die Sicherung anderer unterseeischer Pipelines und Kabel werden zunehmen, was das Risiko von Unfällen in der Ost- und Nordsee leicht erhöhen könnte. (Am Mittwoch warnte der norwegische Ministerpräsident, dass Angriffe auf seine Offshore-Infrastruktur eine Reaktion der Alliierten nach sich ziehen würden). Der russische Betreiber der Pipelines könnte sich um eine Aufhebung der Sanktionen bemühen, damit er die Schäden beheben und die – relativ geringen – Umweltauswirkungen mildern kann. 

Das Wichtigste ist jedoch, dass Moskau dem Westen nach seiner nicht ganz so „teilweisen“ Mobilisierung erneut signalisiert, dass es ihm zu mindestens 75 Prozent ernst damit ist, den Krieg zu gewinnen.

In Kooperation mit

Anzeige