Klaus Dieter Naumann über den Ukraine-Krieg - „Meine Einschätzung ist: Putin hat sich verzockt“

Seit einer Woche herrscht Krieg in der Ukraine. Klaus Dieter Naumann, General a. D. und ehemaliger Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, wirft im Gespräch einen Blick zurück in die Neunziger, als er maßgeblich an der Nato-Russland-Grundakte mitgearbeitet hat, erklärt, warum er die Gefahr eines Atomkrieges derzeit nicht sieht und warum er den Vorwurf der angeblichen Bedrohung Russlands durch die Nato lächerlich findet.

Ukrainische Soldaten inspizieren ein beschädigtes Militärfahrzeug nach Kämpfen in Charkiw / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Klaus Dieter Naumann ist ein deutscher General a.D. des Heeres der Bundeswehr. Naumann war von 1991 bis 1996 der 10. Generalinspekteur der Bundeswehr und von 1996 bis zu seiner Pensionierung 1999 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

Herr General Naumann, werfen wir zu Beginn einen Blick zurück. Wie groß war der Glaube, wie groß die Hoffnung in den Neunzigern, dass nach dem Kalten Krieg endlich eine lange Phase des Friedens und der Diplomatie in Europa beginnen würde?

Die Umbruchssituation in Russland war mit dem Ende des Kalten Krieges nicht abgeschlossen. Wir hatten damals trotzdem die Hoffnung, dass wir eine Situation erreichen könnten, in der wir uns zwar auf Sicherheit vor Russland weiterhin vorbereiten müssen, aber gleichzeitig die Hand ausgestreckt halten. Gelingen sollte das unter anderem durch Rüstungskontrollen, Abrüstungsbemühungen, vertrauensbildende Maßnahmen und sehr viel Offenheit und Transparenz gegenüber Russland. Das Ziel war, eine Festigung zu erreichen, die einen Rückfall in Konfrontation verhindern sollte. Dementsprechend haben wir Vorschläge gemacht und Vereinbarungen mit Russland erreicht.

Haben wir – nur ein Gedanke – vielleicht unterschätzt, dass der Kalte Krieg unter der diplomatischen Oberfläche all die Jahre nur pausierte?

Es gab immer große Schwierigkeiten, ein Vertrauensverhältnis zwischen der Nato und dem russischen Generalstab herzustellen. Das Bild des russischen Generalstabs, dass die Nato ein Feind sei, war bis zum Ende meiner aktiven Dienstzeit in Russland immer wieder erkennbar. Ein Beispiel: Als ich als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses einmal auf offiziellem Besuch in Russland war und die russische Kriegsakademie besuchte, musste ich feststellen, dass dort in taktischen Übungen immer noch mit Nato-Kräften als Feind gearbeitet wurde. Das sind Dinge, die wir im Westen abgestellt hatten. Wir haben damals bei Übungen bewusst nicht mehr von „roten Kräften“ gesprochen oder russische Truppenbezeichnungen genutzt. 

Salopp formuliert: Wir haben den Kalten Krieg einseitig beendet?

Nein, nicht völlig einseitig. Es ist damals – etwa im Zuge der ersten Nato-Russland-Grundakte 1997, an der ich mitarbeiten durfte (offiziell „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nato und der Russischen Föderation“ – Anm. d. Red.) – durchaus vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den russischen Vertretern entstanden. Dadurch wuchsen auch hoffnungsvolle Ansätze für echte Zusammenarbeit. Als wir dann in den Kosovo-Konflikt hineingingen, war das anfangs noch von der Hoffnung geprägt, dass Russland die klare Verletzung der Menschenrechte im Kosovo durch Milošević als wichtiger ansehen würde, als die schützende Hand über die serbisch-orthodoxe Bruderschaft zu halten. Aber diese Hoffnung zerbrach letztlich über Kosovo.

Sie sprachen eben von der Nato-Russland-Grundakte. Wären Sie so freundlich, unseren Lesern, die vielleicht nicht sehr im Thema drin sind, kurz zu erklären, was dahintersteckte?

Die Idee war, dass wir im Gegenzug für die Nato-Osterweiterung durch die drei Staaten Polen, Ungarn und Tschechien wiederum Russland etwas anbieten wollten, das sie als Kompensation sehen konnten im Sinne der Bemühungen um eine gemeinsame Sicherheit. An dieser Stelle möchte ich übrigens feststellen: Die erste Nato-Osterweiterung haben wir mit dem Wissen Russlands gemacht, nicht gegen Russland. Um Russlands Sicherheitsbedürfnisse zu berücksichtigen, haben wir damals – zusätzlich zu der immer bestehenden Erklärung, dass die Nato niemals eine ihrer Waffen als erster einsetzen würde – Russland angeboten, keine substanziellen Kampftruppen in den drei neuen Bündnismitgliedern zu stationieren, keine Atomwaffen dort zu stationieren und keine dauerhafte Stationierung von Nato-Truppen dort vorzunehmen. Ich habe das in Moskau im Detail erläutert. Es wird jetzt von Russland immer wieder gesagt – vor allem von diesem notorischen Lügner Lawrow –, dass Russland betrogen worden wäre. Das stimmt nicht. Es ist Russland nie versichert worden, dass es keine Nato-Osterweiterung geben würde.

Gleichwohl ist das eine Erzählung, ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Warum?

Woher dieser Mythos kommt, ist mir im Grunde nicht erklärlich. Selbst die noch lebenden Hauptzeitzeugen – meine Rolle bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war ja eher eine untergeordnete – haben bereits mehrfach betont, dass es eine solche Zusage nie gegeben hat. Mein Freund Horst Teltschik (enger Vertrauter Helmut Kohls im Bundeskanzleramt – Anm. d. Red.) hat erst vor wenigen Tagen klar gesagt, dass es eine solche Zusage nie gegeben hat. Auch der frühere US-Außenminister James Baker hat das öffentlich mehrfach wiederholt. Sogar Michail Gorbatschow hat gesagt: „Nein, wir haben darüber nicht gesprochen.“ Und eines dürfen Sie darüber hinaus nicht vergessen ...

Bitte.

... wir sind im März 1990 in diese Zwei-plus-Vier-Gespräche mit der damaligen Wirklichkeit gegangen, dass die Sowjetunion und der Warschauer Pakt existierten. Wir konnten zu dem Zeitpunkt nicht damit rechnen, dass die Sowjetunion ein Jahr später zerfallen würde. Auch nur daran zu denken, dass Polen irgendwann Mitglied der Nato werden könnte, wäre damals absurd gewesen. Übrigens war die Nato anfangs gegen eine Osterweiterung, vor allem die Amerikaner. Das Drängen kam von Polen, Ungarn und Tschechien, die aus einem Grund in die Nato wollten, den ich gut verstehen kann. Sie wollten in die Nato, weil sie Schutz wollten vor dem, was sie in ihrer Vergangenheit als unangenehme Bedrohung empfunden haben: Russland.
 

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Russland hat in den vergangenen Jahren militärisch wieder deutlich aufgerüstet. Parallel wurde hierzulande die Wehrpflicht ausgesetzt, und bei der Bundeswehr standen die Zeichen lange auf Sparen und Haushalten. War Deutschland, was die eigenen verteidigungspolitischen Interessen betrifft, in den vergangenen Jahren zu naiv?

Ich meine schon, dass wir das insgesamt so sagen müssen. Als Insider kann ich nur bis 1996 sprechen, bevor ich (als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses) nach Brüssel gegangen bin. Bis 1996 jedenfalls haben wir durchaus eine Bundeswehr am Leben gehalten, die in der Lage gewesen wäre, das Staatsgebiet Deutschlands zusammen mit unseren Bündnispartnern zu verteidigen. Als ich mein Amt als Generalinspekteur aufgab, hatten wir 14 Divisionen des Heeres. Die waren die nicht alle auf Knopfdruck einsatzbereit. Wir hätten sie aber mit einer gewissen Vorlaufzeit einsatzbereit machen können. Wir waren auch entsprechend bevorratet mit Munition, Treibstoff und allem anderen, das man für einen Einsatz braucht. Und wir hatten noch eine gewisse territoriale Grundorganisation, die eben zum Heimatschutz befähigt war. Heute hofft das Heer, bis 2032 wieder drei Divisionen verfügbar zu machen.

Was befürchteten Sie damals?

Das alles war noch da, weil wir – bei allem Willen zur Zusammenarbeit mit Russland – sagten, diese Prozesse, die im Osten ablaufen, sind fluid. Dass es einen Rückfall geben könnte, auf den wir vorbereitet sein müssen, das haben wir durchaus als denkbar erachtet. Nach dem Amtsantritt Gerhard Schröders und in den 16 Jahren von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist Sicherheit vernachlässigt worden. Das kann man nicht anders sagen. Die Trendwende nach der Krim-Annexion war richtig, wurde aber zu langsam umgesetzt.

Über die Bundeswehr liest man immer wieder, dass irgendwelche Gerätschaften nicht funktionieren, dass es an der richtigen Ausrüstung mangelt, bis hin zu langen Unterhosen: Wie dramatisch ist die Situation heute bei der Bundeswehr?

Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich mich hier eines klaren Urteils enthalte. Ich habe mich in meiner ganzen Zeit nach meiner Pensionierung nie öffentlich zum Zustand der Bundeswehr geäußert, weil ich in meiner Amtszeit erlebt habe, dass die Äußerungen von pensionierten Generalen oftmals nicht zielführend sind, manchmal auch von nicht ausreichender Sachkenntnis getrübt waren. Ich kann Ihnen deswegen kein wirklich fundiertes Urteil über den Zustand der Bundeswehr geben. Aber ich nehme das, was ich höre von Vertretern der Bundeswehr, schon sehr ernst. Und demnach zu urteilen, fehlt es der Bundeswehr hinten und vorne.

Was meinen Sie?

Der Grundsatz, dem wir damals folgten, „Train as you fight“ – „Übe, wie du kämpfen wirst“ –, der ist vernachlässigt worden. Es kann nicht sein, dass ein Brigadekommandeur endlose Telefongespräche führen muss, um eine Übung zustande zu kriegen, weil er sich Geräte und sonst was ausleihen muss. Das ist ein Zustand, der hanebüchen ist und nicht sein darf.

Welche politischen Rahmenbedingungen müssten denn geschaffen werden, um es der Bundeswehr einfacher zu machen?

Zunächst einmal muss man sagen, dass die Politik entscheidet über die Aufgaben der Bundeswehr und dann auf Vorschlag der Militärs über die entsprechende Organisation, Ausrüstung und Bewaffnung. Wenn diese Pläne von der Politik gebilligt werden, muss sie dafür auch die nötigen Ressourcen schaffen. Tut sie das nicht, dann geht die Politik ein Risiko für unser Land ein, das bei einer Parlamentsarmee das Parlament zu verantworten hat. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu.

Bitte.

Das kann nur erfolgreich sein – und die Politik kann dieser Linie nur folgen –, wenn die Mehrheit des deutschen Volkes hinter der Verteidigung steht. Hier ist in letzter Zeit etliches ganz erheblich schiefgegangen, weil wir uns als Bürger dieses Landes der Illusion hingegeben haben, es werde schon alles irgendwie gut gehen. Selbst Einsatz war Nebensache. Es hat zum Beispiel fünf Jahre gedauert, bis die Bundeskanzlerin das erste Mal eine Regierungserklärung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr abgegeben hat. Da ist zu viel vernachlässigt worden. Friedrich Merz zitierte kürzlich in einer Rede einen Ihrer Kollegen, Stefan Kornelius (Süddeutsche Zeitung), wenn ich mich richtig erinnere: „Wenn der Wille des Landes, sich zu schützen, nicht da ist, dann werden Mängel zur Schwäche.“ Und in dem Zustand sind wir heute.

Welche sicherheitspolitische Perspektive müssen wir im Westen denn schaffen?

Wir müssen uns, glaube ich, dazu bekennen, dass ein souveräner Staat auch in der Lage sein muss – sowohl aus eigenen Kräften, als auch mit der Hilfe von Bündnispartnern –, seine Integrität und Souveränität zu schützen. Gegen welche Gefahren auch immer, die in Zukunft wohl andere sein werden als jene, die wir gegenwärtig auf dem Boden und in der Luft der Ukraine sehen. Wir sollten zusätzlich zu dieser Sicherheitsvorsorge natürlich versuchen, Vereinbarungen mit denkbaren Opponenten zu treffen, die dann überprüfbare Stabilität bewirken, um so langfristig den Einsatz von Waffen unwahrscheinlich zu machen. Dazu muss man Vereinbarungen anstreben, die sowohl die Kontrollen von Waffensystementwicklungen als auch Abrüstung enthalten. Sicherheit auf der Grundlage von Stärke und Dialog ist auch für die Zukunft das Rezept.

Blicken wir in die Ukraine: Haben Sie damit gerechnet, dass das russische Säbelrasseln von vor zwei, drei Wochen in einen solchen Krieg münden würde, wie wir ihn derzeit sehen?

Ich habe seit Anfang Januar immer wieder gesagt, dass diese Konzentration russischer Truppen an der ukrainischen Grenze zu einer bewaffneten Aktion in der Ukraine führen wird. Ich dachte allerdings, dass diese auf die Separatistengebiete begrenzt werden würde. Ich habe also nicht damit gerechnet, dass Putin einen umfassenden Angriff auf die Ukraine plant.

Zeitweise sah es ja eher danach aus, als würde Russland Truppen wieder abziehen.

Die Story, die von Russland verbreitet wurde, dass diese kleinen Bewegungen ein Truppenabzug seien, das habe ich wirklich nie geglaubt. Das war nur ein Austausch von Truppen, die zu lange irgendwo im Feld waren. Auch die Story, dass Russland bereit sei, einzulenken, habe ich nicht glauben können. Schon deshalb, weil Russland zuvor absurde Forderungen an die Nato und die Ukraine gestellt hat, die ja praktisch eine Rückkehr zur Teilung Europas wie 1945 in Jalta vereinbart bedeutet hätten. Wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, muss anschließend etwas tun, um das Gesicht zu wahren. Aber dass Russland so weit gehen würde wie jetzt und wieder einen Krieg nach den alten Mustern von Grosny und Damaskus führen würde, dass wieder Kriegsverbrechen gegen Zivilisten begangen werden, das hätte ich nicht gedacht.

Inwiefern erkennen Sie in Putins Vorgehen denn eine typische Strategie?

Ich bin im Grunde überrascht, dass sie so traditionell vorgehen, wie sie vorgegangen sind. Ich hätte sogar noch mit Schlimmerem gerechnet. Aber das führe ich jetzt nicht aus, um ihnen keine Blaupause für das nächste Mal zu liefern.

Verständlich. Putin schwebte wohl so eine Art Blitzkrieg vor. Das scheint ihm aber nicht gelungen zu sein. Wie bewerten Sie das?  

Hier kann ich nur mutmaßen. Der Angriff ist ins Stocken geraten, vor allem wegen des harten Widerstands der Ukrainer. Ich denke zudem, dass Putins Annahme schon war, dass die Ukrainer die vorrückenden russischen Truppen sozusagen als Brüder empfangen würden. Dass er mit einem derart starken Widerstand des ganzen Volkes gerechnet hat, das glaube ich nicht. Und die Ukrainer kämpfen wirklich in bewundernswerter Tapferkeit gegen eine weit überlegene Truppe.

Was scheint Ihnen denn aus Putin-Perspektive sozusagen jetzt naheliegend, nachdem der Vorstoß seiner Truppen auch ein bisschen ins Stocken gekommen ist?

Putin hat noch weitere Kräfte. Die wird er erst einmal einführen und versuchen, zumindest Kiew so weit zu umzingeln, dass die Regierung aufgeben oder ins Exil gehen muss. Er scheint dort eine Marionettenregierung einsetzen zu wollen. Außerdem will er wohl im Süden die Ukraine vom Meer abschneiden. Ob er damit den Widerstandswillen der Ukraine insgesamt brechen kann? Da habe ich große Zweifel. Ich glaube nicht, dass seine Kräfte ausreichen, um die Ukraine insgesamt zu besetzen und besetzt zu halten.

Generalinspekteur Naumann (r.) mit Bundespräsident Roman Herzog (m.) 1995 / dpa 

Mit was müsste Putin dann rechnen?

Er müsste sich dann auf einen lang andauernden Guerillakrieg einstellen. Dafür gibt es das in Deutschland weitgehend vergessene Beispiel der baltischen Staaten, die 1945 bekanntlich in die Hände der Sowjetunion fielen, aber dann zum Teil bis 1957 einen sehr blutigen und harten Widerstandskampf geleistet haben. Auch in der Ukraine hat es nach 1945 jahrelang Kämpfe gegen die Sowjetunion gegeben. Ich hoffe daher, dass Putin klug genug ist, eine Lösung zu suchen, die ihn nicht zum ständigen Ausbluten seiner eigenen Streitkräfte bringt und die ihn nicht zum Paria der Weltöffentlichkeit macht. Er ist ja schon sehr dicht davor, die Abstimmung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, an deren Ergebnis unsere Außenministerin hohen Anteil haben dürfte und Respekt verdient, spricht doch Bände. Was ich nicht ausschließen kann, ist, dass die russische Armee in den nächsten Phasen, die vor uns stehen, wieder wie in Grosny vorgeht, dass es nämlich zu einer hemmungslosen Bombardierung kommt, die nicht einmal Rücksicht auf das Rote Kreuz nimmt.

Am Wochenende hat die Bundesregierung nach langem Hin und Her beschlossen, nicht nur die Lieferung von Panzerabwehrwaffen durch die Niederlande zuzulassen, sondern auch selbst Waffen an die Ukraine zu liefern. Hat Deutschland zu lange gezögert?

Eindeutig ja. Ich habe die Argumentation nie so richtig verstanden. Ich halte auch wenig davon, dass man eine große Unterscheidung zwischen Angriffs- und Defensivwaffen macht. Schauen Sie, als ich kommandierender General des 1. Korps war, hatte ich fast 2000 Kampfpanzer unter meinem Kommando. Aber wir hatten niemals vor, damit anzugreifen, sondern nutzten den Panzer als Verteidigungswaffe. Sie können jede Waffe im Angriff oder in der Verteidigung einsetzen. Das hängt von der Struktur der Streitkräfte, von der Logistik, von der Ausbildung der Truppe ab. Vor allem aber von dem operativen Konzept und den politischen Absichten, die hinter dem Einsatz der Streitkräfte stehen.

Muss Deutschland noch mehr tun, um die Ukraine im Kampf gegen die russischen Invasoren zu unterstützen? Und wenn ja, was würde Ihnen da vorschweben?  

Ich zerbreche mir wirklich seit Tagen den Kopf, was man tun könnte, um den unnötig leidenden Menschen in der Ukraine irgendwie zu helfen. Ich weiß keine zwingende Lösung – und eine militärische Lösung gibt es sowieso nicht. Denn wir haben klipp und klar gesagt, dass die Nato nicht in der Ukraine kämpfen wird. Das einzige, was wir jetzt militärisch tun können, ist das, was gerade geschieht: Die Verstärkung unserer Streitkräfte an der Ostgrenze des Nato-Vertragsgebiets, um damit deutlich zu machen, dass ein Angriff auf eines der Nato-Länder ein Angriff auf uns alle wäre. Und wir mit der geballten Macht der Nato zurückschlagen würden. 

Wäre es im Sinne der Deeskalation möglich, eine Erklärung abzugeben, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten wird?

Eine solche Erklärung abzugeben, ist einzig und allein Sache der Ukraine. Von außen zu erklären, dass die Ukraine niemals Mitglied werden kann, wäre ein Verstoß gegen alle Vereinbarungen, die wir nach 1990 mit Russland abgeschlossen haben. Das fängt sogar schon mit der Schlussakte von Helsinki von 1976 an, in der die Möglichkeit jedes Staates festgehalten wurde – mit der Zustimmung der Sowjetunion übrigens –, frei zu entscheiden, wem er zugehören möchte. Das wurde in der Charta von Paris 1990 noch einmal bekräftigt, mit Zustimmung Russlands. Das wurde nochmal bekräftigt im Budapester Memorandum von 1994, mit dem die Ukraine ihre Atomwaffen abgegeben hat und im Gegenzug von Russland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten eine Garantie ihrer nationalen Souveränität und ihrer territorialen Integrität erhielt. Auch in der Nato-Russland-Grundakte ist das Recht auf freie Bündniswahl festgehalten. Und dann gab es später noch eine gleichlautende Vereinbarung in Istanbul, in dem wieder das Recht auf freie Bündniswahl enthalten war. Dieses Recht ist also ein nicht verhandelbares Grundprinzip europäischer Sicherheit.

Eine Eilmeldung, die jüngst viele Menschen auch hierzulande verunsichert hat, war, dass Putin seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt habe. Wären Sie vielleicht so freundlich, mal zu erläutern, was das konkret bedeutet?

Soweit ich weiß, hat Russland vier unterschiedliche Bereitschaftsstufen der Atomstreitkräfte. Und Putin hat von Stufe 1, dem Friedenszustand, auf Stufe 2 erhöht. Das heißt aber nicht, dass die Gefechtsköpfe bereits auf Trägerwaffen montiert sind. Was man bei Nuklearwaffen außerdem sehen muss, ist, dass es sehr gesicherte Freigabeverfahren gibt. Die Freigabe bei amerikanischen Nuklearwaffen erfolgt durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Das ist ein Sicherheitsverfahren, das immer voraussetzt, dass zwei Entscheidungsträger den sogenannten „Football“, den Koffer, mitnehmen, in dem die Atomschlüsselverfahren enthalten sind. Beide müssen gleichzeitig autorisieren. In Russland, soweit ich das damals wusste, waren es drei Koffer, die dafür nötig waren. Ob das heute noch so ist, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.

Sie sehen die Gefahr eines Nuklearangriffs durch Russland also nicht?

Ich denke nicht, dass wir an der Schwelle eines Atomkrieges stehen. Und ich hoffe, dass so viel Rationalität bei Präsident Putin vorhanden ist, dass er diesen Schritt des kompletten Wahnsinns nicht geht. Er muss wissen: Auf einen russischen Atomwaffeneinsatz auf Nato-Staaten folgt ein Atomwaffeneinsatz auf russisches Territorium. Ob er das Risiko eingehen will? Ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen.

Was bringt Sie dazu?

Alle Aktionen, die ich von Putin bisher gesehen habe, waren gekennzeichnet von einem gewissen Wagemut, aber immer gepaart mit einer Risikoabschätzung, mit der er sicher annehmen konnte, dass die Reaktion, die dann folgen könnte, für ihn tragbar sein wird. Einen Atomwaffeneinsatz auf russischem Boden kann auch für ihn nicht mehr tragbar sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser große nukleare Krieg, dass dieses Armageddon irgendwer auslöst. Denn das ist jenseits aller Rationalität. Ich glaube zwar, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist, aber ich halte ihn nicht für irrsinnig. 

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die größere militärische Durchschlagskraft einer Kriegspartei nicht zwangsläufig dazu führt, dass sie den Krieg auch gewinnt. Jetzt lässt sich die Ukraine natürlich nicht mit Afghanistan oder Vietnam vergleichen, wo es schon des Geländes wegen Vorteile für den David gegen den Goliath gab. Aber wo sehen Sie denn derzeit die zentralen militärischen Vorteile der Ukraine in dem Konflikt? 

Ich bin immer sehr behutsam mit solchen Vergleichen. Natürlich sind in Vietnam und Afghanistan zweimal die Vereinigten Staaten als Goliath vom David besiegt worden. Im Fall Afghanistans waren wir als Hilfs-Goliath sogar dabei. Ob das für die Ukraine anwendbar ist, dessen bin ich mir nicht sicher. Ich rechne schon damit, dass Putin, wenn er wirklich versuchen sollte, die Ukraine zu besetzen und ein Marionettenregime einzusetzen, dass er dann mit bewaffnetem Widerstand im Land rechnen muss. Wir sprechen ja vom zweitgrößten Flächenland Europas …

… und von einer Stadt wie Kiew mit über drei Millionen Einwohnern.

Ich halte das für ausgesprochen wagemutig, wenn er das machen will. Denn das würde für lange Zeit Russland zu einem Faktor der Instabilität und der Unberechenbarkeit machen. Wir sollten nicht übersehen: Natürlich, die Sanktionen, die jetzt verhängt worden sind, wirken nicht sofort, aber langfristig wirken sie erheblich. Es sind ja noch weitere Sanktionen möglich. Als ein Land, das im Grunde nur Rohstoffe exportieren kann und Waffen, würde Russland in seinen Möglichkeiten langfristig erheblich eingeschränkt. Und wenn Putin dann noch eine ständig Geld und Menschen verschlingende Unruhequelle im eigenen südlichen Unterleib hat: Das kann er nicht wollen, wenn er das Interesse seines Landes, ein geachteter Spieler auf der Weltbühne zu sein, wirklich im Auge hat.

Und wo sehen Sie dann im Gegenzug die zentralen Nachteile der Ukraine?

Der zentrale Nachteil der Ukraine ist ihre militärische Unterlegenheit und die Verwundbarkeit des Landes, vor allem seiner Menschen. Im übrigen, in Ihrer David-Goliath-Analogie sollten wir nicht vergessen: David hatte durchaus Verbündete, zum einen China, zum anderen Pakistan.

Was will Putin denn?

Meine Einschätzung ist: Er hat sich verzockt. Er hat mit seinem Vertragsentwurf vom Dezember eine Forderung gestellt, von der er wissen musste, dass sie nicht erfüllbar ist. Oder er lebt in einer Welt, die er sich selbst gezimmert hat. Ich glaube, es gibt keinen ernstzunehmenden Historiker, der seinen Aufsatz über die Nicht-Staatlichkeit der Ukraine unterschreiben würde. Und das gleiche Hirngespinst hat er sich aufgebaut mit der angeblichen Bedrohung durch die Nato und den Betrug Russlands nach dem Ende des Kalten Krieges. Das sind Hirngespinste, die den Wirklichkeiten nicht standhalten. Glaubt Putin wirklich ernsthaft, dass die zehn gegen iranische Raketen gerichteten Raketenabwehrsysteme, die in Rumänien stationiert sind und die noch nicht mal einen Sprengkopf haben, sondern die darauf ausgelegt sind, durch Aufprall einer Rakete auf eine anfliegende Rakete zu wirken, dass die Russland mit seinen mehr als 2000 Raketen bedrohen würden? Das ist doch lächerlich.

Von einer Bedrohung Russlands durch die Nato kann keine Rede sein?

Da ist nichts dran. Nehmen Sie die empfindlichste Stelle des Nato-Vertragsgebiets, also die baltischen Staaten. In diesen kleinen Staaten ist jeweils – über den Daumen gepeilt – vorübergehend eine Nato-Brigade stationiert. Allein in der russischen Oblast Kaliningrad stehen demgegenüber 30.000 russische Soldaten. Und da lasse ich noch völlig außer Acht, was in den westlichen Grenzgebieten der russischen Föderation und in Belarus stationiert ist. Diese minimalen Nato-Kräfte, von denen ich eben sprach, haben eine Stolperdraht-Funktion. Kann man denn wirklich annehmen, dass diese Kräfte eine Bedrohung Russlands darstellen? Wer das behauptet, hat den Generalstabslehrgang nicht bestanden.    

Letzte Frage: Die Ukrainer stellen sich, Sie hatten es angesprochen, derzeit tapfer gegen den russischen Überfall. Wäre es denn naiv, zu hoffen, dass der unbedingte Wille der Ukrainer über die militärische Großmacht Russlands obsiegen könnte?

Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Und ich hoffe schon, dass die Ukraine als souveräner Staat erhalten bleibt. Welche Sicherheitsarrangements es am Ende dieses Krieges für die Ukraine geben wird, da begibt man sich im Moment in den Bereich der Spekulation. Aber in mir sträubt sich derzeit alles dagegen, dass ein Aggressor, der alles internationale Recht bricht und das humanitäre Völkerrecht mit Füßen tritt, dass dieser Aggressor am Ende als der Erfolgreiche dastehen könnte. Ich hoffe, dass das nicht passiert. Und ich hoffe auch, dass die Welt insgesamt ein gerechtes Urteil spricht. Zudem habe ich die Hoffnung, dass die Volksrepublik China – die den Anspruch erhebt, für eine neue Weltordnung zu stehen, die immer als Mantra vor sich hergetragen hat, sie wolle die Souveränität aller Staaten und die Integrität aller Staaten achten und schützen –, dass dieses China endlich aufwacht und begreift, dass auf Unrecht keine neue Ordnung entstehen kann und dass ihr Partner Russland sich als brutaler Rechtsbrecher und verbrecherischer Aggressor entlarvt hat.

Das Gespräch führte Ben Krischke.

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