Vorfälle in Peschiera del Garda - „Das Thema Integration wird in Italien totgeschwiegen“

Anfang des Monats verabredeten sich 2000 Jugendliche und junge Menschen, fast alle mit Migrationshintergrund, um in Peschiera del Garda am Gardasee einzufallen. Es kam zu Vandalismus und sexuellen Übergriffen. Im Interview schildert der Politikwissenschaftler und Italien-Experte Roman Mahrun seine Eindrücke zu den Ausschreitungen, erklärt, warum das Thema Integration in Italien politisch, diskursiv, kulturell und sozial teilweise überhaupt nicht existent sei und warum Vorfälle niedrigschwelliger Gewalt und Kriminalität in Italien mehr Awareness über die reine Verurteilung hinaus bräuchten.

„Integration ist keine Einbahnstraße“: Betende Muslime in Palermo / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Roman Maruhn ist Politikwissenschaftler und Experte für Italien. Er lebt in Palermo.

Herr Maruhn, Anfang des Monats verabredeten sich rund 2000 junge Menschen, die allermeisten mit Migrationshintergrund, um in die Ortschaft Peschiera del Garda am Gardasee einzufallen. Es kam zu Vandalismus und sexuellen Übergriffen. Wie wird darüber in Italien diskutiert?

Ich habe von den Vorfällen aus den Medien erfahren, weil sie natürlich ein nationales Thema waren. Als Deutscher, der in Italien lebt, fühlte ich mich an die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln vor einigen Jahren erinnert, auch, wenn die vor einem etwas anderen Hintergrund geschehen sind. Das Thema ist aber auch deshalb groß, weil der Gardasee ganz im Norden Italiens liegt. Dort gibt es eine andere politische Gemengelage als im Süden. Norditalien, obwohl sich das mittlerweile wohl auch etwas relativieren lässt, ist die Heimat der rechtsnationalen Partei Lega, früher Lega Nord, die sich gegründet hatte, um eine separatistische Kraft zu sein, mittlerweile aber zu einer nationalen politischen Kraft geworden ist. Früher war ein Teil ihrer Forderungen, den Norden Italiens vom Süden abzuspalten. Heute fällt sie vor allem durch eine klare kritische, meiner Meinung nach auch durch eine teilweise feindliche Haltung gegenüber Ausländern auf.

Was macht das mit Ihnen? Sie sind ja selbst Ausländer.

Ich bin, wenn man das so bezeichnen will, eine Art Klasse-A-Ausländer aus Deutschland, der seinen Hauptwohnsitz in Italien hat, hier Steuern zahlt und ich bin infolge der Unionsbürgerschaft auch Bürger der Europäischen Union. Aber es gab in Italien auch schon Wellen gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel damals und gegen die deutsche Haltung beim europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Unterm Strich richtet sich die kritische Haltung der Lega aber vor allem gegen jene, die „auf Kosten“ des italienischen Staates leben. Zumindest ist das das zentrale Argument von Lega-Chef Matteo Salvini, mit dem er sich in erster Linie gegen Migranten, besonders illegale Migranten wendet. Damit zielt er auch auf Menschen der sogenannten zweiten Einwanderergeneration am Rande der Gesellschaft ab.

 

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Wie gut funktioniert denn die Integration in Italien?

Italien hinkt da deutlich hinterher. Auch, weil das Land erst in den späten 80er- und den frühen 90er-Jahren zu einem Netto-Einwanderungsland geworden ist. Dennoch war Italien schon immer auch ein internationales Land. Und es braucht ausländische Arbeitnehmer, etwa in der privaten Pflege oder in der Landwirtschaft. Letztere würde zusammenbrechen, wenn es die nicht gäbe. Der Migrationsbedarf beziehungsweise der Arbeitsmarktbedarf im Niedriglohnsektor und noch mehr bei der informellen und schwarzen Beschäftigung ist jedenfalls gestiegen. Sprich: Wenn man ernsthaft versuchen würde, Ausländer, egal ob in erster oder zweiten Generation, wirklich zu integrieren, täte man sich aus rein wirtschaftlicher Perspektive einen Gefallen. Es gibt aber in Italien keine große Diskussion über Integration, auch nicht durch die progressiven Kräfte im Land. Wir erleben in Italien stattdessen eine sehr starke Aufteilung in der Bevölkerung und dass auch Menschen, die in Italien in zweiter Migrantengeneration geboren sind, in der Bildung und mit Blick auf den Arbeitsmarkt vor großen Hürden stehen.

Wie setzen sich die Migrantengruppen in Italien zusammen?

Da kann ich aus meiner persönlichen Erfahrung in Palermo berichten. Meine Tochter geht hier auf eine Schule, in der viele Menschen mit Migrationshintergrund sind. Viele kommen aus Sri Lanka, aber auch aus China oder aus anderen Ländern Asiens. Es gibt in Italien auch noch eine recht große Gruppe an Schwarzafrikanern zum Beispiel aus Nigeria. Und was Marokkaner und Tunesier betrifft, so haben die als Einwanderer ohnehin eine lange Tradition hier, die bis in die Antike zurückreicht. Ich spreche hier aber vor allem vom Süden.

Und der Norden?

Der Norden hat schon wieder eine andere Tradition bei der Einwanderung und ganz andere Ansprüche, was Migration und Integration betrifft, auch ein anderes Bedürfnis bei Ordnung und Sicherheit. Ich glaube, im Norden ist man deshalb besonders alarmiert, dass es zum Beispiel bei Personen mit Migrationshintergrund eine überdurchschnittliche Kriminalität gibt. In Norditalien ist man vor allem deutsche Touristen gewohnt, nicht Menschen mit nordafrikanischem Migrationshintergrund vom Rande der Gesellschaft. Da war man über die Vorfälle in Peschiera del Garda unter dem Motto „Afrika in Peschiera“ sicherlich überrascht.

Deutsche Touristen verabreden sich nicht, um in eine Ortschaft einzufallen, zu randalieren und Frauen sexuell zu belästigen.

Exakt. Die machen vielleicht eher einen Bootsunfall auf dem Gardasee. Was die Vorfälle in Peschiera del Garda betrifft, ist noch nicht klar, ob es da wirklich einen politischen Hintergrund gibt oder ob „Afrika in Peschiera“ einfach ein jugendlicher Slogan war, um eine persönliche Identität zu behaupten. Das wird die juristische Aufarbeitung zeigen müssen. Es gibt in Norditalien irgendwie den Anspruch, dass Sicherheit nahezu hundertprozentig gewährleistet sein muss. Und da werden solche Vorfälle in einer kleinen, touristisch orientierten Gemeinde nochmal ganz anders als Bedrohung aufgenommen. Aber ich glaube, dass es auch darum ging, dass junge Leute ihren Migrationshintergrund ab und zu offensiv betonen wollen in einer politischen Landschaft, wo diesen Menschen definitiv kein Platz gegeben wird; wo sie teilweise im politischen Diskurs bekämpft werden.

Inwiefern?

Wir müssen sehen, dass Fratelli d'Italia und die Lega aktuell zwei sehr große Parteien mit einer sehr großen Anhängerschaft sind. Beide Parteien zeichnen sich durch extrem nationalistische Positionen aus und durch abschätzige Positionen gegenüber außereuropäischen Ländern und nicht-christlichen Gruppen. Mit diesen Positionen versuchen sie, auf Stimmenfang zu gehen. Und unter Umständen ist das ein Punkt, der, sagen wir mal, in einer beschaulichen, vermeintlich recht homogenen Region wie Norditalien dazu geführt hat, dass es da diesen starken Vorfall gegeben hat.

Sie finden, dass ein rechtsnationales Klima schuld daran sein soll, dass 2000 Menschen in ein Dörfchen einfallen und Frauen belästigen? 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich versuche nicht, Vorfälle wie in Peschiera del Garda zu rechtfertigen. Aber Vorfälle niedrigschwelliger Gewalt und Kriminalität brauchen Awareness über die reine Verurteilung hinaus, bei den Ordnungskräften genauso wie bei den politisch Verantwortlichen. Die müssen sich überlegen, wie man mit solchen Vorfällen umgeht und was man präventiv tun oder besser machen kann, dass es gar nicht zu solchen Vorfällen kommt. Die Frage nach dem Grund muss nun sicherlich geklärt werden. Unter Umständen gab es auch Beispiele wie Köln, die dazu ermutigt haben. Doch das politische Klima in Italien hat leider wesentlich andere Prioritäten, als für eine bessere Integration von Menschen mit Migrationshintergrund zu sorgen.

Was wird denn schon getan?

Sehr wenig. Es gibt zwar zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um diese Menschen kümmern, aber in Italien gibt es zum Beispiel keinen Cem Özdemir. Es gibt keine Leute mit Migrationshintergrund, die wirklich politische Karriere machen oder gar an der Spitze einer politischen Partei stehen. Das gleiche Bild in der Wirtschaft, in kulturellen und sozialen Institutionen, in den Kirchen. Stattdessen werden diese Menschen ignoriert und es wurde in den letzten Jahrzehnten insbesondere für Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund nicht genug getan. Stattdessen gibt es Leute wie Salvini, die sagen, dass Dealer immer Ausländer seien und Dealer nie Italiener sein werden und dass man Siedlungen von Sinti und Roma platt machen sollte. Ich glaube nicht, dass das besonders ermutigende Zeichen sind für Ausländer oder für Menschen mit Migrationshintergrund, sich langfristig als gleichberechtigte Bürger in diesem Land zu sehen. 

Gleichwohl ist es auch keine ermutigendes Signal des Integrationswillens an die italienische Mehrheitsgesellschaft, wenn es zu Vorfällen wie in Peschiera del Garda kommt oder wie während der Silvesternacht in Mailand, wo wir eine Art zweites Köln erlebt haben. Integration ist keine Einbahnstraße. Was läuft also innerhalb der migrantischen Milieus schief? Wo ist da noch Luft nach oben, sich integrierbarer zu machen? 

Wir haben hier den ganz wesentlichen Punkt, dass Ausländern in Italien, wie in anderen Ländern auch, die Möglichkeit gegeben werden muss, ihren Status zu legalisieren. Da hatten wir immer wieder Wellen von Liberalisierungsmaßnahmen, dass es zum Beispiel Chancen für illegale Einwanderer gibt. Aber insbesondere, weil die Italiener glauben, dass diese Menschen gar nicht in Italien bleiben wollen, gibt es keine deutlichen Verbesserungen. Minderheiten, die es schon länger gibt, versuchen auch teilweise, sich zu identifizieren mit dem Land. Da gibt es auch sehr gute Beispiele für Integration. Und ja, Sie haben Recht, dass Integration keine Einbahnstraße ist und dass man sich auch von den Menschen mit Migrationshintergrund etwas erwarten muss. Aber wenn das Thema sozusagen totgeschwiegen wird und politisch, diskursiv, kulturell und sozial teilweise überhaupt nicht existent ist, dann ist es natürlich auch schwierig für die Betroffenen selber, also für Migrantinnen und Migranten, sich einbringen zu können.

Stichwort: Reform des Staatsbürgerrechts?

Unter anderem. Die Idee ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die hier in zweiter Generation geboren werden, die italienische Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Das ist bisher nicht der Fall. Diese politische Forderung wird aber von vielen Parteien abgelehnt. Deshalb kommt man bei diesem Thema nicht voran. Natürlich können Personen mit Migrationshintergrund oder auch Ausländer die italienische Staatsbürgerschaft beantragen. Dafür müssen sie theoretisch zehn Jahre hier sein und nachweisbar Italienisch können. Das klingt so, als wäre das im Zweifelsfall machbar. Aber so einfach ist das in der Praxis für Migranten einfach nicht zu machen. Schon wegen der vielen Vorbehalte gegenüber unterschiedlichen Ausländergruppen. Speziell im Norden will man dann bestimmte Leute mit Migrationshintergrund einfach nicht in den Leistungseliten sehen. Die Situation ist hier eben anders als in Frankreich vielleicht, wo man infolge der eigenen Kolonialgeschichte den Versuch unternimmt, Menschen aus den ehemaligen Kolonien zu integrieren. 

Verzeihen Sie, aber ich habe das Gefühl, dass Sie versuchen, Vorfälle wie in Peschiera del Garda oder in Mailand ausschließlich der Regierung und der italienischen Mehrheitsgesellschaft in die Schuhe zu schieben. Ich teile Ihren Punkt, dass eine Gesellschaft integrieren wollen muss. Aber es ist eben etwas anderes, ob ich mich zurückgewiesen fühle und dann aus Frust kleine krumme Dinger drehe oder ob mich als wilde Horde verabrede, um irgendwo einzufallen. Also was sagen denn zum Beispiel Integrationsbeauftragte, was da in diesen Communities schief läuft?

Absolut, das ist etwas anderes. Und das sind in ihrer Größe und Breite auch ganz neue Phänomene, die vielleicht auch in irgendeiner Form mit den Einschränkungen während der Corona-Pandemie zusammenhängen könnten. Aber weil sie gerade Integrationsbeauftragte ansprechen: die gibt es in Italien generell kaum. In Palermo haben viele darüber gelacht, als der mittlerweile nicht mehr im Amt befindliche Bürgermeister vor Jahren einen Ausländerbeirat eingesetzt hat. Dass man außereuropäischen Migranten irgendeine Organisationsform gibt, ist in vielen Städten und Gemeinden kein Thema.

Könnten die Vorfälle in Peschiera del Garda hier etwas ändern?

Ich befürchte, dass es trotzdem keine ernsthafte politische Auseinandersetzung mit dem Thema Integration geben wird, jedenfalls nicht über die lokale Ebene hinaus. Die großen Städte haben mittlerweile auch im Norden große Anteile an Personen mit Migrationshintergrund. Aber das ist eine neue Sache. Dass es nicht mehr nur um Norditaliener und Süditaliener geht, sondern auch um Menschen, die von außerhalb kommen. Da muss man politisch konstruktiver, aber auch präventiver tätig werden.

Roman Maruhn / privat

Unterm Strich sagen Sie also, dass Diskussionen über konkrete Vorfälle wie in Peschiera del Garda das eine sind. Das andere ist aber, dass der politische Umgang damit nicht über die reine Stimmungsmache hinausgeht.

So ist es. Dabei gibt es genug Fragen, die die Politik beantworten müsste. Was machen wir mit den Marokkanern, die in jüngerer Zeit nach Italien gekommen sind? Oder mit Kindern von Albanern, die vor allem Anfang der 90-er Jahre eingewandert sind? Was macht man mit der illegalen Migration? Was ist mit den vielen Schwarzafrikanern, die zwar nach Italien kommen, aber hier nicht bleiben wollen, sondern zu ihren Verwandten in die Niederlande, nach Großbritannien, Deutschland oder Frankreich möchten? Und was macht man mit jenen Menschen, die in der italienischen Gesellschaft unter den Tisch fallen, weil sie Ausländer bleiben, obwohl sie hier geboren sind? Italien muss sich aktiver kümmern um diese Menschen, sie auch aus ihren sozialen, politischen und kulturellen Nischen herausholen und auch aus der Situation der Illegalität. Das ist auf alle Fälle wesentlich, weil genauso wie in Deutschland kann man auch in Italien gegenüber zum Beispiel der zweiten Generation von Migranten nicht mehr damit rechnen, dass diese das Land verlassen.

Wer könnte abseits der Politik eine stärkere Rolle bei der Integration spielen?

Ich bin nicht sicher, aber vielleicht könnte auch die katholische Kirche ein größerer Integrationsfaktor sein, wo sich wirklich um Menschen mit Migrationshintergrund in zweiter oder dritter Generation gekümmert wird. Oder vielleicht brauchen wir auch viel mehr zivilgesellschaftliches Engagement, um ankommenden Migranten zu helfen. Aber selbst soziale Institutionen haben wenig konkrete Programme, die Migranten zugute kommen. Auf europäischer Ebene wird von Italien zwar viel gemacht, zum Beispiel beim Verteilungsschlüsseö für die Menschen, die über das Meer kommen, was man von einem italienischen zu einem europäischen Thema machen will. Aber das heißt eben nicht, dass Italien ein hervorragendes Beispiel für gelungene soziale, politische und wirtschaftliche Integration von Migranten ist.

Die Rahmenbedingungen müssten sich insgesamt also verbessern, sagen Sie. Und obwohl nahe Rimini jüngst ähnliche Vorfälle wie in Peschiera del Garda wohl nur mit massiver Polizeipräsenz unterbunden werden konnten, ich spitze etwas zu, sind wir in Italien noch weit von bürgerkriegsähnlichen Zuständen entfernt?

Definitiv ja. Die größeren Herausforderungen in Italien haben ohnehin mit der organisierten Kriminalität zu tun, insbesondere in Süditalien. In Palermo wurde jüngst zwar eine nigerianische Mafia zerschlagen. Aber die mafiösen Strukturen im Land haben wenig zu tun mit Menschen mit Migrationshintergrund. Oder zumindest sind die für die Sicherheitskräfte keine extreme Herausforderung. 

Das Gespräch führte Ben Krischke.

 

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