Krisenreport Europa - Polen: Kohlestrom und Zuckerkrise

Der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen des Westens schlagen auf Europa zurück. Inflation, Energieknappheit und Währungsschwäche sind nur einige Folgen, mit denen die EU-Staaten zu kämpfen haben. Doch wie ist die Stimmung in der Bevölkerung, und mit welchen Schwierigkeiten haben die einzelnen Länder konkret zu kämpfen? „Cicero” hat seine europäischen Korrespondenten gefragt, was sie derzeit in Europas Hauptstädten beobachten. Eine Sommerserie über einen kriselnden Kontinent. Teil 1: Polen.

Ansicht auf Warschau / dpa, Hermann
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Seit dem Untergang des Parteiregimes im Wendejahr 1989/90 hat es das in Polen nicht mehr gegeben: Zucker ist rationiert. Die deutsche Handelskette Aldi erlaubt nur fünf Kilo pro Kunde, die französische Konkurrenz von Carrefour immerhin zehn. Noch vor einem Monat kostete das Kilo im Durchschnitt 2,40 Zloty (0,50 Euro), mittlerweile ist es mehr als doppelt so viel. Aus den Regalen anderer Supermärkte ist Zucker ganz verschwunden, weil die Kunden en gros eingekauft haben, manche mehr als 100 Kilogramm, bevor die Geschäftsführungen die Rationierung verfügten.

Für die Kommentatoren der Warschauer Presse steht fest: Zucker als überteuerte Defizitware ist eine von vielen Folgen des russisch-ukrainischen Kriegs. Zum einen ist der Import von Zucker aus der Ukraine eingebrochen, so wie auch andere Agrarprodukte nicht mehr geliefert werden können; zum anderen veranlassen all die Prognosen über eine bevorstehende schwere Wirtschaftskrise als Folge des Krieges viele Menschen in Polen dazu, Vorräte anzulegen. Obst aller Art wird noch mehr als sonst eingeweckt, und auch die Produktion von Bimber, wie auf Polnisch selbstgebrannter Klarer auf der Basis von Weizen, Kartoffeln oder Obst heißt, verlangt große Mengen an Zucker. Bimber gilt seit Generationen als eine Art heimlicher Ersatzwährung in Krisenzeiten, eine Halbliterfalsche als begehrtes Tauschobjekt. Allerdings meinen Wirtschaftsanalysten, dass der Zuckermangel nur vorübergehend sei, die Zunahme der illegalen Schwarzbrennerei sei ein von den Medien aufgebauschtes Sommerlochthema, das mit der Realität wenig zu tun habe.

Unstreitig ist indes, dass eine Teuerungswelle für nahezu alle Verbrauchsgüter für viel Unmut in der Bevölkerung sorgt und auch der nationalpopulistischen Regierungspartei PiS zu schaffen macht. Für Butter und Milch, Gemüse und Obst, für Lebensmittel aller Art müssen die Polen nun viel tiefer in die Tasche greifen; der von den Statistikern definierte Warenkorb mit Grundnahrungsmitteln ist seit dem Frühjahr um fast ein Drittel teurer geworden. Hinzu kommen enorme Preissprünge für Strom, Gas und Benzin.

Die PiS schiebt die Preissteigerungen auf Putin

In den Medien kommen täglich besorgte Bürger zu Wort, die berichten, wie sie sparen müssen, beginnend beim Essen: Fleisch nur noch an Feiertagen, man werde nun wieder mehr Kaszanka essen, eine traditionelle Wurst, deren Füllung aus Buchweizengrütze und kleingemahlenen Innereien wie Lunge und Leber besteht, ein klassisches Arme-Leute-Essen. Doch Vertreter der Regierung nennen Berichte über die drohende Verarmung eines Teils der Gesellschaft Horrorgemälde der Opposition; man werde die wirtschaftspolitischen Folgen des Krieges für die Schichten mit geringem Einkommen durch finanzielle Zuschüsse abfedern.

Allerdings sehen Wirtschaftsexperten dafür keinen Spielraum mehr. Die PiS regiert dank ihrer Gießkannenpolitik seit sieben Jahren, Kernstück ist das Kindergeld von 500 Zloty (105 Euro) pro Monat, hinzu kamen die Absenkung des Rentenalters auf 60 Jahre sowie die 13. Monatsrente. Doch diese Staatsausgaben fachten die Inflation an, sie lag im Juni bei 16 Prozent, also doppelt so hoch wie in der Eurozone. Der von der PiS kontrollierte staatliche Fernsehkanal TVP macht dafür den Kreml verantwortlich, regierungsfreundliche Kommentatoren erfanden den Begriff „Putinflation“.

 

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Doch laut einer Umfrage der PiS-kritischen konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita sieht die Mehrheit in Premierminister Mateusz Morawiecki (PiS), einem früheren Bankenmanager, den Hauptverantwortlichen für Inflation und Preisschock. Morawiecki musste sich bei einer Bürgerdiskussion vorwerfen lassen, dass in den sieben PiS-Jahren der Preis eines Laibs Brot sich verdreifacht habe. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński vermeidet bei seiner diesjährigen Sommertour durch die Provinz vorsichtshalber Begegnungen mit unzufriedenen Wählern, er beschränkt sich auf Treffen hinter verschlossenen Türen mit Lokalpolitikern seiner Partei.

Auch der ehemalige Finanzminister Leszek Balcerowicz, der mit seinem seinerzeit zwar überaus umstrittenen, letztlich aber erfolgreichen Schockprogramm in den neunziger Jahren zum „Vater des polnischen Wirtschaftswunders“ wurde, wirft der Regierung vor, mit ihrer Ausgabenpolitik die Erfolge der früheren Jahre, als Polen zu den Aufsteigern in der EU gehörte, aufs Spiel zu setzen. Für die Wirtschaftspresse steht fest, dass die Regierung nicht um harte Schnitte bei den Sozialprogrammen umhinkomme. Dies spüren bereits mehrere Hunderttausend Ukrainerinnen, die mit ihren Kindern nach Polen geflüchtet sind: Seit Anfang Juli dürfen sie nicht mehr die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos benutzen, und für die Auszahlung von Sozialhilfe, wie sie Warschau mit Rückendeckung der EU angekündigt hat, sind hohe bürokratische Hürden zu überwinden. Auch werden mittlerweile immer mehr Stimmen laut, dass im Handel und in der Gastronomie Ukrainerinnen zum Lohndrücken eingesetzt werden, da für sie nicht in die Rentenkasse eingezahlt werden muss, sie also billiger sind als einheimische Arbeitskräfte. Schließlich hat die Unterbringung der Flüchtlinge in Privatquartieren, die vom Staat stark bezuschusst wird, die Mieten und Immobilienpreise stark ansteigen lassen.

Polen bezieht einen Großteil seines Erdgases über Deutschland

Dennoch hängen noch überall die blaugelben Fahnen als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Nach wie vor befürwortet die überwältigende Mehrheit der Polen den Kurs der Regierung, die nicht nur umfassende Hilfsprogramme für die Flüchtlinge aufgelegt hat, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch den Abwehrkampf der Ukrainer gegen die russischen Aggressoren politisch und militärisch bedingungslos unterstützt. Die Wiederkehr des russischen Imperiums, wie sie Putin anstrebt, wäre eine Horrorvorstellung für die Polen. Die Kommentatoren von links bis rechts sind sich indes auch einig, dass Putin diesen Krieg führt, weil die Deutschen mit ihrer naiven Ostpolitik ihm den Eindruck vermittelt hätten, sie nähmen seine imperialistischen Ambitionen hin, um die eigenen Geschäfte nicht zu gefährden.

Doch das Gefühl, dass sie mit ihrem Misstrauen gegenüber Putin in dieser geostrategischen Debatte Recht hatten, wird bei den polnischen Politikern mittlerweile von der Sorge überschattet, welche Folgen die von Angela Merkel und ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier grob fahrlässig in Kauf genommene Abhängigkeit Deutschlands vor allem von russischem Erdgas für die polnische Wirtschaft bedeutet. Denn die Polen beziehen einen Großteil ihres Erdgases auf dem Umweg über Deutschland. Für die polnische Industrie spielt es nur eine untergeordnete Rolle, aber namentlich in den Großstädten haben die meisten Häuser Gasheizungen. Immerhin haben die Polen trotz aller Pressionen von Seiten der deutschen Nachbarn den Kohlebergbau nur zum Teil abgewickelt und sogar auf den Ausbau der Kohlekraftwerke gesetzt. Denn sie haben nie Putin getraut. Die deutschen Planungen, in wenigen Jahren gleichzeitig auf Strom aus Atom- und Kohlekraftwerken, überdies bald danach auch auf Erdgas als Energiequelle zu verzichten, betrachtete man an der Weichsel ohnehin stets als Phantasterei.

Dass in der Bundesrepublik nun die Laufzeiten der Kohlekraftwerke verlängert werden, bedeutet allerdings für Polen ein weiteres Problem: Die Nachfrage steigt enorm, somit auch die Preise für Kohle. Namentlich die Landbevölkerung ist davon betroffen, denn sie heizt überwiegend traditionell mit Kohle. Die Regierung hat Beihilfen von bis zu 3000 Zloty (635 Euro) pro Haushalt für den kommenden Winter zugesagt, was indes die Inflation weiter anfachen dürfte. Nach Meinung polnischer Experten haben die Deutschen mit ihrer leichtsinnigen Energiepolitik den gesamten europäischen Strommarkt aus dem Gleichgewicht gebracht.

In Warschau nimmt man mit größter Sorge die Berliner Prognosen über eine drohende Rezession zur Kenntnis. Denn Deutschland ist mit Abstand der größte Außenhandelspartner der Exportnation Polen, die Probleme der Deutschen dürften auch hart deren Nachbarn treffen. Zu den Folgen des Kriegs in der Ukraine gehört auch, dass Umfragen zufolge das Ansehen der Deutschen nicht nur in Polen, sondern auch in den anderen ehemaligen Ostblockländern in der EU einen Tiefpunkt erreicht hat. Die Bundesrepublik hört offenkundig auf, ein Vorbild für sie zu sein.

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