Israel - Knesset stimmt für Justizreform

Das israelische Parlament stimmte heute für ein Gesetz, das die Macht des Obersten Gerichts einschränkt. Gegner wie Befürworter werfen den jeweils anderen Demokratiefeindlichkeit vor. An einem Kompromiss scheinen beide Seiten nicht interessiert.

Demonstranten blockieren die Zufahrt zur Knesset / dpa
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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Nun ist der Weg frei für einen Teil der umstrittenen Justizreform in Israel. 64 der 120 Knesset-Abgeordneten haben nach tagelanger Debatte heute für einen Gesetzentwurf gestimmt, der die Handlungsmöglichkeiten des Obersten Gerichts einschränkt. Die Opposition boykottierte die Abstimmung im Parlament. Mit diesem Gesetz ist es dem Obersten Gericht nun nicht mehr möglich, eine Entscheidung der Regierung oder einzelner Minister mit dem Hinweis auf deren „Unangemessenheit“ aufzuheben.

Die zahlreichen Kritiker dieses Gesetzes befürchten, dadurch würde die willkürliche Besetzung wichtiger Posten begünstigt. Zuletzt hatte das Oberste Gericht im Januar von der Unangemessenheitsklausel Gebrauch gemacht, als es entschied, dass der Vorsitzende der rechtsreligiösen Schas-Partei, Arieh Deri, seine Ämter als Innen- und Gesundheitsminister wegen seiner Vorstrafe nicht ausüben dürfe. Deri musste daraufhin von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu entlassen werden.

Alle Verhandlungen ohne Erfolg

Staatspräsident Izchak Herzog hatte bis zum letzten Augenblick auf einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition hingearbeitet. Am Sonntagabend traf er Netanjahu und Oppositionsführer Jair Lapid. Doch alle Verhandlungen zwischen der rechtsreligiösen Koalition und der Opposition blieben ohne Erfolg. Lapid klagte: „Mit dieser Regierung ist es unmöglich, Vereinbarungen zu treffen, um die israelische Demokratie zu bewahren.“

Das Gesetz ist Teil eines größeren Pakets, das von Kritikern als Gefahr für Israels Demokratie eingestuft wird. Manche warnen gar vor der Einführung einer Diktatur. Aber was bedeutet die Angemessenheitsklausel überhaupt? Israel hat keine geschriebene Verfassung, die Obersten Richter berufen sich also auf diverse einzelne „Grundgesetze“, die allerdings keinen Verfassungsrang besitzen, ferner auf die Unabhängigkeitserklärung sowie auf das Kriterium der „Angemessenheit“ bzw. „Unangemessenheit“, wenn sie eine bestimmte Entscheidung für ungültig erklären.

Gegen-Regierung ohne demokratische Legitimation

Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, die derzeitige Macht des Obersten Gerichts sei demokratie- und rechtsstaatswidrig, da es für das Gericht viel zu einfach sei, Beschlüsse gewählter Politiker zu kassieren. Außerdem, so die Befürworter, gebe es eine so weitreichende gerichtliche Überprüfung von Regierungsmaßnahmen in anderen demokratischen Ländern nicht. Es sei nicht Sache der Richter, über Wertefragen zu entscheiden. Mit dem Kriterium der „Angemessenheit“ untergrabe eine „aktivistische Justiz“ eine demokratisch gewählte Regierung.

Gegner der Justizreform, zu denen auch der israelische Generalstaatsanwalt zählt, halten das Kriterium der „Angemessenheit“ indes für eine der wenigen Maßnahmen, die die Justiz hat, um die Exzesse der stark zentralisierten israelischen Exekutive zu kontrollieren. Die Abschaffung dieses Standards würde das einzige Instrument zur Überprüfung willkürlicher oder unvernünftiger Entscheidungen der Regierung beseitigen. Dieses Instrument sei in Ländern ohne geschriebene Verfassung, wie Israel, besonders wichtig.
 

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Yonatan Green, Direktor des konservativen „Israel Law & Liberty Forum“, sagte gegenüber der Online-Zeitung Times of Israel, die Doktrin der Angemessenheit (reasonableness) stamme aus dem englischen Common Law und sei für Situationen entwickelt worden, in denen eine politische Entscheidung „extrem unvernünftig und etwas völlig Ungeheuerliches ist“. Die Richter des Obersten Gerichts in Israel hätten die Doktrin seit den 1980er Jahren jedoch derart ausgeweitet, so Green, dass sie praktisch jede Verwaltungsentscheidung, die ihnen aus irgendeinem Grund zu weit oder nicht weit genug gehe, unter Berufung auf diese Doktrin aushebeln könnten. Auf diese Weise habe sich das Gericht zu einer Art Gegen-Regierung ohne demokratische Legitimation aufgeschwungen.

Laut Green gebe es im israelischen Recht genügend andere Rechtsgrundsätze, um die Rechte von Minderheiten zu schützen oder willkürliche Regierungsentscheidungen anzufechten, etwa Verhältnismäßigkeit, Diskriminierungsverbot, Interessenkonflikt und andere. Es bedürfe der Angemessenheitsdoktrin also gar nicht.

„Marsch auf Jerusalem“ mit Tausenden von Teilnehmern

Der heutigen Knesset-Entscheidung ging ein halbes Jahr zum Teil heftiger Proteste gegen die geplante Justizreform voraus. Demonstranten blockierten wichtige Autobahnen, riefen zu Streiks auf, besetzten das Hauptterminal des Flughafens und organisierten vergangene Woche einen „Marsch auf Jerusalem“ mit Tausenden von Teilnehmern. Nicht wenige Israelis fragten sich allerdings, was es mit der Rettung der Demokratie zu tun habe, die sich die Demonstranten doch auf die Fahnen geschrieben hatten, mit Druck, Erpressung und Gewalt die eigenen politischen Vorstellungen durchsetzen zu wollen. Ende März hatte sich die Regierung dann bereit erklärt, das Vorantreiben der Justizreform bis zum Sommer zu verschieben. Die Zeit bis dahin wollte Netanjahu dazu nutzen, mit Oppositionsvertretern über die Gesetzesänderung zu verhandeln. Eine Einigung wurde allerdings nicht erzielt.

Auch am Sonntagabend gab es wieder große Demonstrationen sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern der Justizreform. Am Montagmorgen gingen die Demonstrationen weiter. Ein Zusammenschluss der 150 größten Unternehmen im Land rief für Montag zum Streik auf. Auch mehrere Hightech-Unternehmen wollten sich dem Streik anschließen. Der Dachverband der Gewerkschaften (Histadrut) will zudem entscheiden, ob er einen Generalstreik ausruft. Auch in der Armee wächst der Widerstand gegen die Regierungspläne. Etwa 10.000 Reservisten hatten am Wochenende angekündigt, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, sollte die Koalition ihre Pläne nicht stoppen.

Es geht um mehr als nur die Angemessenheitsklausel

Nun ist also einstweilen jeder Kompromiss gescheitert. Dabei ist nicht klar, wie ein Kompromiss überhaupt hätte aussehen können – und zu welchen Zugeständnissen die Gegner der Reform im Rahmen eines solchen Kompromisses überhaupt bereit wären. Die Regierung Netanjahu hatte die ursprünglichen Pläne nämlich bereits abgeschwächt. Der ursprüngliche Plan hätte der Regierungskoalition die vollständige Kontrolle über die Auswahl der Richter gegeben und der Knesset ermöglicht, Entscheidungen des Obersten Gerichts mit knapper Mehrheit zu überstimmen. Diese Aspekte des Reformpakets waren auch von Politologen und Rechtsexperten, die eine Justizreform und eine gewisse Einhegung der Macht des Obersten Gerichts grundsätzlich befürworten, kritisch gesehen worden – und liegen jetzt zumindest vorläufig auf Eis.

Worüber heute in der Knesset abgestimmt wurde, war einzig das Gesetz über die Angemessenheitsklausel. Eine Diktatur droht deswegen sicher nicht. Dass ein solches Gesetz missbraucht werden kann, ist aber wahrscheinlich eine reale Gefahr. Ob das Oberste Gericht in der Lage sein wird, politische Entscheidungen anhand der bestehenden Grundgesetze zu überprüfen und gegebenenfalls für rechtswidrig zu erklären, so wie es die Verfassungsgerichte in anderen demokratischen Staaten tun, bleibt abzuwarten.

Klar ist allerdings auch, dass es um mehr geht als nur die Angemessenheitsklausel. Es ist der Kampf zweier politischer Lager – zwischen den alten linksliberalen Eliten, die jahrzehntelang in fast allen gesellschaftlichen Institutionen den Ton angaben, und einem eher rechten und religiösen Milieu, das inzwischen die Bevölkerungsmehrheit stellt. Es geht auch um die Definition von Demokratie: Beide Seiten nehmen für sich in Anspruch, im Sinne der Demokratie zu handeln, und werfen der jeweils anderen Seite demokratiefeindliches Gebaren vor. Demokratie ist aber weder ausschließlich die Herrschaft der Mehrheit noch das Aufrechterhalten von „Werten“ durch selbsterklärte Eliten. Sie ist vor allem ein Entscheidungsverfahren, das sich im Rahmen legitimer Institutionen abspielt – und die dürften in Israel stabiler sein, als Rechte wie Linke ihnen derzeit zutrauen.

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