Großbritanniens Premierminister - „Get Brexit done“: Die Bilanz nach drei Jahren Boris Johnson

Premierminister berichten von dem langen Atem, den sie benötigen, um Partei, Verwaltung und Land in eine neue Richtung zu steuern. Erfolgreiche Frauen und Männer an der Spitze der Regierung zeichnen sich gewöhnlich durch Geduld aus, dicke Bretter zu bohren. Eigenschaften, mit denen Boris Johnson seit Übernahme der Amtsgeschäfte des britischen Premierministers nie aufgefallen ist. Im Gegenteil: Ihn zeichnet Sprunghaftigkeit ebenso aus wie überzogene Versprechen und wenig Neigung, die politische Realität zu akzeptieren.

Anfang vom Ende? Boris Johnson in Downing Street / dpa
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Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Vom Tag seiner Regierungsübernahme an ließ Boris Johnson keinen Zweifel daran, dass er die Regeln der politischen Physik neu definieren und gegen schier unüberwindbare Widerstände sein Land aus der EU führen wollte. Für dieses Ziel ging er mit seinen Gegnern, auch in der eigenen Fraktion, mit beispielloser Rücksichtslosigkeit um. Sogar Nicholas Soames, immerhin ein Enkel Winston Churchills, wurde von Johnson gemeinsam mit anderen aus der Fraktion verbannt, weil sie im Sommer 2019 ihre Zweifel am Brexit-Plan des neuen Premierministers öffentlich gemacht hatten.

Um sich weitere Debatten über den Austritt aus der EU zu ersparen, löste Johnson schließlich vorübergehend das Parlament auf und legte sich dafür mit dem Verfassungsgericht an. Nicht zuletzt dieser Inszenierung politischer Chuzpe und unerbittlicher Durchsetzungskraft wegen galt der Populist Johnson den Anhängern des Brexit spätestens jetzt als Erlösergestalt. Der Abgeordnete Bill Cash verstieg sich später sogar dazu, seinen Parteivorsitzenden während einer Parlamentsdebatte mit Alexander dem Großen zu vergleichen.

Globalisierung und offene Grenzen als Bedrohung

Der ehemalige Journalist und TV-Unterhalter Johnson hatte in der Brexit-Kampagne eine einmalige Allianz traditioneller Konservativer mit Wählern aus sozial schwachen Gruppen geschmiedet, die Globalisierung und offene Grenzen als Bedrohung empfanden und nicht ohne Grund seit langem argwöhnten, die liberale Elite in Westminster habe sie vergessen. Johnson, ein Absolvent des Eton College, der in Oxford Latein und Altgriechisch studierte, gelang gegen alle Prognosen, woran Theresa May, seine emsige und akribische Vorgängerin im Amt des Premierministers, gescheitert war.

Gegen viele Warnungen und Widerstände, nicht zuletzt in den Reihen der eigenen Partei, verhandelte er mit der EU einen Brexit-Deal und sicherte so den Ausstieg des Königreichs aus der europäischen Gemeinschaft. Eine überwältigende Mehrheit bei den Unterhauswahlen im Dezember 2019 war die Grundlage für seine ehrgeizige politische Agenda. Eine Radikalreform des öffentlichen Dienstes stand ebenso auf dem Programm wie die Privatisierung des öffentlichen Rundfunks.

 

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Vor allem dem wirtschaftlich rückständigen und verarmten Norden Englands wollte seine Regierung mit Investitionen, Unternehmensansiedlungen und neuer Infrastruktur den Anschluss an den wohlhabenden Süden des Landes ermöglichen. Ein langfristiges Vorhaben, mit dem Johnson seine Mehrheit unter den Brexit-Anhängern über den nächsten Wahltermin hinaus sichern wollte. Denn an seine Wiederwahl 2024 dachte Boris Johnson bis zuletzt. Nur Tage vor seinem Rücktritt ließ er wissen, dass er sich auch am Ende dieses Jahrzehnts noch in Downing Street sehe.

Sichtbare Spuren in der konservativen Partei

Zweieinhalb Jahre später fällt die Bilanz der Regierungszeit mager aus. Vielen Briten bleibt die Zeit allenfalls ihrer vollmundigen Ankündigungen wegen in Erinnerung. So war etwa für die 40 neuen Krankenhäuser, die Johnsons Regierung bis zum Ende des Jahrzehnts bauen wollte, nicht einmal die Finanzierung geklärt. Ein ehrgeiziger Umbau der Staatsverwaltung blieb bis zuletzt ohne sichtbaren Fortschritt, und auch die immer wieder angekündigte grundlegende Neuordnung der Sozialfürsorge kam nicht voran.

Die sichtbarsten Spuren wird Johnson in der konservativen Partei hinterlassen. Die Tories, die sich für die erfolgreichste Regierungspartei in der demokratischen Welt halten, waren zu Beginn seiner Amtszeit tief zerstritten. Die ideologischen Grabenkämpfe in den eigenen Reihen wurden seither nicht überwunden, bestenfalls vorübergehend überdeckt, indem Johnson wahlweise den Wünschen der Nationalisten nach geschlossenen Grenzen nachgab, die Progressiven mit einer ambitionierten Klimapolitik befriedete, den Abgeordneten aus sozial schwachen Wahlkreisen großzügige staatliche Investitionen versprach und den ordoliberalen Verteidigern von Thatchers Erbe zusagte, die Unternehmenssteuern zu senken und den Sozialstaat zu reformieren. Wofür die Tories zuletzt standen, wusste der Taktiker Johnson selbst nicht zu beantworten.

Get Brexit done

Klarheit hatten die Briten bei Premierminister Johnson so lange, wie er seine Politik auf den Slogan „Get Brexit done“ (Lasst uns den Brexit machen) reduzieren konnte. Für die Details der Umsetzung hat er seither so wenig Interesse gezeigt wie für die Klagen der Unternehmen, die sich seit dem Austritt mit bürokratischen Zollbestimmungen herumschlagen müssen, wenn sie ihre Produkte weiterhin auf den Kontinent exportieren wollen.

Die komplexen Regeln, die den Handel mit Nordirland bestimmen, erzürnen vor allem die Bürger und Unternehmer in der britischen Provinz Ulster. Ihnen hatte der Premierminister versprochen, das mit der EU vereinbarte Nordirland-Protokoll, das den neuen Status der Provinz nach dem Brexit regelt, werde den Warenverkehr über die irische See hinweg nicht stören. Die Realität sieht anders aus. Auf diesen zynischen Umgang mit der Wahrheit, die skrupellose Schönfärberei sowie unentwegte Verdrehungen und Übertreibungen verwiesen zuletzt die schottischen Nationalisten, die im kommenden Jahr erneut über die Unabhängigkeit ihres Landes abstimmen lassen wollen. Ihrer Chefin, Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon, fiel es leicht, sich als gewissenhafte Sachwalterin ihrer Bürger und damit als Gegenmodell zu ihrem Londoner Kollegen zu präsentieren.

Katastrophale Niederlagen für die Tories

Zuletzt kamen auch unter Johnsons Anhängern Zweifel an seinem Charakter und seiner Fähigkeit zur politischen Ernsthaftigkeit auf. Als man sich in Downing Street in immer neuen, teils widersprüchlichen Rechtfertigungen für die Partys verhedderte, zu denen während des Covid-Lockdowns in den Amtssitz Johnsons geladen worden war, verloren auch vormalige Anhänger und Gefährten aus der Brexit-Kampagne den Glauben, Johnson sei den Anforderungen des Amtes gewachsen. Wie sehr die Wähler von ihm abgerückt waren, war spätestens dann unübersehbar geworden, als mehrere Nachwahlen für vakante Sitze im Unterhaus in katastrophalen Niederlagen für die Tories endeten. 

Dass der Niedergang des einstmaligen Lieblings der Talkshows und Parteitage nicht noch rascher kam, verdankt Johnson der Covid-19-Pandemie und seinem politischen Gegner. Sir Keir Starmer, der Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei, wird sogar von seinen Kollegen im Fraktionsvorstand als langweilig bezeichnet. Die Mehrheit der Wähler kann ihn sich nicht als Premierminister vorstellen.

Noch mehr aber hat Johnson aus dem Kampf gegen die Pandemie politisches Kapital geschlagen. Zwar gilt sein Zögern, über das Land einen Lockdown zu verhängen, als Grund dafür, dass in Großbritannien mehr Menschen mit Covid-19 starben und die Volkswirtschaft größeren Schaden nahm als in vielen anderen europäischen Ländern. Aber dieser Fehlstart im Pandemiemanagement war schnell vergessen, als Großbritannien früher und schneller als die Staaten der EU mit der Massenimpfungen gegen das Virus begann. Ein Erfolg, den Johnson zu Recht für sich reklamiert.

Zehntausende Flüchtlinge sollten ausgeflogen werden

Seither versuchte er, die konservative Basis bei Laune zu halten. So bemüht sich etwa das Innenministerium mit aufsehenerregenden Initiativen darum, die Flüchtlinge zu stoppen, die jedes Jahr in größerer Zahl mit Booten den Ärmelkanal überqueren und die englische Südküste erreichen. Johnsons Regierung entsandte zunächst Schiffe der Royal Navy, und als das nichts nutzte, unterzeichnete man einen Vertrag mit der Regierung des afrikanischen Staates Ruanda. Zehntausende Flüchtlinge, die Englands Strände erreichten, sollten dorthin ausgeflogen werden, versprach Boris Johnson gewohnt bombastisch. Bis Jahresende, so schätzen Beamte des Innenministeriums, werden es vermutlich nicht einmal 100 sein.

Wenn in den kommenden Jahren Historiker die Stärken und Schwächen seiner Amtszeit sezieren und ihr Urteil sprechen werden über die kurze Ära des Boris Johnson, werden Streit und Polemik sich vermutlich unvermindert fortsetzen. Unterm Strich wird bleiben, dass Johnsons Regierung das Vereinigte Königreich aus der EU geführt hat. Sein größtes Versprechen, den Brexit durchzusetzen, hat er gehalten. Das ist seine historische Leistung – gefeiert von den einen, beklagt von den anderen –, mit der Boris Johnson die Geschichte und die Zukunft seines Landes mehr geprägt hat als viele seiner Vorgänger.

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