Leben in Russland - „So viel Angst hatte ich noch nie“

In Russland wird das Leben härter. Das merken einfache Bürger, wenn sie ihr letztes Geld für Hamsterkäufe aufwenden müssen. Und viele Menschen überlegen es sich zweimal, welche Posts sie auf Social Media verfassen und mit wem sie chatten. Eine Studentin aus Moskau spricht im Cicero-Interview über die aktuelle Situation. Um sie vor staatlicher Verfolgung zu schützen, haben wir das Interview anonymisiert.

Kunden versuchen in einem Moskauer Einkaufszentrum, in Läden westlicher Modeketten einzukaufen, bevor sie das Land verlassen / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Wie ist zurzeit die wirtschaftliche Situation in Russland? Und wie kommen russische Bürger angesichts der Sanktionen über die Runden?

Wir alle wissen, wie abhängig Russland vom Weltmarkt ist. Es gibt keine unabhängige russische Industrieproduktion. Software, Hightech, Einzelteile, Maschinen – all dies wird für Dollars oder Euros eingekauft. In allen Sektoren steigen die Kosten und damit auch die Preise: von Nagelstudios bis hin zur Club-Mate-Limonade, die ja nicht in Russland hergestellt wird. Die Menschen decken sich mit Lebensmitteln ein, solange man sie noch kaufen kann: Mehl, Zucker und Butter sind für Hamsterkäufe besonders beliebt. Deshalb werden sie aktuell nur rationiert verkauft. Viele Kleinunternehmer und Lebensmittelhändler haben lange versucht, ihre Preise zu halten. In einigen Fällen blieben die Preise sogar für eine Woche stabil. Aber jetzt steigen die Preise langsam. Das lässt sich nicht mehr aufhalten. Auch Dienstleistungen werden teurer. Deshalb sind die Preisschilder vieler Läden mittlerweile nicht mehr in Rubel angegeben, sondern in Dollar. Und wenn jemand etwas privat verkauft, verlangt er auch nur noch ausländische Währung. Durch die Inflation fällt der Rubelkurs ja ständig.

Können sich die Leute überhaupt noch Lebensmittel leisten, wenn die Preise immer weiter steigen?

Ich zum Beispiel gebe 90% meines Geldes für Essen aus. Ich gehe fast nur noch im Supermarkt einkaufen und gehe selten aus. Und ich bin ja Teil der Mittelschicht, das heißt, mir geht es noch vergleichsweise gut. Aber wer in einer Fabrik arbeitet, gibt seinen ganzen Lohn für Lebensmittel aus. Niemand kauft heute noch Delikatessen, eher ist man auf der Suche nach Linsen oder Reis. Man sieht zu, wo man sparen kann.

Wie wirkt sich die Schließung westlicher Ketten in Russland auf die Lebenssituation der Menschen aus?

McDonald’s hat schon geschlossen, Ikea gibt es nicht mehr, Coca-Cola produziert nicht mehr in Russland, Danone, Uniqlo, Zara – alle diese Marken verlassen das Land. Es gehen massenhaft Arbeitsplätze verloren. Vielleicht merken die Menschen dadurch eher, in welche Lage sich Russland jetzt hineinmanövriert hat. Wobei manche Analysten auch vermuten, dass die russische Bevölkerung dadurch dem Mord an den Ukrainern noch stärker zustimmen würde als bisher. Und obwohl diese Firmen offiziell sagen, dass sie den Betrieb oder Verkauf in Russland nur temporär stilllegen, wissen wir alle, dass wir uns auf längere Engpässe einstellen müssen.

Zurzeit ist in Russland viel von der „Renaissance der Datscha“ die Rede. Ist das eigene Anbauen von Lebensmitteln wieder im Kommen?

Soweit ich darüber im Bilde bin, haben sich die Verkaufszahlen für Gemüsesamen zum eigenen Anbau innerhalb kürzester Zeit vervielfacht. Viele wollen Tabak, Kartoffeln oder Tomaten anbauen. In der Großstadt kann sich das natürlich nur jemand leisten, der selbst einen Garten hat. Die meisten Moskauer haben diese Möglichkeit natürlich nicht. Viele vergleichen die aktuelle ökonomische Situation mit den 1990er-Jahren. Diese Auffassung teile ich überhaupt nicht. Denn die 1990er-Jahre waren eine Zeit der Öffnung, auch der ökonomischen. Es wurden enorme Summen aus dem Ausland in die russische Wirtschaft investiert. Jetzt beobachten wir das genaue Gegenteil. Russland isoliert sich, Investoren ziehen sich zurück, und aus dem Ausland geführte Betriebe schließen. Und niemand wird jetzt zu neuem Wohlstand kommen können, abgesehen vielleicht von einigen Betrügern und Kriminellen. Selbst die reichsten Oligarchen wandern jetzt aus.

Wie können Russen sich auf Social Media über das aktuelle Geschehen austauschen?

Dafür benutzen wir VPN-Server. Wobei die Facebook-App auf meinem Smartphone auch weiterhin normal funktioniert. Twitter ist nicht mehr abrufbar ohne VPN. Und bei Instagram muss man sehr vorsichtig sein, was man dort teilt. Bei Telegram geht es da schon freier zu. Dort gibt es auch Blogs, die die Lage an der Front mit Fotos und Insider-Videos kommentieren. Meduza, Mediazona, OVD-Info – alle diese Kanäle sind auf Telegram noch verfügbar. Viele wechseln jetzt aber schon zum Signal-Messenger, weil man befürchtet, dass auch Telegram bald stärker zensiert werden wird. Der Telegram-Gründer Pavel Durov hat schließlich schon einmal Daten von VK-Nutzern an den FSB weitergegeben. Und man munkelt darüber, dass er sich wieder an die russischen Behörden verkaufen wird. Außerdem wird Content auf Telegram blockiert, wenn sich Nutzer darüber beschweren. Es gibt auch viele Denunzianten, die kritische Beiträge auf Telegram sofort an den Staat weitergeben. TikTok ist in Russland übrigens auch nur noch eingeschränkt abrufbar. Das ist für mich persönlich schrecklich, weil wir dort viele Videos aus der Ukraine gesehen haben. Wir können weder posten noch Livestreams machen. Und selbst die älteren Posts von TikTok-Influencern aus dem Ausland können wir nicht mehr abrufen. Ich halte TikTok für die demokratischste Plattform. Wenn man eine Message hat, kann man ihr dort am einfachsten Gehör verschaffen. Aber TikTok kommt aus China, das mit Russland politisch verbündet ist. Deswegen werden jetzt natürlich viele Beiträge und Funktionen zensiert.

Und wie sieht es aus mit Medienberichten? Die letzten freien Sender und westlichen Auslandsmedien wurden ja kürzlich in Russland gesperrt.

Telekanal Dožd’ musste schon schließen. Ein bisschen komplizierter war es beim einigermaßen kremlkritischen Online-Lifestyle-Magazin The Village. Als es verboten wurde, wanderte die Moskauer Chefredaktion nach Warschau aus. Aber die regionalen und lokalen Redaktionen, Mitarbeiter und Autoren wurden allein gelassen. Ihnen wurde noch nicht einmal Hilfe angeboten. Meduza war schon immer in Lettland. Aber dadurch, dass Meduza in Russland blockiert wurde, ist natürlich der Traffic abgestürzt. Viele haben sich deren Sendungen nur nebenbei angehört und kommen gar nicht dazu, sich umständlich über einen VPN-Server einzuloggen und dann den Sender aufzurufen. Aber wer wirklich an Informationen interessiert ist, kann sie leicht finden.

Wie informiert sich denn die ältere Generation? Sie ist doch wahrscheinlich nicht mit VPN-Servern vertraut.

Meine Eltern haben beispielsweise Freunde und Verwandte in der Ukraine, über die sie sich informieren können. Sie schauen nicht fern und verurteilen den Krieg. Auch meine Mutter hat Wurzeln in der Ukraine. Aber sie denken, dass man trotzdem erst einmal nicht auswandern sollte. Von VPN-Servern haben sie wahrscheinlich nie gehört. Es kommt also sehr auf das Individuum an. Wer für Propaganda empfänglich ist, wird sie auch hören. Und wer komplett apolitisch und passiv ist, hört sich vielleicht keine staatlichen Meldungen an, lässt sich dafür aber mit Fernsehshows und Unterhaltungsformaten abspeisen. Solche Menschen sind nicht von heute auf morgen politisiert. Besonders stark bekommen natürlich die Beamten die Propaganda mit. Sie halten sich schließlich den ganzen Tag lang in staatlich finanzierten Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäusern auf. Aber ein riesiger Teil der Menschen in Russland ist einfach apolitisch. Von denen heißt es oft: „Putin mag ja schlecht für unser Land sein, aber ich interessiere mich nicht für Politik. Sollen sich doch andere drum kümmern.“ An solche Menschen kommt man nicht heran, weil sie nicht bereit sind, sich der Situation zu stellen und weil sie über den Krieg nichts hören wollen. Deshalb sind jetzt alle Russen aufgefordert, die eigenen Freunde und Familienmitglieder mit der aktuellen Lage zu konfrontieren. Es gibt also Russen, die die Kreml-Politik kritisch sehen, Russen, die sie befürworten, und solche, die sich ihr gegenüber komplett passiv verhalten.

Und wie sieht es auf dem Land oder in Kleinstädten aus? Kann man da Unterschiede zu Moskau feststellen?

Dort ist das oft davon abhängig, welcher Klasse man angehört. Die ökonomisch gut aufgestellten Bürger sind in der Regel apolitisch. Und ein großer Teil der Arbeiter in den Fabriken und der Industrie glaubt der Propaganda. Viele finden Putin und den Krieg irgendwie cool. Das sind dann meistens die Über-Vierzigjährigen. Bei den Jüngeren sieht es aber schon etwas anders aus. Die „Generation Z“ (zwischen 1997 und 2012 geboren, Anm. d. Red.) ist eher oppositionell eingestellt, unabhängig von der Klassenzugehörigkeit und dem Einkommen. Aber auch da gibt es Ausnahmen. Eine frühere Klassenkameradin, die putintreu ist, fragte mich zum Beispiel einmal, wo ich „die letzten acht Jahre gewesen“ bin. Das ist so ein klassischer Satz. Von wegen: Wer Russe ist, sollte auf sich und sein Land stolz sein und sich für nichts schämen. Solche Menschen machen sich also mit dem Staat und seinem Krieg gemein.

In der letzten Zeit hat man öfter Videos von russischen Influencern oder Flashmobs mit dem „Z“-Symbol der russischen Streitkräfte in der Ukraine gesehen. Sind das Überzeugungstäter oder wurden sie dafür eigens angeworben?

Bevor TikTok in Russland blockiert wurde, wurde vielen russischen Bloggern, die eine Menge Follower haben, von staatlicher Seite ein Angebot gemacht. Propagandisten boten ihnen Geld dafür an, dass sie Videos zur Unterstützung der russischen Streitkräfte aufnehmen. Ich gehe davon aus, dass diese Z-Swastika auch bei vielen, die sich für diesen Schund bezahlen ließen, innerlich Krämpfe auslöst. Es ist aber so, dass sich viele Menschen mit dem Aggressor identifizieren, weil das für sie psychisch einfacher ist. Denn wenn man begreift, dass wir der Aggressor sind – dann heißt das, dass man dagegen etwas tun muss. Dass man auf die Straße gehen muss, mit Leuten reden, Posts verfassen.

Sie haben selbst an einigen Demonstrationen teilgenommen. Und die Repressionen verstärken sich. Wie haben Sie die letzten zwei Wochen erlebt?

Im Vergleich zu den Protesten im Jahr 2018, an denen ich teilgenommen habe, haben die Menschen heute mehr Angst, und die Polizei geht brutaler vor. Die Organisation OVD-Info, die normalerweise Festgenommenen Rechtsbeistand leistet, wird von den Behörden aktiv an ihrer Arbeit behindert. Normalerweise geht OVD-Info so vor, dass man mithilfe eines Algorithmus beraten werden kann. Selbst wenn man nur zufällig per Elektroschock festgesetzt wurde, ohne Plakat oder Slogan. Einfach nur, weil man zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Polizeitransporter, in die die Menschen dann nach ihrer Festnahme von der Polizei hineingedrängt werden, sind in der Regel überfüllt. Sie sind normalerweise nur für etwa 15 Menschen ausgelegt, in der letzten Zeit wurden aber bis zu 40 Menschen in einem Polizeiauto transportiert. Noch im Auto füllt man ein Web-Formular von OVD-Info aus, indem man die Namen der Festgenommenen angibt und das Polizeirevier, in das man gebracht werden soll. Dort kann dann ein Jurist von OVD-Info einem Rechtsbeistand leisten. Jetzt wird aber niemand mehr zu den Festgenommenen hereingelassen, Rechtsbeistand zu erhalten ist nicht möglich. Man wird dazu gezwungen, Fingerabdrücke abzugeben und sich fotografieren zu lassen. Im Verhör wird alles Mögliche abgefragt, auch Informationen, die die Beamten eigentlich nichts angehen. Wenn man gegenüber den Polizeibeamten die Verfassung der russischen Föderation zitiert, die ein solches Vorgehen verbietet, wird man dafür verprügelt. Ich wurde noch nicht festgenommen. Aber ich war einmal mit Freunden am 28. Februar spazieren, als es noch relativ ruhig auf Moskaus Straßen war. Seit dem 6. März ist es gefährlicher geworden. Und ich bin froh, dass ich da nicht auf die Straße gegangen bin. Denn jetzt hört man davon, wie junge Frauen von der Polizei sexuell erniedrigt und gefoltert werden. Sie wurden gezwungen, sich auszuziehen. Junge Frauen, die weder besonders kräftig noch groß sind, wurden auf den Polizeirevieren verprügelt. Man ist dem System hoffnungslos ausgeliefert.

Wie erleben die Moskauer zurzeit das Vorgehen der Polizei?

Die Polizei war noch nie so brutal wie jetzt. Manche Freunde erzählen mir, dass die Polizei eine komplette Gehirnwäsche durchgemacht hat. Die Polizeibeamten fragen dann etwa, wie viel Geld man für die Teilnahme an einer Demonstration ausgezahlt bekommen hat. Sie halten uns für Volksfeinde, die mit Schlagstöcken verprügelt gehören und die in Russland nichts zu suchen haben. Ich habe Angst. So viel Angst hatte ich noch nie. Und die Polizisten gehen nach einem Raster vor, das ihnen vorschreibt, aus welcher Personengruppe sie besonders viele Menschen festnehmen sollen. Kleidung, Alter – all das sollen Indizien für eine potenziell oppositionelle Gesinnung sein. Wenn du im Stadtzentrum unterwegs bist und die Polizei dich auf dem Kieker hat, kannst du dir sicher sein, dass sie dich schnappen wird. Oft halten einen auch einfach in der U-Bahn Polizisten an, die einen Blick auf deine Chatverläufe, Posts und Kontakte werfen wollen. Das kommt auch auf der Straße und in der Stadt vor. Selbst wenn man einfach nur auf dem Weg zur Arbeit ins Stadtzentrum ist, kann die Polizei einen kontrollieren und mit aufs Revier nehmen.

Hat sich die Lage verschlimmert, seit das Gesetz über die Verbreitung sogenannter „Fakes“ über die „Spezialoperation“ der russischen Truppen in der Ukraine in Kraft getreten ist?

Auf jeden Fall. Seit dieses Gesetz gilt, kommt die Polizei auch bei Leuten zuhause vorbei. Ohne Vorankündigung. Einfach weil man das Falsche gepostet hat und der Staat das nachverfolgt hat. Und es gibt eine ganze Community an Denunzianten. Es gab einen Telegram-Chat mit über 25.000 Leuten, in den alle Daten über diejenigen gepostet wurden, die angeblich gegen Gesetze verstoßen hätten und dem Staat gemeldet werden sollen. Willkommen zurück in der Sowjetunion!

Wie verhalten sich Social-Media-User angesichts dieser verschärften Lage?

In Telegram-Kanälen, die vor Inkrafttreten der Militärzensur noch sehr kritisch mit dem Staat ins Gericht gingen, üben heute nur noch eine extrem vorsichtige Kritik am Vorgehen der Behörden. Und ich poste eigentlich auch gerne auf Instagram viel kritischen Content über die aktuelle Situation in Russland. Aber ich habe meinen Account von der Bindung an meine Handynummer und E-Mail-Adresse abgekoppelt, ihn auf „privat“ gestellt und Follower rausgeworfen, von denen ich vermute, dass sie mich denunzieren könnten. Auf Facebook werde ich auch nicht mehr schreiben. Man wird einfach zur Selbstzensur gezwungen. Eine Freundin von mir, die früher für The Village gearbeitet hat, arbeitet jetzt für Mediazona. Sie war immer schon ein sehr politischer Mensch und hat kritischen Journalismus als ihre Lebensaufgabe verstanden. Das ist einfach ihre Leidenschaft. Weil der unabhängige Journalismus jetzt tot ist, überlegt sie auszuwandern – obwohl sie eigentlich sehr an Russland hängt.

Es ist zurzeit davon die Rede, dass sich Russland vom globalen Internet abkoppeln und eine Art nationales Intranet errichten will – ähnlich wie China es bereits getan hat. Viele Domains sollen auf die Endung „.ru“ umgestellt werden. Kann daraus überhaupt etwas werden?

Davon habe ich auch schon gehört. Und natürlich habe ich Angst davor, dass es so weit kommen könnte. Aber es ist sehr schwer für den Staat, alles zu kontrollieren. Wir haben den „Signal“-Messenger, wir können unsere Freunde im Ausland kontaktieren, und es gibt auch genug Auslandsrussen, die uns informieren. Eine stärkere Internetzensur wird wohl der nächste Schritt sein, mit dem die Machthaber in Russland ihren Status festigen und die Propaganda unangreifbar machen wollen. Davor habe ich riesige Angst. Wenn es so weit kommen sollte, werde ich mir sofort ein Flugticket kaufen und am nächsten Tag das Land verlassen. In China ist es ja schon so, dass VPN-Server dort nicht mehr funktionieren. Ich kann aber nur wiederholen, wie schwer eine solche massive Internetzensur ist. Schließlich ist das Internet dezentral organisiert, die Prozessoren und Domains sind über ganz Russland verstreut. Sie müssten jeden einzelnen Prozessor überwachen und dessen Code ändern. Es wird also alles noch seine Zeit brauchen, zumal die vom Staat bezahlten Informatiker eh erst einmal damit beschäftigt sind, ukrainische und amerikanische Webseiten zu hacken. Und auch die Internetinfrastruktur des russischen Staates wird aktuell massiv unter Beschuss genommen, etwa durch das Hackernetzwerk Anonymous.

Es sterben aktuell viele russische Wehrpflichtige in der Ukraine, das Land steht kurz vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, und die Repressionen im Inneren nehmen immer weiter zu. Wie ist es überhaupt möglich, angesichts dieser Problemlage diese Krise zu überleben? Der Staat müsste jetzt doch an der Grenze seiner Kapazitäten sein.

Das Interessanteste an der ganzen Sache ist, dass Putin seine Funktionäre und Beamten über seine Angriffspläne nicht informiert hat. Im Föderationsrat und in der Regierung wusste niemand Bescheid. Alle dachten, es ginge nur um den Donbass. Der Telegram-Blogger Il’ja Krasil’ščik hat auf seinem Kanal mehrere Briefe von Beamten veröffentlicht, die über gar nichts Bescheid wussten und zu einem Krieg nicht bereit waren. Sie haben Angst und sie wissen nicht, wie sie mit der ganzen administrativen und juristischen Last zurechtkommen sollen. Dafür haben sie ihre Arbeitsverträge eigentlich nicht unterschrieben. Irgendwie tun sie mir sogar leid. Und auch die russischen Wehrpflichtigen in der Ukraine wurden dazu gedrängt, Verträge zu unterschreiben, in denen sie sich verpflichten, alle Verantwortung für die „Spezialoperation“ zu übernehmen. Sie haben damit ihr eigenes Todesurteil unterschrieben. Viele hoffen deswegen darauf, dass Putin von seinem eigenen Machtapparat gestürzt wird. Und theoretisch reicht schon ein Drittel der Stimmen im Föderationsrat für eine Absetzung Putins aus. Aber das ist praktisch sehr unwahrscheinlich, denn diese Leute verfolgen ja auch ihre eigenen Interessen. Sie wissen, dass auch sie vor Gericht müssen, wenn Putin fällt. Auch sie haben für diese faschistischen Gesetze gestimmt und dem Angriffskrieg den Weg bereitet.

Dabei ist zurzeit von Säuberungen innerhalb der russischen Armee die Rede. Schon acht Generäle sollen entlassen worden sein. Könnte das auch dem Verteidigungsminister Sergei Schoigu blühen?

Es ist ja wie früher mit Stalin. Damals sagte man, dass Stalin keinen einzigen Fehler gemacht habe. Es sei vielmehr sein Umfeld gewesen, das falsch gehandelt habe. Er habe nichts gewusst. Heute ist das ähnlich. Es gab schon das Gerücht, dass Schoigu einen Putsch gegen Putin geplant habe. Wir wissen aber nicht, ob er Putins Sündenbock werden wird. Vielleicht braucht ihn Putin ja noch für ein paar nette Fotos beim Jagen oder Angeln in Sibirien. Dann würde er vor Säuberungen verschont werden. Aber wie auch immer so ein Putsch gegen Putin aussehen würde – ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, was schlechter ist: eine Militärjunta oder das Putin-Regime. Eine irgendwie gesamtgesellschaftlich relevante Opposition gibt es in Russland seit Nawalnys Verhaftung gar nicht mehr. Der überwiegende Großteil der Studenten ist dem Staat gegenüber gar nicht kritisch eingestellt. Insgesamt ist die russische Opposition ein Witz.

Worauf stellen Sie sich in der nächsten Zeit ein?

Ich weiß nicht, wie ich durch die nächste Zeit kommen soll. Im Grunde bin ich ja schon traumatisiert. Schon als Kind habe ich davon geträumt, auszuwandern. Aber meine Eltern haben sich immer um mich Sorgen gemacht. Deswegen habe ich den größten Fehler meines Lebens gemacht und mich an der Universität in Moskau eingeschrieben. Ich dachte: So schlimm ist es ja noch nicht gekommen. Ich werde es schon im richtigen Moment schaffen, das Land zu verlassen. Alles wird in Ordnung sein, habe ich mir gesagt. Dabei hatte ich schon geahnt, dass etwas Schlimmes passieren würde. Und meine schlimmsten Befürchtungen sind wahrgeworden.

Gibt es psychologische Hilfsangebote für Russen, die an den Zuständen in ihrem Land verzweifeln?

Viele sagen mir, dass ich vielleicht besser zum Psychologen gehen und mir Hilfe holen sollte, um die Situation wenigstens mental ertragen zu können. Aber wie stellen Sie sich das vor – dann geht man einfach in Russland zum Psychologen, während in der Ukraine Menschen durch Bomben sterben? Und wie soll eine Wunde verheilen, wenn auf sie immer wieder eingeschlagen wird? Das ist unmöglich. Erst muss die Ursache für die Verletzung beseitigt werden, dann kann der Heilungsprozess beginnen.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

 

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