Der Nahe Osten kommt nicht zur Ruhe - Im Teufelskreis gefangen

Vom Iran über die Türkei bis zu den Ländern Nordafrikas: Die gesamte Region kommt nicht zur Ruhe, überall schwelen alte Konflikte und brechen neue aus. Es ist ein permanenter Niedergang, gespeist aus Autoritarismus und festgefahrener wirtschaftlicher Entwicklung. Und ein Ende dieser Misere ist nicht in Sicht.

Huthi-Kämpfer nehmen an einem Trauerzug für Rebellen teil, die bei Kämpfen mit Kräften der international anerkannten jemenitischen Regierung getötet wurden / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

So erreichen Sie Hilal Khashan:

Anzeige

Der Nahe Osten und Nordafrika werden permanent von ihrer Vergangenheit heimgesucht. Wie viele andere Gegenden auf der Welt waren sie imperialer Herrschaft unter aufeinanderfolgenden Regimen und dynastischen Staaten unterworfen und erlebten mehr Konflikte als Frieden. Doch im Gegensatz zu anderen Regionen warten sie noch immer auf ihre Renaissance.

Jahrhundertelang waren Aufruhr, Meuterei und Armut an der Tagesordnung, während Industrialisierung und Modernisierung nur schwer zu erreichen waren. Als arabische und muslimische Intellektuelle im 19. Jahrhundert nach Reformen strebten, blockierte der europäische Kolonialismus jegliche Bemühungen um Veränderungen. Er brachte sie dazu, sich zurückzuziehen und eine unverfälschte Form des Islam anzunehmen, um die europäische Einmischung in ihr Leben zu verhindern. Der Islam wurde so unvereinbar mit den Anforderungen der Moderne. Die folgende Analyse befasst sich mit den Ursprüngen der seit langem bestehenden Unordnung in der Region und mit den Fehlern, die zu ihrem heutigen Zustand geführt haben.

Zerstörte Zivilgesellschaften

Der Sechstagekrieg von 1967 war ein wichtiger Katalysator für den Wandel im Nahen Osten, der die Machtverhältnisse veränderte und Israel zum militärischen Tiger der Region machte. Vor dem Konflikt hatten die historischen arabischen kulturellen und politischen Zentren in Kairo, Bagdad und Damaskus allmählich ihre Bedeutung verloren, als Armeeoffiziere Militärputsche inszenierten und die herrschenden Aristokratien verdrängten. Die Offiziere zerstörten die Zivilgesellschaften und Volkswirtschaften ihrer Länder und kehrten zum Autoritarismus zurück. Sie versprachen wirtschaftliche Entwicklung, brachten aber stattdessen mehr Armut. Sie bauten große Militärapparate auf, angeblich um Israel zu bekämpfen – verloren aber jeden Krieg gegen Israel.

Der Sechstagekrieg offenbarte das Ausmaß ihrer Schwäche. Die kulturellen und politischen Zentren der Araber verlagerten sich allmählich in die Golfstädte Dubai, Abu Dhabi, Doha, Riad und Kuwait-Stadt. Während die dünn besiedelten Golfstaaten an Reichtum und Bedeutung gewannen, setzten sie alles daran, andere arabische Staaten schwach zu halten. Als Konterrevolutionäre verfolgten sie das Ziel, einen politischen Wandel in der gesamten Region zu verhindern.

Die heutigen Großmächte des Nahen Ostens – Israel, die Türkei und der Iran – sind nicht gleich stark. Während Israels Position als militärische und hochtechnologische Führungsmacht in der Region gesichert ist, haben die Türkei und der Iran ernsthafte Probleme in Bezug auf ihre Wirtschaft, innere Unruhen und Außenbeziehungen. Die islamische Revolution im Iran von 1979 hat dem Volk keinen Wohlstand gebracht. Stattdessen provozierte sie den Irak und löste einen achtjährigen Krieg aus, der den Iran wirtschaftlich ruinierte und international isolierte. 

Unbeeindruckt von den Folgen des Krieges versuchten die iranischen Ayatollahs, ihre Revolution in der gesamten Region zu verbreiten, und errichteten regionale Stellvertreter in gefährdeten Ländern wie Libanon, Irak, Syrien und Jemen. Die islamischen Führer des Iran ließen das marode Atomprogramm des Schahs wieder aufleben, um internationales Prestige und regionale Bedeutung zu erlangen. Die regionalen Ambitionen des Landes bedrohten seine arabischen Nachbarn, die sahen, wie Teheran seinen Einfluss im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen ausbaute. Dies zwang Saudi-Arabien dazu, ein massives Waffenbeschaffungsprogramm aufzulegen und eine eigene Waffenindustrie aufzubauen.

Instabile Türkei

Die Türkei hingegen wurde zwischen 1960 und 1971 von drei Militärputschen erschüttert. Der Putsch von 1960 war eine deutliche Mahnung an die fragile Demokratie im Nahen Osten. Die Armee stürzte die Regierung von Ministerpräsident Adnan Menderes, einem Mitbegründer der islamistisch orientierten Demokratischen Partei, und ließ ihn 1961 hinrichten. Doch der Untergang der Demokratischen Partei (DP) führte nicht zu politischer Stabilität. Im Gegenteil: Jedesmal, wenn das Militär eine islamistische Partei verbot, entstand eine neue. Nach dem Zusammenbruch der DP gewann die Gerechtigkeitspartei in den 1960er- und 1970er-Jahren an Bedeutung, und in den 1980er- und 1990er-Jahren entstand die Wohlfahrtspartei. 1997 zwang das Militär Ministerpräsident Necmettin Erbakan zum Rücktritt, und 1998 verbot es die Wohlfahrtspartei.

Im Jahr 2001 gründeten Recep Tayyip Erdogan und Abdullah Gül die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Sie dominierte die türkische Politik bis 2015, als sie die parlamentarische Mehrheit verlor und gezwungen war, eine Koalitionsregierung zu bilden. Tatsache ist jedoch, dass islamistische Parteien in der türkischen Politik ständig präsent sind, da die meisten Türken die strengen säkularen und republikanischen Werte von Mustafa Kemal Atatürk immer noch ablehnen. Die Zukunft der türkischen Politik bleibt ungewiss, weil sich Erdogan einer wachsenden Opposition gegenübersieht. Und obwohl er die 2013 begonnenen Proteste und die Korruptionsvorwürfe gegen seine Familienmitglieder und hochrangige Regierungsbeamte überstanden hat, könnte die Wirtschaftskrise seine Präsidentschaft und die AKP zu Fall bringen, sollte seine umstrittene Finanzpolitik erfolglos bleiben.

Politisch gesehen ist der Nahe Osten noch nicht erwachsen geworden. Die Länder der Region sind Opfer ihrer Vergangenheit und sorgen sich nach wie vor um ihre Sicherheit, sowohl im Inneren als auch nach außen. Trotz seiner militärischen Überlegenheit und seines Atomwaffenarsenals hat Israel tief sitzende Sicherheitsbedenken, die auf die tragische Geschichte des jüdischen Volkes in Ost- und Mitteleuropa zurückgehen. Sein demokratisches politisches System hat Schwierigkeiten, in wichtigen Fragen zu handeln, da die israelische Politik gespalten ist. Im Iran dagegen herrscht der oberste Führer über ein anachronistisches politisches System, das an das mittelalterliche Europa erinnert. Die Türkei wiederum steckt in einer Identitätskrise, bei der es darum geht, ob sie eine säkulare, europäisch orientierte Nation ist oder eine islamische, im Nahen Osten verwurzelte Gesellschaft.

Im 20. Jahrhundert wurden im Nahen Osten und in Nordafrika neue Staaten gegründet, und die historischen Einheiten Türkei, Iran, Ägypten und Marokko lebten wieder auf. Mit dem Untergang des Osmanischen Reichs und des Safawidenreichs begann die Kolonialzeit, die allmählich zur politischen Unabhängigkeit führte, aber keine Demokratisierung oder wirtschaftliche Entwicklung bewirkte. Die konstitutionelle Revolution im Iran von 1906 scheiterte und ebnete den Weg für die Einsetzung der Pahlavi-Dynastie im Jahr 1925. Die Absetzung des Schahs durch die Armee und seine Flucht aus dem Land markierten den Triumph der islamischen Revolution und die Rückkehr von Ayatollah Ruhollah Khomeini, der eine mittelalterlich anmutende Theokratie errichten wollte, was bei den säkular orientierten Iranern nicht gut ankam.

Unterdessen führte Atatürks Vision für die türkische Gesellschaft zu einer andauernden politischen Spaltung und einem unlösbaren Konflikt zwischen Laizismus und Religion.

Endemische Despotie

Mit dem Aufstieg des europäischen Einflusses wurde die Region zwischen Islam, Nationalismus und Säkularismus hin- und hergerissen. Der herrschenden Elite und der intellektuellen Klasse gelang es nicht, die Zustimmung der Bevölkerung zu ihren neuen politischen Arrangements zu gewinnen. Die Behauptung, die Präsidentschaftswahlen seien gefälscht worden, löste 2009 massive Proteste im Iran aus, die zeigten, wie unpopulär die strengen Methoden der regierenden Konservativen waren. Die Basij-Kräfte der Revolutionsgarde konnten die Proteste aber schnell unterdrücken und die Ruhe wiederherstellen.
 
Die arabischen Aufstände von 2010/11 gaben den Menschen die Hoffnung, dass sie die endemische Despotie in der Region beseitigen und demokratische politische Systeme errichten könnten, doch schon bald sahen sie sich mit der dunklen Realität des fest verwurzelten tiefen Staates konfrontiert. Keiner der arabischen Aufstände führte zu einer lebensfähigen Demokratie. Selbst die einst vielversprechenden demokratischen Reformen in Tunesien erwiesen sich als trügerisch. Der tiefe Staat, unterstützt durch großzügige saudische und emiratische Finanzhilfen, zerstörte das kurze demokratische Zwischenspiel in Ägypten und Tunesien.

Ende 2018 ging das sudanesische Volk auf die Straße, um sich gegen die drei Jahrzehnte währende Herrschaft von Präsident Omar al-Bashir zu wehren. Acht Monate nach dem Aufstand stürzte die Armee al-Bashir und versprach demokratische Reformen. Doch aus Angst vor einer zivilen Führung inszenierte sie im November 2021 einen weiteren Staatsstreich, um ihre politische Vorherrschaft wiederherzustellen, wiederum auf Betreiben von Abu Dhabi. Selbst das konfessionelle politische System des Libanon, das fälschlicherweise als Demokratie bezeichnet wird, ist aufgrund der weit verbreiteten Korruption zusammengebrochen.

Der Krieg im Jemen wütet weiter, da es den Saudis nicht gelingt, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Saudi-Arabien, das sich jahrzehntelang in die inneren Angelegenheiten des Jemen eingemischt hatte, tolerierte die Houthi-Rebellen, als sie gegen die der Muslimbruderschaft nahestehende al-Islah-Partei kämpften, wandte sich dann aber gegen sie, als sie die Hauptstadt Sanaa einnahmen.

In Nordafrika zerfällt Libyen, und es besteht wenig Hoffnung, dass sich die Kriegsparteien zusammenraufen. In Marokko hat der König nach wie vor die vollständige Kontrolle über das politische System des Landes, und in Algerien setzt das Militär weiterhin seinen Willen über das Land und seine Ressourcen durch. Die Türkei und der Iran grübeln über ihre Zukunft inmitten innenpolitischer Unsicherheit und angespannter Beziehungen zum Westen (und zu ihren regionalen Nachbarn). Die arabischen Länder sind in Aufruhr, da sie sich weder von den Folgen der gescheiterten Aufstände erholt noch ihre politischen Systeme reformiert haben. Sie scheinen sich mit ihrer Schwäche abgefunden zu haben, denn viele arabische Staatschefs begrüßen ausländische Interventionen, um ihre Regime zu stützen und einen politischen Wandel zu verhindern.

Die meisten, wenn nicht sogar alle Länder des Nahen Ostens befinden sich in einem Teufelskreis aus Autoritarismus und festgefahrener wirtschaftlicher Entwicklung. Und ein Ende dieser Misere ist nicht in Sicht.

In Kooperation mit

Anzeige