Joachim Gauck zu Alexej Nawalny - „Unbeirrbarkeit und ungeheurer Mut“

Alexej Nawalnys Tod wurde jetzt offiziell bestätigt. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck würdigt Russlands wichtigsten Oppositionspolitiker als eine Ikone „aller anständigen“ Russen.

Alexej Nawalny im Februar 2020 / dpa
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Joachim Gauck (Foto dpa) war von 2012 bis 2017 der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

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Der folgende Beitrag ist die Laudatio des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck aus Anlass der Verleihung des Europapreises für politische Kultur der Hans-Ringier-Stiftung an Alexej Nawalny. Der Preis wurde von Nawalnys Frau Julija Nawalnaja entgegengenommen. Die Preisverleihung fand im Rahmen des „Dîner républicain“ von Frank A. Meyer am 5. August 2023 in Ascona statt.

Ich begrüße den Preis für Alexej Nawalny auch deshalb, weil Menschen wie er die zweite Front gegen die autoritäre, neo-imperialistische Herrschaft Putins bilden. Den mächtigsten Schlag versetzen zurzeit die Ukrainer. Seit nahezu anderthalb Jahren verteidigen sie ihre Souveränität und Freiheit mit einer bewundernswerten Ausdauer und einem durch nichts zu erschütternden Mut. Sie wissen: Unter russischer Herrschaft sollen sie ihrer Geschichte, ihrer Sprache, ihrer Kultur, also ihrer Identität beraubt werden, so wie es bereits in den von Russland okkupierten Gebieten geschieht. Das expansionistische Russland zu schwächen, zurückzudrängen und letztlich zu schlagen, ist daher die unerlässliche Voraussetzung, um die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation zu sichern.

Der Kampf gegen die autoritäre Kreml-Herrschaft wird aber auch von Russen selbst geführt – von jenen, die zum anderen Russland gehören. Wir hören Stimmen wie die von Viktor Jerofejew und anderen Künstlerinnen und Intellektuellen im Exil oder auch aus dem litauischen Wilna, wohin ein Teil des Teams von Alexej Nawalny geflohen ist. Oder aus Berlin, wo kürzlich eine Filiale von Memorial gegründet wurde. Oder aus London, wo Michail Chodorkowski ein Domizil gefunden hat. Wir hören solche Stimmen aber auch aus Russland selbst, obwohl dort schon das kleinste Aufbegehren zu Festnahmen, Anklagen und teilweise drastischen Strafen führt. Noch aus Lagern und Gerichtssälen dringen die politischen Botschaften der ungebrochenen Angeklagten an die Öffentlichkeit, wie etwa vom 41-jährigen Wladimir Kara-Mursa, der im April 2023 zu 25 Jahren Haft wegen angeblichen Hochverrats verurteilt wurde. Oder vom Kreml-Kritiker Ilja Jaschin, der zu achteinhalb Jahren verurteilt wurde, weil er über die russischen Gräueltaten im besetzten Butscha berichtet hatte.

Schlimmste Zeit des Stalinismus

Oder eben von Alexej Nawalny, dem bekanntesten und lautstärksten und wirkmächtigsten Kritiker des Putin-Regimes. Der, wir wissen es alle, wegen angeblichem Extremismus von einer hörigen, verkommenen Justiz zu insgesamt 19 Jahren Haft verurteilt worden ist – abzusitzen in einer Strafkolonie unter verschärften Bedingungen. Und diese sind derart unmenschlich, dass ich sie hier gar nicht vortragen möchte. Sie erinnern uns an die schlimmste Zeit des Stalinismus. Es geht unter Putin wie einst zu KGB-Zeiten wieder um Vernichtung derer, die sich der absoluten Macht nicht beugen wollen. Es geht darum, sie physisch und psychisch zu brechen. Solange Putin an der Macht ist, ist es nur schwer vorstellbar, dass Alexej Nawalny freikommt. Dieser Mann ist Putins Angstgegner. Er ist eine Ikone der Putin-kritischen Opposition, der anständigen Russen.

Als Jurist und Blogger trat Nawalny zunächst auf, als Anwalt der russischen Mittelschicht, die auf dem Aktienmarkt ihr Geld an die Korruption verlor. Dann deckte er mithilfe des Internets die Veruntreuung von Staatsgeldern in großem Stil auf. Seine 2011 als Nichtregierungsorganisation gegründete Stiftung landete ihren größten Coup mit einem Video über die pompöse Privatresidenz von Putin am Schwarzen Meer auf einem Grundstück, in dem 39 Fürstentümer von Monaco Platz finden könnten. Das Video erreichte mehr als 120 Millionen Klicks.

Auch als Politiker hat Alexej Nawalny versucht, in der russischen Gesellschaft aktiv zu werden. 2013 kandidierte er zur Bürgermeisterwahl in Moskau und erreichte über 27 Prozent der Stimmen. 2017 trat er als Putins Gegenkandidat zur Präsidentschaftswahl im April 2018 an, wurde allerdings wenige Monate vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission ausgeschlossen.

Wichtiger als ein fest umrissenes Programm war es ihm immer, möglichst viele verschiedene Strömungen zusammenzuführen, wenn sie denn gegen die Regierungspartei Einiges Russland gerichtet waren. Nach Putin kann sich Nawalny sein Land nur als parlamentarische Republik vorstellen – mit Rechtsstaatlichkeit, mit Gewaltenteilung und Pluralismus. Ohne den, wie er schreibt, imperialen Autoritarismus, der die Bürger im eigenen Land terrorisiert und die Länder außerhalb in ihrer Existenz bedroht. Nur ein demokratisches Russland werde Frieden schaffen. Und ein demokratisches Russland müsse die Grenzen der Ukraine so akzeptieren, wie sie beim Zerfall der Sowjetunion 1991 vereinbart worden sind.

Gegenpol zum Kreml-Herrscher

Nawalny ist der Gegenpol zum Kreml-Herrscher. Das erste Mal wurde er 2011 verhaftet, weil er gegen Fälschungen bei den Parlamentswahlen protestiert hatte. Er kam 15 Tage in Haft. 2013 erhielt er wegen angeblicher Unterschlagung fünf Jahre Haft auf Bewährung, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht auf ein faires Verfahren verletzt sah. Im Laufe der Zeit wurden die Strafen und Schikanen immer drakonischer. 2017 schütteten ihm unbekannte Täter eine Säureflüssigkeit ins Gesicht. Er konnte sein verletztes rechtes Auge nur durch eine Operation in einer spanischen Spezialklinik retten. Und – wir erinnern uns mit Schrecken daran – er entging dem Tod nur knapp, weil er nach einem hinterhältigen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok ins künstliche Koma versetzt und zur Behandlung an der Berliner Charité ausgeflogen wurde. 

Im Exil zu bleiben, kam für ihn nach der Gesundung allerdings nicht in Frage. Auch wenn er wusste, dass er für seine Rückkehr einen wahrlich hohen Preis bezahlen müsste. Kaum angekommen, wurde er noch auf dem Flughafen verhaftet. Was er auf dem Rückflug angesichts der zu erwartenden Repressionen empfunden hat, das wissen wir nicht. Solche existenziellen Situationen betreffen den Kern einer Identität. Sie lassen jede Kommentierung von außen als übergriffig erscheinen. Aber wir erinnern uns deutlich an das Bild, wie dieses wieder und wieder verfolgte Individuum Alexej Nawalny kostbare Momente menschlicher Nähe erlebt, als seine Frau ihn ins Flugzeug begleitet. Beide wissen, dass er sehr bald Erniedrigung und Einsamkeit erfahren wird.

Gewonnen durch seine Unbeirrbarkeit

Und Sie, liebe Frau Nawalnaja, Sie wissen nicht, wann und wie Ihrer beider Hände einander wieder finden werden. Für Ihren Mann stand aber offensichtlich unerschütterlich fest: Wer etwas verändern will, der muss am Ort des Geschehens sein, und sei es hinter streng bewachten Mauern von Gefängnissen und Straflagern. Alexej Nawalny hat durch seine Entscheidung nicht verloren, sondern in den Augen all jener Landsleute gewonnen, die noch Gut und Böse zu unterscheiden vermögen. Gewonnen durch seine Unbeirrbarkeit und seinen ungeheuren Mut und durch seine Entscheidung, durchzustehen, was das repressive System ihr auferlegt. Unter solchen Bedingungen können dann Aufenthalte im Gefängnis oder in der Verbannung zu Beweisen einer nahezu religiösen Hingabe an die Sache werden. Und die Märtyrer werden zu Ikonen einer Anklage gegen unmenschliche Herrschaft.

Für manche Oppositionelle ist Selbstaufopferung und Hingabe indes nicht nur eine Konsequenz ihres moralischen Selbstverständnisses. Sie folgen auch einer grundlegenden Einsicht, wie sie etwa der Soziologe Grigorij Judin formulierte: Was würde denn geschehen, wenn alle Kritiker Putins das Land verließen, wenn sie ihre Heimat aufgeben würden? Letztlich muss eben der Kampf vor Ort ausgefochten werden. Und zweifellos zählt Nawalnys langjähriger Kampf gegen die korrupte Elite zu den wichtigsten delegitimierenden Faktoren des Putin-Systems. Kein anderer Oppositioneller ist so charismatisch wie er. Kein anderer konnte Zehntausende zu Protesten auf die Straße bringen. Keinem anderen ist es gelungen, über viele Jahre mit unorthodoxen Methoden die Regierung derart herauszufordern.

Bewegung konnte nicht mundtot gemacht werden

Es gibt auch nicht viele andere Oppositionelle, die in ähnlich exponierter Lage so unbeirrt, angstfrei, so ungebrochen an ihren Zielen festhalten. Trotz permanenter Schikanen und Einschüchterungen, trotz rechtswidriger Trennung von der Familie, trotz körperlicher Schwäche, trotz fehlender medizinischer Betreuung, trotz Isolationshaft in einer Einzelzelle, die Nawalny einmal als „Hundezwinger“ beschrieb. Ihn brach nicht einmal der infame Mordversuch durch den russischen Inlandsgeheimdienst. „Einen mutigeren Menschen“, so sagt es einmal ein Wahlkampfhelfer aus Jekaterinburg, „habe ich noch nicht getroffen.“ Dank Nawalny ist ein alternatives politisches Netzwerk entstanden, das nicht in den allgegenwärtigen Klientelbeziehungen wurzelt. Selbst wenn seine über ganz Russland verteilten Regionalbüros eines Fonds zur Korruptionsbekämpfung inzwischen verboten wurden, so konnte seine Bewegung doch nicht mundtot gemacht werden.

Regelmäßig meldet sich Nawalny mit Videobotschaften selbst aus dem Lager, und 140 seiner Mitarbeiter im Wiener Exil versorgen über soziale Medien jeden Monat zwischen 18 und 20 Millionen Menschen in Russland mit Fakten und Kommentaren und ermutigen jeden Einzelnen zur Selbstbefragung: Was kann ich persönlich tun, um widerständig gegenüber dem System zu sein? Denn Alexej Nawalny ist davon überzeugt, dass jeder etwas tun kann: Rede mit dem Nachbarn; hänge einen Flyer auf; berichte anderen von unseren Recherchen; spende Geld.

Es gibt ein anderes Russland

Ja, wir sehen es: Es gibt ein anderes Russland, ein Russland außerhalb des Systems Putin. Das ist die Hoffnung aller Demokraten für die Zukunft. So wie einst Thomas Mann mit seinen Reden gegen das Hitlerregime objektiv ein Verbündeter der von Hitler besetzten Staaten war, so ist Nawalny heute ein Verbündeter der widerständigen Ukraine. Wenn die Opfer autoritärer und imperialer Herrschaft selbst daran gehindert sind, ihre Stimme gegen die Unterdrückung zu erheben, dann sind wir in den freien Gesellschaften verpflichtet, uns auch in ihrem Namen zu Wort zu melden, einzutreten für ein Leben in Freiheit, in Frieden, in Selbstbestimmung. Auch von uns wird es abhängen, was mit Nawalny und anderen politischen Gefangenen in Putins Russland zukünftig geschieht. Freunden gegenüber hat Alexej Nawalny einmal gesagt: Die Berichterstattung im Westen über seine Verfolgungen sei seine Lebensversicherung. Das ist das Mindeste, was diese Preisverleihung heute ausrichten kann. Mit der Berichterstattung über seine Verfolgung dazu beizutragen, sein Leben zu sichern. Und dadurch auch all jene Kräfte in Russland zu stärken, die Widerstand leisten und für ein demokratisches Russland kämpfen.

Aber auch für uns im westlichen Europa enthält der Blick auf Alexej Nawalny eine bedeutende Botschaft – eigentlich sogar zwei: Der bewusste Gang unseres Preisträgers ins Lager und in die Entwürdigung offenbart uns einen Glauben und eine Hingabe an die Idee der Freiheit, die uns Freiheitsverwöhnten geradezu übermenschlich erscheint. Wer von uns könnte diesem Beispiel folgen? Aber eines könnten wir doch sehr wohl: Den Wert der Freiheit neu zu begreifen und bewusster zu verteidigen, was wir in unseren freiheitlichen Gesellschaften geschaffen haben. Und die zweite Botschaft richtet sich an uns als Individuen, geprägt von mannigfachen Ängsten, von Sorgen und Unzulänglichkeiten. Sie lautet: Glaube daran, dass du ein Mensch mit ungeahnten Möglichkeiten bist. Entdecke, dass du nicht gezwungen bist, deinen Ängsten zu folgen. Du musst den Mut der Mutigen nicht kopieren oder gar überbieten. Aber du musst dir eine Frage gefallen lassen: Tust du, was du zu tun vermagst?

Ich sehe diese Preisverleihung an Alexej Nawalny als einen Versuch, diese Frage heute so zu beantworten: Werden wir morgen mehr tun können als heute, um unsere Solidarität und Freiheitsliebe zu bezeugen? Dann werden wir es tun! Wir versprechen es und sind dankbar mit dem verbunden, den wir heute ehren.

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