Krieg gegen Israel - „Wir brauchen Ihre Unterstützung“

Nach dem Massaker an 1400 Israelis wächst auch die Angst von Juden in Deutschland. Unsere Autorin ist im Süden Israels aufgewachsen und warnt davor, dass das Mitgefühl in Deutschland in Kritik und Schuldzuweisungen umschlägt.

Einwohner von Sderot werden am 15. Oktober evakuiert / dpa
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Autoreninfo

Adi Kaslasy-Way ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Auf Hebräisch erschien soeben ihr Roman „Bisdot Chita" (In Weizenfeldern). (Foto: Marko Bußmann)

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Erst vor ein paar Wochen waren wir dort. Wir haben die Sommerferien im Haus meiner Eltern in Sderot verbracht, meiner Heimatstadt. Wir gingen mit unserem Sohn durch die Straßen, spielten mit ihm auf dem Spielplatz in der Nähe der Bibliothek und genossen es, die netten und herzlichen Menschen zu treffen, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne.

In den letzten 20 Jahren war Sderot nicht immer ein sicherer Ort. Jederzeit konnten Raketen vom Himmel fallen, und das taten sie auch und verletzten und töteten meine Nachbarn und Freunde. Wo immer die Raketen einschlugen und zerstörten, bauten die Menschen in Sderot mit großer Liebe zu ihrer Heimat wieder auf. Als es auf offener Straße gefährlich wurde, stellten sie Miguniot auf, raketensichere Häuschen, um die Menschen zu schützen. In dieser verrückten Realität aufzuwachsen, hat mir sehr viel Schmerz bereitet, aber wie die Menschen in meiner Stadt habe ich mich aus der Dunkelheit befreit, eine Therapie gemacht, mein Glück gefunden und dann einen Roman darüber geschrieben, um anderen zu helfen.

Wir waren diesen Sommer in Sderot, um das Buch vorzustellen. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, aber dann bot eine nach der anderen Person in Sderot, die ich um Hilfe gebeten hatte, freiwillig ihre Zeit und ihr Wissen an.

Die Videos und Bilder, die ich sah, haben mich für immer verändert

Am Samstag, den 7. Oktober, piepte mein Telefon. Zuerst habe ich es ignoriert, weil es noch früh war und ich schlafen wollte. Aber die Nachrichten hörten nicht auf. Schließlich sah ich sie mir an und stellte fest, dass Raketen auf die Heimat meiner Familie abgefeuert wurden. Das war beängstigend, aber es ist schon öfter passiert. Normalerweise verbringt meine Familie einige Zeit im Schutzraum, und es passiert ihnen nichts. Aber dieses Mal hörten die Angriffe nicht auf. In den nächsten Stunden fielen weiterhin Tausende von Raketen. Die Dauer und die Menge der Angriffe waren überwältigend.

Und dann sah ich ein Video, das mich erschreckte. Darin sah man bewaffnete Terroristen in einem weißen Pick-up-Truck in einer Straße in der Nähe des Hauses meiner Kindheit, das ich gerade besucht und in dem ich einen Monat lang gewohnt hatte.

Nach und nach trafen Nachrichten, Bilder und Videos ein, die mich zutiefst erschütterten und alles in Frage stellten, was ich von der Welt, aus der ich stammte, zu wissen glaubte. Mich erreichte ein Bild, das Menschen zeigte, die neben der Bushaltestelle am Eingang der Bibliothek, in der ich in meiner Kindheit so viel Zeit verbracht hatte, erschossen worden waren. Dieses und andere Videos und Bilder, die ich sah, haben mich für immer verändert. Ich kann sie nie wieder vergessen. Bilder von Babys, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden, von Frauen mit Blutflecken im Intimbereich oder völlig nackt, die anzeigten, dass sie vergewaltigt wurden, ein Terrorist, der jemandem den Schädel einschlug. Kinder und Großmütter wurden entführt! Häuser geplündert. Das Grauen ging weiter und weiter.

Die meisten der Bilder wurden von den Tätern aufgenommen, und in den Videos kann man sie lachen hören. Eine solche Brutalität, ein solcher Sadismus, der sich gegen meine Angehörigen richtete …

Die Gräueltaten zu rechtfertigen, ist keine „Debatte über den Nahostkonflikt“

Fast zehn Tage lang waren meine Eltern gefangen, belagert in ihrem Haus, und am Samstag wurden sie durch die Gnade Gottes davor bewahrt, sich zu den 1400 Menschen zu gesellen, die auf brutale Weise ermordet wurden, so wie die Terroristen es irgendwann taten, direkt vor unserem Haus.

Jedesmal, wenn ich dachte, das Schlimmste sei schon geschehen, wurden weitere unmenschliche Taten bekannt. Meine Highschool-Jahre verbrachte ich mit den Kindern der Kibbuzim in unserer Gegend. Die Freunde, die ich dort fand, waren Freunde fürs Leben, und einige von ihnen leben auch heute noch dort. Einige besuchen ihre Eltern an den Wochenenden und in den Ferien. Die Kibbuzim, in denen ich meine Freunde besuchte und mit ihnen auf Partys tanzte, wurden bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die freundlichen Menschen meiner Kindheit, die sich immer für den Frieden eingesetzt hatten, wurden in ihren Häusern abgeschlachtet. Freunde von mir verloren ihre Väter, Brüder, Großmütter in einem gezielten und grausamen Angriff, der nur das eine Ziel hatte, auf barbarischste Weise zu töten.

 

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Am Samstagabend versuchte ich immer noch, das alles zu verarbeiten, machte mir Sorgen um meine Eltern, hörte immer noch von so vielen Menschen, die ich kenne und die diesem Massaker zum Opfer gefallen sind, und ich glaubte immer noch, dass die Menschen, selbst diejenigen, die Israel kritisieren, entsetzt sein werden. Ich sehnte mich so sehr danach, von ihnen zu hören: „Das ist nicht in Ordnung, und das hat nichts mit einem Konflikt zu tun“. Die Gräueltaten vom Samstag in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, ist keine „Debatte über den Nahostkonflikt“. 

In den deutschen Medien berichteten Journalisten, die ebenso schockiert wirkten wie wir selbst. Und dann die Bilder aus Berlin-Neukölln, wo Menschen dieses Massaker feierten und Süßigkeiten verteilten! Ich wartete auf einen Aufschrei der Menschen. Es gab Stimmen der Unterstützung, auch von Politikern und in den Medien, aber schon bald darauf fühlte ich mich allein und hatte das Gefühl, dass nicht genug getan wurde. In den darauffolgenden Tagen erfuhr ich, wie schnell das Mitgefühl in Schweigen und die Unterstützung in Kritik und Schuldzuweisungen umschlug.

Israelis und Juden haben Angst, auf der Straße Hebräisch zu sprechen

Ich habe mich in Deutschland nie hundertprozentig sicher vor Antisemitismus gefühlt, ich wurde beschimpft und sogar bespuckt, wenn ich Hebräisch sprach, aber bis vor kurzem hatte ich das Gefühl, dass solche Taten selten sind und in Deutschland keine Legitimation haben. Egal, was man politisch denkt, es ist nicht in Ordnung, sich über ein Massaker zu freuen. Ein Massaker ist kein Sieg für eine Seite in einem Konflikt. Es gibt rote Linien, und die wurden an jenem Samstag überschritten. Ich denke immer wieder, wenn sich Menschen über solch abscheuliche Taten an Babys und Kindern freuen können, darüber, dass Kinder mit ansehen mussten, wie ihre Eltern vor ihren Augen erschossen wurden, wen würde es dann kümmern, wenn jemand mir oder meinem Kind etwas antut?

Ich und viele andere Israelis und Juden haben Angst, auf der Straße Hebräisch zu sprechen, und ich meide auch bestimmte Straßen, Cafés und Restaurants aus Angst vor Kommentaren und möglichen körperlichen Angriffen auf mich. Mein Leben und mein Alltag werden gerade verstört, und ich habe Angst um mein Leben und das meiner Familie. Juden sollten im Deutschland des Jahres 2023 keine Angst haben. Unsere Synagogen sollten nicht abgefackelt werden, und wir sollten unsere Identität nicht verstecken müssen.

Es gibt nicht viel, was ich oder irgendjemand von uns gegen Radikale tun kann, deren Meinung wird sich wahrscheinlich nicht ändern. Aber ich glaube, dass wir alle versuchen müssen, uns gegen diese Finsternis zu wehren.

Das Böse blüht auf, wenn die Menschen untätig daneben stehen

In den letzten Tagen habe ich Unterstützung von Freunden hier in Deutschland erhalten, und es war so tröstlich zu hören, dass Bundeskanzler Scholz gesprochen hat und Israel unterstützt, aber so viele haben geschwiegen. Ich weiß, dass es schwierig ist, über dieses Thema zu sprechen, aber wir Israelis, wir Juden, brauchen Ihre Unterstützung. Wir müssen wissen, dass Sie mit den Verbrechen vom Samstag, dem 7. Oktober, nicht einverstanden sind. Eine Umarmung oder ein freundliches Wort kann viel bewirken und uns das Gefühl geben, weniger allein, verlassen und verängstigt zu sein.

Ein bisschen Licht kann die Dunkelheit nicht vertreiben, aber es kann uns helfen, den Weg aus der Dunkelheit zu finden.

Ich bin Schriftstellerin, aber auch Fremdenführerin in Berlin. Wann immer ich zum Bebelplatz komme, spreche ich über die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933. Ich spreche über Micha Ullmans Bibliothek mit den leeren Regalen und das berühmte Zitat von Heinrich Heine: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Abgesehen von dem offensichtlichen Grund, warum dieser Satz dort steht, glaube ich, dass er eine Mahnung für uns alle ist. Das Zitat stammt aus einem Heine-Stück über die spanische Inquisition, vor der meine Vorfahren geflohen sind, um schließlich in Marokko zu landen. Der Satz wurde 113 Jahre vor der Bücherverbrennung geschrieben. Ich sage immer: Heine hat nicht die Zukunft vorausgesagt, er hat über die Vergangenheit gesprochen! Neben unserem Mitgefühl als Menschen, unserer Liebe, Wärme, Fürsorge, unserem Erfindungsgeist usw. gibt es auch das Böse in uns, wenn wir nicht aufpassen. Und dieses Böse handelt nicht von allein, es blüht auf, wenn die Menschen untätig daneben stehen. Es sollte unser gemeinsames Ziel sein, gegen das Böse zu kämpfen, wie es sich am Samstag, den 7. Oktober, gezeigt hat. Andernfalls wird es viel früher an unsere Türen klopfen, als wir es uns vorstellen können.

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