Nato-Beitritt von Finnland und Schweden - Erweiterte Abschreckung

Der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden ist Folge des Ukraine-Kriegs. Es geht darum, nach welchen Normen die europäischen Staaten miteinander leben wollen - nach der Logik von Großmächten und Einflusszonen oder nach der Logik von Souveränität und rechtlicher Gleichheit. Russland wird gegen den Beitritt letztlich nichts unternehmen, und auch die Türkei wird ihn nicht aufhalten.

Neutralität war gestern: der finnische Staatspräsident Sauli Niinistö / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Der finnische Präsident Sauli Niinistö nannte als wichtigsten Grund für den Beitritt seines Landes zur Nato, dass Finnland zuvor aus eigenem Willen neutral gewesen sei. Nun aber, nachdem Russland seinen Anspruch auf Mitsprache in seiner angestrebten europäischen Einflusszone reklamiere, könne Finnland nur noch aus Rücksicht auf Russland neutral bleiben – und das wolle es angesichts des zweiten Grundes, des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, nicht bleiben. In Europa, in dem zwei Ordnungsmodelle im Widerstreit darum stehen, welches die Zukunft des Kontinents gestaltet, kann es keinen Platz zwischendrin geben.

Der Beitritt von Finnland und Schweden zur Nato ist Folge dieses Konflikts: Nach welchen Normen werden die europäischen Staaten in Zukunft miteinander leben? Entweder nach der Logik von Großmächten und Einflusszonen, dem Modell Russland, oder nach der Logik von Souveränität und rechtlicher Gleichheit, dem Modell EU. Die EU-Staaten sind bestrebt, ihre Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit (mit allen Schwächen und Verstörungen) zu bewahren. Daher kommt die schlagartige Einigkeit nach Kriegsausbruch, die – wie das diskutierte Ölembargo belegt – freilich nicht in Harmonie überging. Aber die wird es zwischen Staaten auch nicht geben. Gewaltfreiheit, das ist eine Lehre europäischer Geschichte, ist schon sehr viel. Helmut Kohl nannte die EU deshalb auch zu Recht eine Frage von Krieg oder Frieden. Das war 2014, während der Ukraine-Krise. Kohl sagte damals: „Europa ist unser Schicksal. Europa ist eine Frage von Krieg und Frieden mit allem was dazugehört: neben dem Frieden auch die Freiheit, der Wohlstand und die Demokratie.“ Zuvor schon hatte er der deutschen Außenpolitik attestiert, den Kompass verloren zu haben. Sie fand ihn auch nach 2014 nicht, weshalb sich die Lage so entwickelt hat, wie sie sich heute darstellt.

Der Beistand der EU-Staaten ist nur eine unzureichende Absicherung

Den größten Nutzen vom Beitritt der beiden skandinavischen Staaten in die Nato hat die EU. Denn beide Staaten sind Mitglieder der EU, und die vereinbarte Beistandsklausel gilt für sie. Doch ist der Beistand der EU-Staaten in der gegenwärtigen Sicherheitslage nur eine unzureichende Absicherung. Er kann Russland alleine nicht abhalten. Die EU-Staaten wären deshalb auch gegenüber Russland nicht so laut, hätten sich die USA Ende Februar von Europa abgewandt und den Ukrainekrieg zu Europas Problem erklärt. Wer derzeit aus Europa wertebasierte Außenpolitik verkündet, steht auf den Schultern von Antony Blinken. Das ist ein komfortabler Platz, denn er bringt die Stärke mit, die Russland davon abhalten wird, Europa in seine Einflusszone zu führen. Auch die Nato wird durch die Beitritte gestärkt, wobei sie aufgrund der geographischen Lage Finnlands auch große Aufgaben übernimmt. Schließlich wird die Sicherheit der beiden Beitrittsländer gefestigt. Die Behauptung, Russlands Sicherheit werde gefährdet, ist hingegen unplausibel. Es sei denn, man hält die EU für einen aggressiven und militanten Akteur, wie der russische Außenminister Lawrow sagte. Aber das sind Hirngespinste.

Die deutsche Diskussion um die mögliche Anwendung von taktischen Nuklearwaffen im Ukrainekrieg, die verheerende Wirkungen entfalten würden, blendet die Dimension völlig aus, dass die erweiterte nukleare Abschreckung der USA Russlands Verhalten einhegt. Die russischen Drohungen mit nuklearen Schlägen, dem vollständigen Atomkrieg, können so nicht in politische Erpressung gegenüber den EU-Staaten gewandelt werden, weil die erweiterte nukleare Abschreckung der USA dies verhindert. Möglicherweise würde die Diskussion in Deutschland gerade völlig anders verlaufen, wenn Russland in der Lage wäre, mit der glaubwürdigen Androhung nuklearer Maßnahmen Einfluss auf Regierungsentscheidungen zu nehmen. Die USA halten dies auf Distanz.

Russland hat diese Entwicklung kommen sehen

Diese erweiterte Abschreckung, die ja nicht nur nuklear, sondern auch konventionell wirkt, wollen nun auch Finnland und Schweden für sich in Anspruch nehmen können. Es geht um Artikel 5 des Washingtoner Vertrages. Sie beantworten damit auch die Frage, ob es sicherheitspolitisch klüger gewesen wäre, die Ukraine 2008 auf den Weg in die Nato zu führen. Die Regierungen in Stockholm und Helsinki beantworten dies mit Blick auf ihre Länder mit Ja, denn sie gehen davon aus, dass die Gefahr durch Russland im transatlantischen Bündnis sinkt. Mit den USA und den anderen militärisch handlungsfähigen Nato-Staaten an ihrer Seite sehen sie ihre Sicherheit gestärkt.

Die Reaktionen aus Russland waren verbal stark und werden in der Sache gemäßigt sein. Denn Russland hat diese Entwicklung kommen sehen. Seit 2008 wurden die Beziehungen Finnlands und Schwedens zur Nato immer enger, sodass die Mitgliedschaft diesen Prozess der Annäherung nicht beginnt, sondern konsequent abschließt. Hätte Russland intervenieren wollen, so hatte es dazu acht Jahre Zeit. Die russische Regierung aber hat andere Prioritäten gesetzt. Sie hat jetzt noch hybride Angriffe im Köcher, doch was immer nun gegen Finnland und Schweden unternommen wird, wird die öffentliche Meinung nur noch stärker für einen Nato-Beitritt bewegen. Putins Zorn, nicht ungestraft als Weltmacht handeln zu können (wie weiland George W. Bush), erweist sich als selbstschädigend.

Die Türkei wird den Beitrittsprozess nicht aufhalten. Der finnische Präsident erläuterte, dass Präsident Erdogan ihm vor einem Monat seine Zustimmung signalisiert habe. Nun, da das Verfahren in Gang kommt, zählt die Stimme der Türkei, und es lassen sich noch Zugeständnisse erwirken, die im Vergleich zu den geostrategischen Interessen der EU gering erscheinen. Das ist zwar nicht die höfliche, aber eine effektive diplomatische Art, mit Einstimmigkeit umzugehen.

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