Nahostkonflikt - Sektierertum, Misswirtschaft, Interessenkonflikte

Der vom Zerfall bedrohte Libanon kommt politisch einfach nicht auf die Beine – und viele seiner Probleme spiegeln die missliche Lage in anderen arabischen Ländern wieder. Die Gründe für sein Scheitern sind neben religiösen und kulturellen Konflikten vor allem permanente Einmischungen aus dem Ausland. Doch jetzt könnte sich eine Gelegenheit ergeben.

Palästinensische Flagge über einer Palästinensersiedlung in der libanesischen Hauptstadt Beirut / picture alliance
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Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Die meisten Länder im arabischen Osten sind künstliche Schöpfungen des Westens. Daher sind viele ihrer internen Probleme – vor allem Sektierertum und Übergriffe ausländischer Regierungen – grenzüberschreitend. Dies ist auch im Libanon der Fall. Die internen Probleme des Landes mögen für den gesamten Nahen Osten unbedeutend erscheinen, aber seine Schwäche hat ausländische Regierungen dazu eingeladen, sich in seine Angelegenheiten einzumischen. Zu den unzähligen Problemen des Libanon gehört, dass sich die konfessionellen Gruppen des Landes nicht auf einen Nachfolger für Präsident Michel Aoun einigen konnten, dessen Amtszeit im vergangenen September endete.

Angesichts des politischen Systems des Landes ist für einen Konsens über einen neuen Präsidenten die Zustimmung der vom Iran unterstützten militanten Hisbollah-Gruppe erforderlich. Dies erklärt, warum der libanesische Armeechef (und Präsidentschaftskandidat) vorige Woche Katar besucht hat – ein Land, das gute Beziehungen zum Iran unterhält. Die Reise wurde auf subtile Weise von den Saudis genehmigt, die offenbar an einer Annäherung an Teheran interessiert sind. Sollten sich die Mächtigen der Region auf den nächsten libanesischen Präsidenten einigen, werden sich die regionalen Beziehungen – insbesondere zwischen Iran und Saudi-Arabien – normalisieren. Eine Befriedung des Libanon könnte daher dazu beitragen, die sektiererischen Probleme in der Region zumindest für die absehbare Zukunft einzudämmen.

Libanon und der arabische Osten

Der Libanon stand schon oft im Mittelpunkt von Konflikten zwischen den Groß- und Kleinmächten des Nahen Ostens. Als die libanesischen Christen nach dem Beginn des palästinensischen Aufstands gegen Israel im Jahr 1965 gegen die palästinensische Guerilla antraten, nutzten einige arabische Länder die Gelegenheit, um sicherzustellen, dass sich die konfessionellen Spaltungen zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg ausweiten würden, der schließlich 1975 ausbrach. Ägypten schien geneigt zu sein, ein separates Friedensabkommen mit Israel zu schließen, während die Beziehungen zwischen den baathistischen Regimen in Syrien und Irak einen Tiefpunkt erreichten. Jordanien wollte die Palästinensische Befreiungsorganisation im libanesischen Sumpf festhalten. Die Saudis machten sich Sorgen über linke Bewegungen im Lande und deren mögliche Ausbreitung in der Golfregion. In Syrien, Irak und Saudi-Arabien herrschte Sektierertum, und in Ägypten nahmen die Zusammenstöße zwischen Muslimen und koptischen Christen zu. So finanzierten die arabischen Regierungen den libanesischen Bürgerkrieg, um ihre Differenzen fern der Heimat beizulegen – und um ihre eigenen Bevölkerungen von einer Rebellion abzuhalten, denn die aufgrund des Bürgerkriegs angerichteten Zerstörungen im Libanon (der von vielen Arabern als Oase der Freiheit und der Modernisierung wahrgenommen wurde) dienten als abschreckendes Beispiel.

1989 erkannten die Araber, dass ihre innenpolitischen Probleme immer größer wurden. In Jordanien brachen Proteste gegen die steigenden Preise aus, angeführt von den Beduinen, die die Basis für die Unterstützung des Regimes bildeten. Im Irak gewann die Kurdenfrage nach dem Massaker von Halabja 1988 an Dynamik. In Ägypten eskalierten militante islamische Gruppen ihre Angriffe auf die koptischen Christen, ausländische Touristen und auf die staatliche Infrastruktur mit dem Ziel, das Regime zu stürzen. In anderen arabischen Ländern sah die Situation nicht viel besser aus.

Schließlich hielten es die arabischen Regime jedoch für zweckmäßig, ihre Propagandakampagne gegeneinander einzustellen, so dass es nicht mehr nötig war, die libanesischen Gruppierungen weiterhin gegeneinander auszuspielen. Sie luden libanesische Abgeordnete nach Saudi-Arabien ein, wo sie das Abkommen von Taif unterzeichneten, das den 14-jährigen Bürgerkrieg beendete und Syrien freie Hand bei der Befriedung des Libanon gab. Die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Jahr 2005 führte jedoch dazu, dass sich die syrische Armee aus dem Libanon zurückzog und der Iran mit seiner Unterstützung der Hisbollah eine beherrschende Stellung in der libanesischen Politik einnahm. Wieder einmal wurde die Zerrissenheit des Libanon zu einer großen Bedrohung für viele arabische Regime und spiegelte ihre eigenen Probleme im Inland wider.

Libanesisches Sektierertum

Diese Zersplitterung ist auf das Fehlen einer gemeinsamen nationalen Identität zurückzuführen, die sich aus den unterschiedlichen historischen Erfahrungen und den gegensätzlichen Bestrebungen der konfessionellen Gruppen des Landes ergibt. Jahrhundertelang lebten die nicht-sunnitischen muslimischen Bewohner des heutigen Libanon – Christen, Schiiten und Drusen – in den Bergen und fürchteten staatliche Verfolgung und Machtkämpfe. Im Jahr 1842, nach dem maronitisch-drusischen Bürgerkrieg, griffen die europäischen Mächte ein und brachten den osmanischen Sultan dazu, die Konfliktparteien in zwei autonome Verwaltungen aufzuteilen. Als der Konflikt 1860 wieder aufflammte, landeten die Europäer – Großbritannien, Frankreich, Preußen, Russland, Österreich und Italien – Truppen in Beirut und diktierten den Osmanen die Einrichtung einer gemeinsamen maronitisch-drusischen Verwaltung, die oft als „Kleiner Libanon“ bezeichnet wird.

1920 gründeten die Behörden des französischen Mandats willkürlich den modernen Staat Libanon als einziges christliches Land in Asien, obwohl es bedeutende sunnitische und schiitische muslimische Sekten gab, die innerhalb weniger Jahre eine demographische Mehrheit bildeten. Die Verfassung des Landes unterstreicht die Bedeutung der privaten Bildung, die es jeder Sekte ermöglicht hat, ihren Kindern eine eigene Identität zu vermitteln. Schiiten neigen dazu, sich mit dem Iran zu identifizieren, Sunniten mit der arabischen Region sowie der Türkei und Christen mit Europa.

Das libanesische Volk kann sich bis heute seiner sektiererischen Tendenz nicht entziehen, da es die Vorherrschaft anderer Sekten in einem Land fürchtet, in dem tief verwurzeltes zwischenmenschliches Misstrauen den Alltag beherrscht. Diese Realität hat den politischen Teufelskreis der Stagnation aufrechterhalten und das Überleben der herrschenden Klasse gesichert.

Viele Wählerinnen und Wähler waren bestürzt über die Ignoranz des Parlaments gegenüber den Sorgen und Nöten des Volkes inmitten des wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Landes. Sie entschieden sich dafür, eine neue Klasse von Kandidaten zu wählen, die den parlamentarischen Blöcken, die sich aufgrund des konfessionellen politischen Systems gebildet hatten und das Parlament seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1989 dominierten, die Stirn bieten wollten. Diese Blöcke weigerten sich, die akkommodierende Politik mitzutragen, was zu ihrem Ausschluss aus den parlamentarischen Ausschüssen führte, insbesondere aus denen für Finanzen und Haushalt. Bei den diesjährigen Parlamentswahlen wurden 16 neue Abgeordnete in die 128 Mitglieder zählende Versammlung aufgenommen. Doch auch die neuen Abgeordneten konnten sich nicht auf eine einheitliche Plattform einigen. Sie zersplitterten, verfolgten persönliche Ambitionen und verhandelten, um sich den traditionellen, eigennützigen Blöcken anzuschließen, zu deren Ablösung sie gewählt worden waren.

Ausländische Einmischungen

Erschwerend kommt hinzu, dass der Libanon seit langem Gegenstand ausländischer Interventionen ist. Großbritannien setzte Frankreich unter Druck, dem Libanon 1943 die Unabhängigkeit zu gewähren. Die ägyptische Intervention sorgte dafür, dass der Libanon von 1959 bis 1965 von arabischen Spaltungen verschont blieb, als Syrien palästinensische Guerillas in den Libanon ließ, um israelische Siedlungen im Norden anzugreifen. Die Ansiedlung militanter Palästinenser im Libanon nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 führte zu einer Militarisierung der Maroniten, die versuchten, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verschieben, und das Land auf den Weg zum Bürgerkrieg brachten. Obwohl die maronitischen Christen in erster Linie dem Libanon gegenüber loyal waren, blickten die Mitglieder der Sekte weiterhin zu Frankreich auf und identifizierten sich später mit den Haschemiten im Irak und in Jordanien.

Als die Franzosen den Großlibanon gründeten, erkannten die Sunniten die neue Regierung nicht an und weigerten sich, libanesische Ausweispapiere zu akzeptieren. Sie suchten bei den Monarchien Saudi-Arabiens und Ägyptens nach einer Schirmherrschaft, wandten sich an den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und verlangten, dass der Libanon mit der Vereinigten Arabischen Republik fusioniert, die 1958 zwischen Ägypten und Syrien gegründet worden war. Bis zur iranischen Revolution von 1979, die die Schiiten dank des Aufstiegs der Hisbollah in den Mittelpunkt des politischen Systems des Landes rückte, traten die Schiiten in der Struktur der Machtteilung im Libanon in den Hintergrund. Die militärische Komponente der Hisbollah machte den Libanon unregierbar, verstärkte die Polarisierung des Landes und verdeckte die grassierende Korruption der herrschenden Elite.

Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1943 hat der Libanon 13 Präsidenten gehabt, die alle durch ausländische Einmischung ins Amt gekommen sind. Der erste Präsident, Bishara Khoury, war der Mann Frankreichs im Libanon. Von britischen Agenten angezettelte Demonstrationen führten zu seiner Absetzung und zum Amtsantritt des zweiten Präsidenten, des Briten Camille Shamoun, um die Unterstützung des Libanon für den Bagdad-Pakt zu gewinnen. Die Wahl von Schamouns Nachfolger, Fouad Schihab, im Jahr 1958 war das Ergebnis einer Absprache zwischen den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten. 1992 setzte Saudi-Arabien Rafik Hariri als Premierminister des Libanon ein und kontrollierte durch ihn die libanesische Politik. Nach seiner Ermordung im Jahr 2005 rückte das Land in den Einflussbereich des Irans und Syriens, bis der Syrienkrieg 2011 begann und der Iran seinen Einfluss auf den Libanon über die Hisbollah verstärkte.

Als Michel Suleimans Amtszeit als Präsident 2014 endete, gelang es dem Parlament nicht, einen Nachfolger zu wählen. Es hielt 46 Wahlsitzungen ab, bevor es sich schließlich 2016 auf Michel Aoun als neuen Präsidenten des Libanon einigte. Seit dem Ende von Aouns sechsjähriger Amtszeit im vergangenen September ist das Parlament neunmal zusammengetreten, um einen Nachfolger zu wählen, jedoch ohne Erfolg. Der Parlamentspräsident schlug vor, einen nationalen Dialog zu führen, um einen Kompromisspräsidenten zu wählen. Selbst der reformorientierte Führer des oppositionellen Phalangisten-Blocks unterstützte diesen Plan. Dies würde jedoch nur bedeuten, den traditionellen sektiererischen Blöcken entgegenzukommen, die in erster Linie für die Wirtschaftskrise des Landes verantwortlich sind.

Auch Emmanuel Macron spielt mit

Doch wie etliche andere arabischen Parlamente vollzieht auch das libanesische Parlament lediglich die Entscheidungen ausländischer Regierungen und ihrer lokalen Vertreter nach. Auf Drängen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron traf der saudische Kronprinz Mohammad bin Salman vorige Woche mit dem libanesischen Premierminister zusammen. Ebenfalls letzte Woche lud Katar den libanesischen Armeechef nach Doha ein, um ihn für das Präsidentenamt vorzubereiten. (In Zeiten des politischen Stillstands einigen sich die wichtigsten parlamentarischen Blöcke darauf, den Armeekommandanten als Präsidenten zu akzeptieren.)

Wenn sich die Iraner und die Saudis auf den nächsten Präsidenten des Libanon einigen, könnte sich ihre Zusammenarbeit auch auf andere Sicherheitsfragen erstrecken, möglicherweise auch auf die Atomverhandlungen mit dem Iran. Einer der Hauptgründe für das Scheitern eines Abkommens mit dem Iran war das Beharren der USA darauf, dass Teheran sich nicht mehr so stark bei seinen regionalen Stellvertretern einmischt. Der Iran und Saudi-Arabien scheinen nun sehr daran interessiert zu sein, eine Einigung zu erzielen, da sie zu sehr mit innenpolitischen Fragen beschäftigt sind, um sich weiterhin gegenseitig zu bekämpfen. (Teheran ist aufgrund der aktuellen Proteste um seine innere Stabilität besorgt, und Riad ist mit seinem massiven wirtschaftlichen Entwicklungsprojekt beschäftigt.)

Das Ausland kontrolliert auch die libanesischen Streitkräfte und Geheimdienstapparate. Die Armee unterhält enge Beziehungen zu den USA, dem Hauptlieferanten von militärischer Ausrüstung und Ausbildung, obwohl die Hisbollah in den Geheimdienstapparat des Militärs eingedrungen ist. Im Jahr 2008 bot Russland dem Libanon die Lieferung von zehn MiG-29-Kampfflugzeugen an, doch die Armee lehnte ab, um Washington nicht zu verärgern. Auch iranische Angebote für kostenlose militärische Ausrüstung werden von den Befehlshabern der libanesischen Armee konsequent ignoriert. Die Kräfte der inneren Sicherheit und ihre Informationsabteilung vertreten die saudischen Interessen im Libanon, und die Flughafensicherheitseinheit sorgt dafür, dass iranische Transportflugzeuge ungehindert Zugang zum Land haben werden. Die Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, die von der Amal-Bewegung (einem Verbündeten und zugleich schiitischen Rivalen der Hisbollah) kontrolliert wird, ist pragmatisch und kommt allen ausländischen Akteuren in der libanesischen Politik entgegen.

Trotz der zersplitterten Loyalitäten nimmt der Armeechef jedoch eine neutrale Position ein und vermeidet es, ausländische Regierungen zu kritisieren. Dies verleiht ihm ein gewisses Maß an Berechenbarkeit – und macht ihn außerhalb des Libanon zu einem unumstrittenen Kandidaten für das Präsidentenamt.

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