Großbritannien - Das Land des Durchregierens

Die britische Parlamentssouveränität, die mit dem Austritt aus der EU zurückgewonnen werden sollte, ist mehr Folklore als Wirklichkeit. Denn britische Regierungen verfügen über eine in Deutschland kaum vorstellbare Machtfülle.

Britischer Premierminister Rishi Sunak / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

So erreichen Sie Christian Schnee:

Anzeige

Wenn Reichskanzler Bismarck erklärte, wie er Politik betrieb, dann sprach er von der Kunst des Möglichen. Damals wie heute gilt: Wie viel und was möglich ist im politischen Geschäft, hat mit den Akteuren genauso zu tun wie mit den Spielregeln.

Fehlt es an Mehrheiten, werden politische Gegner in Koalitionen gezwungen, in denen jeder Protagonist in eine andere Richtung zieht, was den Radius des Möglichen reduziert. Das lässt sich auch nicht damit kompensieren, dass etwa die Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen den Oppositionsparteien einen „Pakt“ zur Zusammenarbeit anbietet. Das Szenario spiegelt das Dilemma zersplitterter Parteiensysteme wider.

Mangelt es an exekutiver Handlungsfähigkeit, dann bröckelt auch die politische Legitimität, die sich Regierungen bei den Bürgern immer wieder neu verdienen müssen, indem sie sich als Problemlöser empfehlen. Um dem vorzubeugen, bestellen unsere italienischen Nachbarn in solchen Notzeiten und wenn der Parteienstreit die Regierung mal wieder lahmlegt einen parteilosen Technokraten ins Amt des Regierungschefs. Zuletzt war das Mario Draghi, der sich die Unterstützung der Parlamentsmehrheit in die Hand versprechen ließ. Aus Sorge, disparate Koalitionsregierungen neigten zur Instabilität und faulen Kompromissen, die den Problemen des Landes nicht gerecht werden, hat Griechenland sein Wahlgesetz geändert.

Durchregieren ist mit dem deutschen politischen System nicht vereinbar

Der Partei, die mit dem stärksten Ergebnis aus der Wahl hervorgeht, werden bis zu 50 Bonus-Mandate zugeschlagen, damit es für die absolute Mehrheit reicht und eine Koalition dem Land erspart bleibt. Das erlaubt nun Premierminister Kyriakos Mitsotakis mit einer klaren, arbeitsfähigen Mehrheit seine Versprechen an die Wähler abzuarbeiten.

So stellte sich auch Angela Merkel ihre Kanzlerschaft vor, als sie im Wahlkampf 2005 davon sprach, sie wolle klare Mehrheitsverhältnisse, um „durchregieren“ zu können. Fünf Jahre später schon war die Kanzlerin zur Einsicht gelangt, dass sich das Durchregieren nicht mit dem deutschen politischen System vereinbaren lasse, wie sie der „Zeit“ verriet. Es folgten Jahre mehr oder weniger unbefriedigender politischer Kompromisse, beachtlicher christdemokratischer Selbstverleugnung und politischer Tauschgeschäfte mit Koalitionspartnern unterschiedlicher ideologischer Couleur.

Statt „Durchregieren“ kam „auf Sicht fahren“, also das Tüfteln an den Herausforderungen des Tages und der Verzicht auf den großen Wurf. Dass die aktuelle Bundesregierung sowohl mit dem großen politischen Wurf, im Berliner Regierungsviertel „Zeitenwende“ genannt, als auch mit dem Tagesgeschäft überfordert ist, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es den Partnern wider Willen an gemeinsamen Überzeugungen fehlt.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Wie es besser geht, zeigen unsere britischen Nachbarn. Nach den Qualen der Brexitverhandlungen und den Eskapaden Boris Johnsons ist ins Regierungsviertel von Westminster nicht nur Ruhe zurückgekehrt, sondern auch die Effizienz, die das britische politische System vor 2016 auszeichnete. Das hat vor allem mit dem Mehrheitswahlsystem zu tun, das immer wieder große Majoritäten einer Partei produziert.

Boris Johnsons Konservative hatten nach den letzten Wahlen 2019 sogar 80 Parlamentssitze mehr als die Oppositionsparteien. Zwischen 1979 und 2010 folgte eine absolute Mehrheit auf die nächste. Das war die Voraussetzung dafür, dass Margaret Thatcher und später Tony Blair eine radikale Modernisierung des Landes durchsetzen konnten.

Thatcher privatisierte den Staatssektor und brach den Widerstand der Gewerkschaften. Später richtete Blair Regionalparlamente für Wales und Schottland ein, reformierte die öffentliche Verwaltung und machte das Hochschulstudium gebührenpflichtig. Das war ihm möglich dank der 418 Mandate, die seine Labour-Partei zuvor in den Wahlen bei einem Stimmanteil von 43,2 Prozent erreicht hatte. Zum Vergleich: Die beiden Oppositionsparteien, 165 Abgeordnete der Tory-Fraktion und 46 Liberaldemokraten, konnten Blair nicht daran hindern, in den kommenden Jahren sein Wahlprogramm abzuarbeiten.

House of Lords taugt nicht als Blockadeinstrument

Zur gleichen Zeit in Berlin steckte Helmut Kohls Reformpolitik fest, weil eine rot-grüne Mehrheit in den Bundesländern die Agenda seiner schwarz-gelben Regierung im Bundesrat blockierte und Kohl die „rote Karte“ zeigte, wie es der sozialdemokratische Parteivorsitzende Björn Engholm damals formulierte.

Ähnlichen Widerstand braucht Premierminister Rishi Sunak von der zweiten Kammer des britischen Parlaments, dem House of Lords, nicht zu fürchten. Rund 800 Lords und Ladies verändern und verbessern Gesetzestexte. Als Blockadeinstrument taugt ihr Gremium aber nicht, das sich seit der Nachkriegszeit in der sogenannten Salisbury-Übereinkunft dazu selbstverpflichtet, Gesetzesvorhaben, die sich im Wahlprogramm der Regierungspartei finden, durchzuwinken. Andere Initiativen darf das Oberhaus laut Parlamentsgesetz von 1949 zwar um bis zu einem Jahr verzögern. In der Praxis kommt es dazu selten, weil den ungewählten Herrschaften der Aristokratenkammer die demokratische Legitimation fehlt, um die Regierung herauszufordern.

Britische Parlamentssouveränität ist mehr Folklore als Wirklichkeit

Die britische Parlamentssouveränität, die mit dem Austritt aus der EU zurückgewonnen werden sollte, ist mehr Folklore als Wirklichkeit. Das gewählte Unterhaus – House of Commons – ist weitaus zahmer als Legislativen in anderen Ländern und lässt sich seine Tagesordnung, also Auswahl, Reihenfolge und den Zeittakt seiner Themen und legislativen Vorhaben, von den Mitarbeitern des Premierministers vorschreiben. Der gesteht den Fraktionen für ihre Themen jedes Jahr nur 35 Tage zu.

Die Durchsetzungsstärke der Regierung wird besonders sichtbar, wenn das Schatzamt im Haushaltsgesetz seine Pläne für Steuern und Ausgaben im Parlament vorstellt. Mit der parlamentarischen Unterstützung der Regierungsfraktion für das Machwerk, an dessen Erstellung Abgeordnete nicht beteiligt werden, kann die Regierung schon deshalb rechnen, weil das Votum immer auch als Vertrauensabstimmung über den Premierminister gilt.

Deshalb gelten die Worte des vormaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, wonach kein Gesetz das Parlament so verlässt, wie es hineingegangen ist, für Haushaltsbeschlüsse in Westminster nicht. Das macht es Regierungen an der Themse leichter, Pläne für Ausgaben und Einnahmen aus einem Guss zu erstellen. Die Blockaden, mit denen die Haushaltspolitiker im amerikanischen Kongress ihren Regierungen Zugeständnisse abpressen, sind unter den Finanzpolitikern in Westminster unvorstellbar.

Ein Grundgesetz gibt es in Großbritannien nicht

Die Leichtigkeit, mit der britische Regierungen ihre jeweilige politische Agenda in Gesetze gießen können, wird nicht einmal von dem politischen Korsett einer kodifizierten Verfassung behindert. Denn ein Grundgesetz, dessen Vorgaben sich nur mit qualifizierten Mehrheiten aller Kammern verändern lassen, gibt es in Großbritannien nicht. Es gilt immer das, was das Parlament auf Anweisung der Regierung mit einfacher Mehrheit beschließt. So sieht es auch der Historiker Peter Hennessy und mahnt, dass es „good chaps“ brauche, wörtlich „anständige Kerle“, also Männer und Frauen, die Sorgfalt und Respekt zeigten im Umgang mit der fragilen Ordnung.

Wenn es ein Regierungschef darauf anlegt, Politik und Ordnung radikal zu verändern, dann gibt ihm die ungeschriebene Verfassung die Freiheit, eben das zu tun. Für die Abschaffung des Individualrechts auf Asyl etwa, wie sie in Deutschland der CDU-Politiker Thorsten Frei jüngst vorschlug, brauchte die Regierung Sunak weder eine Zweidrittelmehrheit noch eine Verfassungsänderung.

Daran müssen auch die Richter des Obersten Gerichtshofs denken: Das letzte Wort im politischen Meinungsstreit hat der Premierminister dank seiner Mehrheit im Unterhaus – nicht die Männer und Frauen in Roben. Die agieren deshalb zurückhaltend, und wenn sie in jüngster Vergangenheit tatsächlich mal die Regierung in die Schranken verwiesen, drohte man ihnen ominös in den Korridoren von Nr. 10 Downing Street, das Justizministerium könne alsbald das Berufungsverfahren der Richter zur höchsten Instanz des Landes überarbeiten.

„Gewählte Diktatur“

Dass die Schotten und Waliser eigene Regionalregierungen haben, verdanken sie somit auch keiner Klausel in einem Verfassungsdokument, sondern dem politischen Willen von Premierminister Tony Blair, der dank einer komfortablen absoluten Mehrheit seiner Labour-Partei im Unterhaus im Jahr 1999 parlamentarische Versammlungen und regionale Exekutiven in den Teilnationen des Königreiches etablieren konnte.

Verfassungsreformen dieser Art lassen sich, wenn es der Amtsinhaber in Downing Street 10 so will, auch revidieren. Premierministerin Margaret Thatcher machte es vor. Ihr war der stramm linke Bürgermeister von London, Ken Livingstone, unerträglich, nicht zuletzt, weil das Stadtoberhaupt aus symbolischen Gründen und zur Provokation seiner Regierungschefin mitten im Kalten Krieg London zur nuklearwaffenfreien Zone erklärt hatte. Thatcher revanchierte sich, indem sie das Amt des Bürgermeisters in der Hauptstadt 1986 abschaffte. Diese Durchsetzungskraft der Zentralregierung veranlasste den Konservativen Lord Hailsham schon ein Jahrzehnt zuvor, von einer „gewählten Diktatur“ zu sprechen.

System von Westminster macht effektives Regierungshandeln möglich

Tatsächlich ist die politische Ordnung in Großbritannien den Wünschen einer starken Regierung unterworfen. Nicht einmal die Zustimmung seiner Partei müsste Premierminister Sunak für seinen politischen Kurs einholen. Parteitage der Konservativen sind längst keine Abstimmungsgremien mehr, sondern choreographierte Jubelveranstaltungen. Selbst die gewählten Regionalregierungen in Edinburgh, Cardiff und Belfast können die Politik eines britischen Regierungschefs nicht ausbremsen.

Das gelingt nicht einmal dem König, der in privaten Audienzen mit seinem Premierminister zwar raten und mahnen darf. Das ist dann aber auch alles. Königin Anne war der letzte Monarch, der einem Gesetzestext der Regierung die Unterschrift verweigerte – vor 300 Jahren. Heute sind die Herrscher in Buckingham Palace bestenfalls Sprachrohre des Premierministers, dessen Büro Charles III. den Inhalt seiner öffentlichen Reden diktiert.

Die einen sehen in dieser Machtfülle britischer Regierungen eine Chance „durchzuregieren“, den anderen ist unwohl bei dem Gedanken, dass die Exekutive ohne Schranken agiert. Sicher ist: Das System von Westminster macht effektives Regierungshandeln möglich und erlaubt es der Exekutive, auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen zu reagieren.

Anzeige