Ukraine, EU, Pressefreiheit - Wie sieht das Ungarn, Herr Patzelt? (Teil 1)

Die Kritik an Ungarn ist innerhalb der Europäischen Union regelmäßig groß. Aber ist sie auch berechtigt? Im Interview erklärt der Politikwissenschaftler Werner Patzelt die Sicht der ungarischen Regierung auf das Staatenbündnis und den Ukraine-Krieg.

Ungarns Premierminister Viktor Orbán beim EU-Gipfel in Brüssel / dpa
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Shantanu Patni studiert Osteuropa-Studien an der Freien Universität Berlin. 

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Werner Patzelt ist einer der bekanntesten Politikwissenschaftler in Deutschland. Von 1991 bis 2019 war er Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Derzeit ist er Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegium in Brüssel. Dies ist der erste Teil unseres Ungarn-Gesprächs mit Patzelt. Das zweite veröffentlichen wir am Freitag.

Herr Patzelt, in der ungarischen Hauptstadt sind zurzeit Plakate zu sehen, auf denen Ursula von der Leyen zusammen mit Alexander Soros, dem Sohn von George Soros, abgebildet ist. Der Begleittext lautet: „Lasst uns nicht nach der Pfeife Brüssels tanzen“. Wie kam es so weit? Wie würden Sie das Patt zwischen der EU und Ungarn erklären?

Die Wahrnehmung der ungarischen Regierung und eines nicht unbeträchtlichen Teiles der ungarischen Bevölkerung ist die, dass das Bestreben derer, die in der Europäischen Union derzeit das Sagen haben, sich darauf richtet, aus Nationalstaaten – welche das Baumaterial der Europäischen Union sind – Mitgliedstaaten eines Clubs zu machen. Und zwar eines Clubs, bei dem der Clubvorstand den einzelnen Clubmitgliedern vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen haben. Anders gewendet: Ungarn empfindet seit langer Zeit, dass es Versuche einer gewissen Übergriffigkeit der Europäischen Union auf interne Angelegenheiten gibt, etwa auf das Erziehungssystem und die Kulturpolitik.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Als die Fidesz-Regierung im Jahr 2010 an die Macht kam, fing die Open Society Foundation von George Soros an, in einem nennenswerten Umfang jene zivilgesellschaftlichen Vereinigungen in Ungarn zu finanzieren, die ihrerseits die schärfsten Kritiker der Innenpolitik der Fidesz-Regierung sind. Diese haben es inzwischen geschafft, über ihre transnationalen Verflechtungen auf europäischer Ebene erheblichen Einfluss auszuüben. Von dieser aus versuchen sie ihre innenpolitische Machtlosigkeit zu kompensieren, nämlich durch von ihnen angeregte Einflussnahmen von EU-Institutionen auf Ungarn. Eben das bringt Ursula von der Leyen als „Chefin“ Europas auf das gleiche Plakat mit dem Sohn von Soros. Dessen Open Society Foundations vertreten die Ansicht, dass man liberale – präziser: im angelsächsischen Sinne „liberale“ – zivilgesellschaftliche Vereinigungen gegen konservative Regierungen wie die ungarische in Stellung bringen sollte.

Ist es „übergriffig“, wenn die Europäische Union in Sachen Unabhängigkeit der Justiz oder Medien- und Pressefreiheit die Zustände in Ungarn bemängelt?  

Was die Unabhängigkeit der Justiz betrifft, wird man verschiedene Aspekte unterscheiden müssen. Das Ganze fing damit an, dass die Fidesz-Regierung mit der neuen Verfassung von 2010 die Rolle des ungarischen Verfassungsgerichts sehr beschnitten hat. Ungarn hatte damals immer noch die Verfassung aus kommunistischen Zeiten gehabt. Sie wurde unter wegweisender Beteiligung des ungarischen Verfassungsgerichts wo immer zwingend nötig an die neuen Verhältnisse angepasst. Dabei war es vielfach das Verfassungsgericht, das wesentliche politische Weichenstellungen vornahm. Eben dem wollte die Fidesz-Regierung mit der neuen Verfassung von 2010 ein Ende setzen. Deshalb kann es zu einem schweren Konflikt zwischen Verfassungsgericht und Regierung, der natürlich in anderen Staaten nicht unbemerkt blieb.

Mit welchen Folgen?

Die Regierung, die über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament verfügte, hat in der Auseinandersetzung mit dem Verfassungsgericht einen zwar naheliegenden, doch sehr unverfroren wirkenden Weg beschritten. Regelungen, die das Verfassungsgericht an der Gesetzgebung der Fidesz-Regierung als verfassungswidrig bezeichnete, wurden nämlich einfach zum Teil der Verfassung gemacht, womit der Spielraum des Verfassungsgerichts beschnitten war. Ein anderer Konfliktpunkt betrifft die Haushaltspolitik. Der ungarische Verfassungsgesetzgeber hat nämlich in Form des „Haushaltsrates“ ein besonderes Organ geschaffen, das sicherstellen kann, dass das ungarische Parlament die Staatsausgaben nicht nach Belieben nach oben treibt, sondern sich hier in bestimmten Grenzen zu halten hat. Dessen Tätigkeit wiederum wurde der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen.

Der dritte Streitpunkt ist die Frage, wie das Justizverwaltungssystem einschließlich der Personalpolitik organisiert werden soll. Hier hat die Fidesz-Regierung den Weg beschritten, dass die Fachaufsicht über die Justiz bei der Kurie, dem obersten Gericht, angesiedelt wurde, das Verwaltungswesen des Gerichtssystems, einschließlich der Bestellung der Richter und Gerichtspräsidenten, hingegen bei einem „Landesamt für das Justizwesen“. Dessen Präsident wird vom Parlament gewählt, und zwar mit jener Zweidrittelmehrheit, über welche der Fidesz verfügte. Und weil die Fidesz-Regierung vielfach ein persönlicher Freundeskreis von Kampfgefährten des Ministerpräsidenten aus Studentenzeiten ist, lag der Vorwurf einer parteiischen Politisierung nahe. Das alles zusammen führte zu den weiterhin andauernden Debatten über das Bestehen oder Fehlen von Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Und natürlich rief das NGOs, das Europäische Parlament sowie die EU-Kommission auf den Plan.

Anlass unseres Gespräches ist ein Brief, den Viktor Orbán an EU-Ratspräsident Charles Michel geschickt hat, in dem er droht, die beiden bevorstehenden Beschlüsse zur Ukraine – einmal zu ihrer finanziellen Unterstützung und einmal zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen –  zu blockieren. Zudem fordert er eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland. Warum tut er das als einziges unter 27 Mitgliedern?

Die Entscheidungsregeln der Europäischen Union hinsichtlich ihrer möglichen Erweiterung sind nun so, dass entsprechende Beschlüsse einstimmig getroffen werden müssen. Also macht Ungarn seine Bedenken dahingehend geltend, dass man entsprechenden Beschlussvorlagen einfach nicht zustimmen würde. Hinsichtlich der Ukraine lassen sich die ungarischen Bedenken wie folgt zusammenfassen: 

Erstens handele es sich um ein Land, das sich im Krieg befindet und von dem man nicht weiß, mit welchem Territorialstand es der EU beitreten wird, mit welchem Bevölkerungstand und mit welchen außenpolitischen Belastungen. Zweitens sei in keiner Weise geklärt, wie sich ein Beitritt der Ukraine wohl auf die Finanzierung der EU auswirken würde. Befürchtet wird etwa, dass die Teilnahme der ukrainischen Landwirtschaft an der europäischen Agrarpolitik dazu führen werde, dass im Grunde sämtliche Agrarsubventionen an die Ukraine gehen müssten, was das Aus für viele landwirtschaftliche Betriebe in den anderen EU-Staaten nach sich zöge. Und wenn man insgesamt die Ukraine nach den bisherigen Verteilungsregeln fördern wolle, dann müssten die Beiträge der anderen Mitgliedstaaten zum Haushalt der EU so stark ansteigen, dass sie im Grunde alle zu Nettozahlern würden.  

Deswegen sagt die ungarische Regierung sinngemäß: „Leute, lasst uns nicht den Fehler wiederholen, den wir bei der Türkei gemacht haben, indem wir ihr in Aussicht gestellt haben, dass die Sache ziemlich glatt geht, wenn nur die Kopenhagen-Kriterien erfüllt sind.“ Ungarn möchte also, dass sich die Entscheidungsträger der Europäischen Union erst einmal hinsetzen und strategisch überlegen: Was ist denn unser Ziel der Europäischen Union? Wird ein baldiger Beitritt der Ukraine zur EU den Frieden in Osteuropa stabilisieren oder wird er eher einen weiteren destabilisierenden Konflikt in die Europäische Union hineintragen? Die große Sorge Ungarns ist es, dass sich die Europäische Union hinsichtlich der Ukraine auf einen Weg begibt, an dessen Ende – wie im Fall der Türkei – nur wechselseitige Frustration steht, die niemandem nützt.

Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund die Rolle Ungarns im Ukraine-Krieg? 

Man sollte nicht vergessen, dass Ungarn von Anfang an den Abwehrkrieg der Ukraine gegen Russland unterstützt hat, sämtliche Sanktionen – wenn auch widerwillig – mittrug sowie sich an jenen Finanztöpfen beteiligt hat, aus denen die Ukraine ihre Unterstützung erhält. Ungarn hat aber immer betont, dass solche Sanktionen, die dem Westen mehr schaden als Russland, nicht rational sind. Und wenn der Erfolg von Sanktionen daran bemessen werden sollte, ob sie Russland wohl zum Einlenken zwingen, dann müsse man feststellen, dass sie eben nicht sonderlich erfolgreich sind. Also stellt Ungarn die Sinnhaftigkeit von weiteren Sanktionen in Frage. 

Die ungarische Position beruht im Übrigen auf der Einsicht, dass – ganz gleich, wie der Krieg ausgeht – Russland nicht von der Landkarte verschwinden wird. Vielmehr wird dieses Land weiterhin eine geopolitisch wichtige Rolle in Europa spielen. Also ist die Frage, wie man sich in einem Krieg verhalten soll, an dessen Ende man sich weiterhin irgendwie zu Russland verhalten muss. Soll man in diesem Krieg, wie im Ersten Weltkrieg, auf eine Art „Versailler Friedensvertrag“ abzielen, der dann die Entstehung eines revisionistischen und rachsüchtigen Russland riskiert? Oder sollte man bereits im Krieg die Weichen so stellen, dass man zu einem Frieden gelangt, der den wechselseitigen Interessen dient? 

Sie haben die Argumente gegen einen Beitritt der Ukraine sehr schick und sauber dargelegt. Ich bin mir nicht sicher, ob die ungarische Regierung beim Äußern dieser Bedenken immer so professionell vorgegangen ist. Wenn sie diese kostentechnischen und geopolitischen Punkte konsistent in den Vordergrund gestellt hätte, wäre sie vielleicht glaubwürdiger. Stattdessen behauptet sie zum Beispiel, dass es um die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine gehe. Das ist doch vorgeschoben. Minderheitenrechte sind im Beitrittsverfahren bereits sehr streng geregelt. Außerdem ist der ungarischen Regierung sicherlich auch bewusst, dass der Beitritt nicht gleich in wenigen Monaten erfolgen wird. Es geht offensichtlich um ein Signal an Russland. Dass der Beitritt Unmengen an Geld kosten wird, kann wohl keiner bestreiten. Schließlich beträgt das BIP pro Kopf in der Ukraine ein Zehntel des EU-Durchschnitts. Der Eindruck lässt sich nicht vermeiden, dass diese Geiselnahme des einstimmigen Beschlussverfahrens eindeutig mit den blockierten Geldern in Zusammenhang steht. Es geht der Fidesz-Regierung offensichtlich darum, der EU bzw. dem Westbündnis den Mittelfinger zu zeigen.

Es ist nicht die Eigenart von Fidesz-Politikern, ihre Beweggründe systematisch sowie in diplomatischer Sprache darzulegen. Meist werden sie auch in eher konfrontativen Situationen nach ihren Positionen befragt, oder sie nutzen geeignete Anlässe dazu, besonders pointiert ihre Positionen zu bestimmten Themen darzustellen. Infolgedessen ist eine Wissenschaftlerargumentation wie die meine von ungarischen Politikern nicht zu erwarten. Aber tatsächlich haben jene Dinge, die Sie gerade angesprochen haben, ebenfalls eine wichtige Rolle bei den Positionsnahmen der ungarischen Regierung gespielt.

Werner Patzelt / dpa

Etwa war es so, dass die Ukraine – als sie anfing, sich gegen russische Übergriffigkeit zu wehren – für den Bildungs- und Kulturbereich Gesetze verabschiedet hat, die zwar klar als antirussische Gesetze gedacht waren, die aber, da allgemein formuliert, auch die ungarische Minderheit getroffen haben. Eben dagegen verwahrt sich Ungarn, und wohl nicht ganz zu Unrecht. Österreich als Schutzmacht der Südtiroler würde sich gewiss ebenso gegen mögliche Übergriffigkeiten der italienischen Regierung auf die dortigen Autonomieregeln wehren. Dieses Problem scheint aber inzwischen ausgeräumt zu sein, weil die ukrainische Regierung jüngst ein Gesetz auf den Weg gebracht hat, dass genau diese Klagen Ungarns gegenstandslos macht.

Wie steht es um die Signalwirkung gen Russland?

Signale sendet die Europäische Union seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges ständig aus. Doch der russischen Regierung ist es bestimmt nicht entgangen, dass die USA wohl in absehbarer Zeit die Ukraine nicht mehr mit dem bisherigen Finanzvolumen und Engagement unterstützen werden. Und nach einem möglichen Wegfall der amerikanischen Unterstützung werden die Europäer rasch als recht arme Bettler dastehen, die aus eigener Macht gar nicht in der Lage sind, der Ukraine wirkungsvoll zu helfen.

Ein kluger Politiker sollte für diesen möglichen Fall vorausdenken. Es wäre wohl nicht allzu gut, wenn nach vielen starken Worten die Europäer eben doch mit dem Problem alleingelassen werden, mit einem Russland umzugehen, das die Krim und die Ostukraine besetzt hält und die Annexion zur dauerhaft in Rechnung zu stellenden Wirklichkeit macht.

Wie ist hier die Position der ungarischen Regierung?

Die ungarische Regierung hat vorgeschlagen, einen mehrjährigen Stabilisierungspakt mit der Ukraine zu schließen, in dem wechselseitig die zu erreichenden strategischen Ziele sowie die dafür notwendigen innenpolitischen Maßnahmen festgelegt werden. Nach deren Abarbeitung binnen der vorgesehenen Frist wäre dann geklärt, wie man endgültig weiter verfahren könnte, einschließlich einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Sobald man die ungarische Position in dieser Gänze zur Kenntnis nimmt und sie im von ungarischer Seite wirklich gemeinten Sinn auslegt, wird man schwerlich verkennen können, dass sie durchdacht und realistisch ist. Es scheint, als ob sich die anderen EU-Staaten hier eher von Illusionen und Hoffnungen leiten lassen als von bereitwilliger Einsicht in die Realitäten von diplomatischen und militärischen Machtkämpfen.

Im Frühjahr wurden in Ungarn einige Gesetze verabschiedet, die die Unabhängigkeit der Justiz teilweise wiederhergestellt haben. Von den insgesamt 21,7 Milliarden Euro aus den Kohäsionfonds, die theoretisch Ungarn zustehen, aber von der EU gesperrt worden waren, hatte sie Ende letzten Monats 10 Milliarden in Aussicht gestellt. Versucht die EU damit, Ungarn entgegenzukommen und in der Ukraine-Frage Zugeständnisse zu erreichen?

So stellt sich das politisch dar. Es hat nun über ein Jahr lang intensive Verhandlungen zwischen der ungarischen Regierung und der EU gegeben, bei denen man sich auf bestimmte Maßnahmen geeinigt hat, die Ungarn ergreifen muss. Anschließend hat die Europäische Union noch viele weitere Forderungen nachgeschoben. Allmählich scheinen aber alle mit Fug und Recht einforderbaren Schritte von ungarischer Seite gegangen zu sein. Nach Erfüllung von gestellten Bedingungen muss die EU nun tatsächlich jene Gelder fließen lassen, die Ungarn zustehen, wenn sie nicht ihrerseits ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof riskieren will.

Dieses ganze Verfahren ist aber nicht einfach ein politischer Kuhhandel, bei dem die EU den Ungarn sinngemäß sagte: „Da ihr euch trotz guten Zuredens hinsichtlich der Ukraine um keinen Millimeter bewegt, obwohl wir da eure Unterstützung brauchen, bestechen wir euch – sozusagen – mit den bislang zurückgehaltenen EU-Mitteln.“ Im Übrigen ist es ein offenes Geheimnis, dass die Art und Weise, in der NGOs – von LGBTQ bis hin zum Bildungswesen – Einfluss auf die ungarische Regierung zu gewinnen versuchen, genau die ist, dass man eine Rechtsnorm ausfindig macht, aus der sich – dank passender Interpretation – vom Europäischen Gerichtshof eine Rechtsverletzung Ungarns ableiten lässt, in Bezug auf die man dann den Rechtsstaats- und Konditionalitätsmechanismus gegen Ungarn ins Werk setzen kann.

Mit dem von der Kommission dann praktizierten Vorenthalten von EU-Mitteln üben faktisch dann die derlei herbeiführenden NGOs Druck auf die ungarische Regierung aus, beschaffen sich also auf diese Weise von der europäischen Ebene her jene Macht, die ihnen innenpolitisch eben fehlt. Genau das ist der politische Mechanismus hinter der ganzen Sache – und viel weniger eine Art Bestechung der ungarischen Regierung durch die dann doch erfolgende Zuweisung zuvor zurückgehaltener EU-Mittel.

Die gesperrten EU-Gelder und die Ukraine-Beschlüsse haben also nichts miteinander zu tun?

Sie stehen im soeben beschriebenen politischen Wirkungszusammenhang, bei dem sich Innenpolitik mit Europapolitik und Außenpolitik verbindet. Und natürlich läuft in der Politik alles meist auf einen levantinischen Teppichhandel hinaus. Natürlich weiß man seitens der EU, dass es für Ungarn eine Frage von Gerechtigkeit und eigenem Durchsetzungsvermögen ist, dass dieses Land die ihm zustehenden Mittel auch allmählich bekommt. Und zugleich wissen die EU-Entscheidungsträger auch, dass es ohne ein Ja von Ungarn mit dem ukrainischen Beitrittswunsch nicht vorangeht.

Folglich wird jeder vernünftige Politiker darauf achten, dass man die klimatischen Rahmenbedingungen der ohnehin schwierigen Verhandlungen so ausgestaltet, dass man politiktypische Geschäfte auf Gegenseitigkeit informell und so betreibt, dass man öffentlich jederzeit behaupten kann, sachlich gar nicht Zusammengehörendes werde doch eigentlich gar nicht vermengt. Im Übrigen weiß sich Ungarn hier in der Rolle des Stärkeren und nicht eines Bittstellers, der erst einmal untertänigst beweisen müsse, dass er gar nicht so übel sei, wie das ständig behauptet wird. Anders ausgedrückt: Mit der Politik ist es wie mit einer Käserei. Auch da sollte man als Außenstehender nicht allzu scharf hinsehen, sondern es für ausreichend halten, wenn der Käse am Ende gut schmeckt.

Ungarn will seine Vetomacht auch gegen den Nato-Beitritt Schwedens einsetzen. Wie lässt sich das erklären, wenn nicht dadurch, dass es der ungarischen Regierung irgendwie schon darum geht, Sand im Getriebe der EU bzw. des Westens zu bleiben? Und ob die ungarische Regierung die Sanktionen gegen Russland wirklich vollumfänglich mitträgt, ist auch fragwürdig, weil für reiche Russen, die ihr Geld gerne in Immobilien in europäischen Hauptstädten investieren, Budapest das neue London oder Paris zu sein scheint. Über die Türkstream-Pipeline bezieht Ungarn sowieso nach wie vor russisches Gas.

Dass Ungarn seine Energie aus Russland bezieht, ist doch nichts Neues. Und weil Ungarn – als Erbe der sowjetisch herbeigeführten Wirtschaftsverflechtung – keine Leitungssysteme für andere Energiequellen als Gas aus Russland hat, ist das auch alternativlos. Eine Südverbindung – die Nabucco-Pipeline, die um Russland herum Erdgas nach Ungarn geliefert hätte – kam nämlich auf westliches und vor allem deutsches Betreiben hin nicht zustande. Und was Grundstücks- oder Immobilienkäufe von russischen Magnaten in Ungarn betrifft, müssen sich eben investigative Journalisten ans Werk machen und gut recherchierte Texte veröffentlichen, damit man über diese Dinge präzise reden kann.

Womit wir aber erneut auch beim Sanktionsthema wären.

Ungarn wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass diese Sanktionen Europa mehr schaden als Russland. Etwa sind die Einnahmen Russlands aus seinen Erdöl- und Erdgasgeschäften nicht gesunken, sondern sogar gestiegen, weil man das Gas inzwischen zu höheren Preisen als früher verkaufen kann. Das Flüssiggas etwa, das wir einführen, ist in vielen Fällen russisches Erdgas, das zunächst in Indien verflüssigt worden ist und bei uns dann zu großen Kosten wieder zu Gas gemacht wird. Gleichwohl hat Ungarn die ganzen Sanktionen bislang mitgetragen, und zwar nicht aus Überzeugung, sondern allein aus Solidarität.

Und das Thema Schweden?

Hinsichtlich des Streits um die Nato-Mitgliedschaft Schwedens vergisst die ungarische Regierung nicht, dass sich Schweden jahrelang – neben Deutschland – als ein Hauptkritiker Ungarns hervorgetan hat. In den Augen der ungarischen Regierung waren viele jener Vorwürfe nicht gerecht. Folglich nutzt Ungarn diesen Anlass, um sich gleichsam zu rächen und dabei bequem hinter der Türkei zu verstecken. Ungarn wird nämlich einem Nato-Beitritt Schwedens nichts in den Weg legen, sobald die Türkei ihr Ja-Wort gegeben hat. Ob das guter Stil ist? Nein. Aber die Vorgeschichte, nämlich die Behandlung Ungarns durch die anderen Nato- bzw. EU-Staaten, war eben auch kein guter Stil. Am besten wäre es in dieser Lage, mit diesem Foulspiel Schluss zu machen und anzufangen, redlich sowie konstruktiv miteinander umzugehen.

Das Gespräch führte Shantanu Patni.

Lesen Sie den zweiten Teil des Interviews hier.

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