EU und Flüchtlinge - „Da stehen doch keine Invasoren!“

Gibt Europa an den Außengrenzen seine Werte preis? Hat der Liberalismus eine Zukunft? Darüber streiten der ungarische Botschafter Péter Györkös und der ehemalige Grünen-Politiker Ralf Fücks.

Verliert die EU ihren moralischen Kompass? / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Herr Györkös, an der griechisch-türkischen Grenze spielen sich dieser Tage wieder Dramen ab, der Migrationsdruck belastet die Außengrenzen der EU. Aber im Gegensatz zum Jahr 2015 scheint Europa diesmal die Schotten dicht zu machen. Ist das eine Bestätigung von Viktor Orbáns Antimigrationspolitik?
Péter Györkös: Ich würde Viktor Orbáns Ansatz nicht als „Antimigrationspolitik“ bezeichnen, sondern schlicht als europäische Politik. Europa kann nur überleben, wenn es die Kontrolle an seinen Außengrenzen aufrechterhält – nichts anderes hat die ungarische Regierung seit dem ersten Krisengipfel im April 2015 ständig gesagt. Leider hat es mehr als viereinhalb Jahre gebraucht, bis die damalige ungarische Position endlich Mainstream geworden ist.

Sie sehen die ungarische Position jetzt also bestätigt?
Györkös: Absolut. Und ich weiß, dass diese Position durch die Macht der Bilder moralisch permanent herausgefordert wird. Aber Grenzschutz ist nun einmal keine schöne Aufgabe.
Ralf Fücks: Das sind doch keine Invasoren, die da an unserer EU-Grenze stehen!

Herr Fücks, verliert die EU in Griechenland oder generell an der Migrationsfront ihren humanistischen Kompass?
Fücks: Ja, ich sehe die Gefahr, dass wir vollständig auf Abwehr von Flüchtlingen umschalten und nebenbei das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonventionen über Bord werfen. Wenn wir aus einer mutigen Entscheidung von Angela Merkel im Jahr 2015, die wir in Deutschland trotz aller Unkenrufe ganz gut verkraftet haben, jetzt in eine Politik der „Festung Europa“ verfallen, wäre das ein dramatischer Rückschritt. Und zwar nicht nur ein humanitärer, sondern auch ein völkerrechtlicher Rückschritt. Gegenwärtig werden wir an der türkisch-griechischen Grenze unseren europäischen Werten untreu.

Ihrer These, Deutschland habe die Massenzuwanderung gut verkraftet, kann man mit guten Gründen auch widersprechen. Nicht zuletzt ist deswegen die AfD so groß geworden.
Fücks: Natürlich ist Masseneinwanderung mit Konflikten verbunden. Aber bis hin zur Integration in den Arbeitsmarkt hat sich die Zuwanderung seit 2015 erfolgreicher entwickelt, als viele befürchtet haben. Viele Betriebe sind froh über die neuen Mitarbeiter. In den Kommunen funktioniert das Zusammenleben in der Regel passabel bis gut. Fraglos gibt es unter Flüchtlingen wie unter Einheimischen unangenehme Menschen – es gibt kriminelle Elemente, es gibt religiöse Fundamentalisten und politische Extremisten. Aber das ist eine kleine Minderheit. Daraus ein Schreckensgemälde von der Bedrohung Europas durch Migranten zu machen, empfinde ich als demagogisch.

Péter Györkös / privat

Györkös: Nein, das hat nichts mit Demagogie zu tun, sondern mit Tatsachen. Zur rechtlichen Ebene, also zu dem Punkt, ob Völkerrecht und Genfer Flüchtlingskonvention preisgegeben werden, möchte ich festhalten: Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention legt ganz klar fest, dass Menschen die grüne Grenze dort überqueren dürfen, wo sie direkt aus einer Region kommen, in der ihr Leben in Gefahr ist. Genau das ist aber in der Türkei nicht der Fall. Zweitens: Europa muss eine Festung werden, weil es um die Kontrolle der eigenen Außengrenzen geht. Das ist nicht nur aus sicherheitspolitischen Aspekten wichtig, sondern auch aus wirtschaftlichen Erwägungen. Es geht um den Schutz des europäischen Wirtschafts- und Lebensmodells.

Fücks: Es plädiert doch niemand für völlig offene Grenzen oder völlig unkontrollierte Zuwanderung!
Györkös: Doch, Herr Fücks! Zum Beispiel in Ihrer eigenen Partei, bei den Grünen. Die Jugendorganisation der Grünen plädiert genauso für offene Grenzen wie die bündnisgrüne Europa­abgeordnete Ska Keller.

Fücks: Idealistische junge Leute können ruhig offene Grenzen fordern. Aber unter den verantwortlichen politischen Kräften in Deutschland, Ska Keller eingeschlossen, ist doch niemand, der unkontrollierte Zuwanderung will. Der Punkt ist ein ganz anderer: Wir schauen monatelang zu, wie Assad und Putin die Zivilbevölkerung in Idlib bombardieren, wie sich eine Million neuer Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze stauen. Jetzt so zu tun, als wäre das nur ein Problem der Türkei, ist zynisch und realitätsfremd. In einer solchen Situation auf Flüchtlinge zu schießen, anstatt zumindest eine begrenzte Zahl von ihnen nach Europa zu bringen, gleichzeitig die Lage in den Flüchtlingslagern zu verbessern und alles zu tun, um den Bombenkrieg zu stoppen, empfinde ich als Versagen europäischer Politik.

Herr Györkös, da schwingt der alte Vorwurf mit, die ungarische Regierung kassiere zwar Milliarden an Strukturhilfen von der EU, weigere sich auf der anderen Seite aber hartnäckig, an der solidarischen Verteilung von Flüchtlingen in Europa teilzunehmen.
Györkös: Solidarität beginnt bei der Verantwortung. Und Ungarn hat mit dem Schutz der EU-Außengrenzen ein Höchstmaß an Verantwortung gezeigt – trotz der beleidigenden Beschimpfungen im Laufe der zurückliegenden vier Jahre. Vielleicht sollte man auch einmal darüber nachdenken, ob man sich als solidarisch erweist, wenn man einige Hundert Migranten aufnimmt, die dann zwei Wochen später sowieso in Deutschland sind. Oder ob es nicht solidarischer ist, Zehntausenden vor Ort in Afrika, in Syrien und im Nahen Osten zu helfen. Wenn Sie sich anschauen, wie groß der ungarische Anteil an den internationalen Missionen in Afghanistan, im Irak und in anderen Teilen der Welt ist, kann von mangelnder Solidarität keine Rede sein.

Ralf Fücks / dpa

Fücks: Es geht aus meiner Sicht nicht darum, ob Ungarn ein paar Hundert Flüchtlinge aufnimmt oder nicht. Ich habe es immer für falsch gehalten, eine mechanische Quotierung in der EU erzwingen zu wollen. Wir sollten besser Koalitionen der Willigen bilden, angefangen im eigenen Land. Also zum Beispiel die Kommunen fragen, wie viele Flüchtlinge sie bereit sind aufzunehmen. Mir geht es um etwas Grundlegenderes, Herr Györkös. Nämlich darum, dass die ungarische Regierung die eigene Bevölkerung mit regelrechten Angstkampagnen aufgewiegelt hat nach dem Motto: Millionen Migranten aus Afrika und Asien überschwemmen Europa, das christliche Abendland geht unter. Da wurde ein Bild gezeichnet, wonach Menschen mit einer anderen Hautfarbe und einer anderen Religion eine Bedrohung darstellen. Das ist in meinen Augen eine rassistische Politik, die Ihre Regierung da betrieben hat.

Györkös: Den Vorwurf von Rassismus muss ich wirklich entschieden zurückweisen. Wenn Sie Ungarn anschauen mit seinen 13 nationalen und ethnischen Minderheiten, die seit Jahrhunderten zusammenleben, dann ist das auch inhaltlich grundfalsch. Aber eines wollen wir sicherlich nicht, nämlich eine Einwanderungsgesellschaft werden. Wir wollen kein Multikulti. Wir teilen eher die Auffassung von Helmut Schmidt, dass Multikulti eine Illusion von Intellektuellen ist.

Herr Fücks, hat nicht sogar die deutsche Bundeskanzlerin noch vor ein paar Jahren öffentlich behauptet, dass Multikulti gescheitert sei?
Fücks: Ich glaube, dass das ein sehr verkürztes Verständnis einer multikulturellen Gesellschaft war. Nämlich das einer fragmentierten Gesellschaft, die keine gemeinsamen Werte und Normen kennt, sondern in diverse Parallelgesellschaften zerfällt. Das ist aber aus meiner Sicht ein Zerrbild. Wir leben längst in einer multikulturellen Realität, also in einer Realität von Menschen sehr unterschiedlicher religiöser Überzeugungen, sehr unterschiedlicher Lebensstile oder auch sehr unterschiedlicher Vorstellungen von dem, was Familie bedeutet. Das Kunststück besteht darin, aus diesem kulturellen Pluralismus eine politische Gemeinsamkeit zu erzeugen, die meines Erachtens nur auf der Basis der liberalen Grundwerte entstehen kann. Also genau auf Basis dessen, was Viktor Orbán angreift.

Herr Györkös, Kritiker wie Ralf Fücks werfen dem ungarischen Ministerpräsidenten immer wieder vor, dieser betreibe eine Demokratie ohne Bürger- und Menschenrechte, ohne Gewaltenteilung und ohne unabhängige Presse. Orbán selbst hat den Begriff „illiberale Demokratie“ geprägt.
Györkös: Da möchte ich erst einmal Friedrich August von Hayek zitieren, der gesagt hat: „Democracy and Liberalism are not the same.“ Davon abgesehen entbehren solche Vorwürfe jeder Grundlage. Wie kann man denn behaupten, dass wir in Ungarn keine Meinungsfreiheit hätten? Offenbar nur, wenn man die ungarische Sprache nicht beherrscht und keine ungarischen Zeitungen lesen kann. Und dass die Demokratie in meinem Land hervorragend funktioniert, sehen Sie doch schon daran, dass die Opposition bei den zurückliegenden Wahlen in Budapest und etlichen anderen großen Städten gewonnen hat. Herr Fücks, Sie beschreiben die Einwanderung als eine Erfolgsgeschichte. Das ist Ihr gutes Recht, das müssen Sie mit Ihren Mitbürgern hier in Deutschland besprechen. Aber ob es der Wirklichkeit entspricht, daran habe ich meine Zweifel. Wir Ungarn wollen in Sachen Migration einfach nur nicht dem westeuropäischen Beispiel folgen. Das macht uns aber noch längst nicht zu schlechten Demokraten.

Herr Fücks, der Liberalismus westlicher Prägung scheint nicht nur in Ost- und Mitteleuropa in Bedrängnis zu kommen, sondern fast überall auf der Welt. Woran liegt das?
Fücks: Globalisierung, digitale Revolution, globale Migration, aber auch die Auflösung der patriarchalen Familie und der traditionellen Geschlechterordnung – das sind turbulente und fundamentale Veränderungsprozesse. Während ein Teil der Gesellschaft – die berühmten liberalen Eliten – diese Veränderung als Fortschritt empfindet, sehen andere ihren sozialen Status, ihren Lebensstil, ihre kulturellen Identitäten bedroht. Wenn der Liberalismus darauf keine Antworten findet, dann gerät er tatsächlich in die Defensive. Das haben wir in verschiedenen westlichen Ländern zur Genüge erlebt. Eine andere Ursache ist der Verlust an Fortschrittszuversicht. Unsere Gesellschaften sind gegenüber der Zukunft ängstlich geworden. Wir sind zum ersten Mal an dem Punkt, wo eine Mehrheit der Bevölkerung die Zukunft ihrer Kinder düsterer sieht als die eigene Gegenwart. Und dieser Verlust an Zuversicht trägt dazu bei, Sicherheit durch Flucht in den Autoritarismus und in geschlossene Gemeinschaften zu suchen.

Herr Györkös, der bulgarische Politologe Ivan Krastev hat unlängst ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Das Licht, das erlosch“. Eine seiner Kernthesen lautet, dass die postkommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas lange Zeit das westliche Gesellschaftsmodell nachgeahmt, sich inzwischen aber enttäuscht davon abgewendet hätten. Würden Sie dem zustimmen?
Györkös: Nein, überhaupt nicht, und das Buch hat mich total empört. Schon der Titel suggeriert ja, dass in den Ländern Mittel- und Osteuropas heutzutage Dunkelheit herrsche. Warum soll denn der Liberalismus ein Monopol darauf haben, Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu geben? Vielleicht gibt es ja auch andere Antwortmöglichkeiten. Was die Freiheit angeht, ist sie bei uns sakrosankt; die ungarische Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik dürfte sogar viel liberaler sein als etwa hier in Deutschland. Aber es existieren eben unterschiedliche Auffassungen über kulturelle Fragen, über Punkte wie Identität, Familie und Migration. Und in solchen Fragen hat auch die EU keinem ihrer Mitgliedsländer Vorschriften zu machen. Es ist sogar ausdrücklich festgeschrieben, dass die EU-Institutionen die nationale und konstitutionelle Identität der einzelnen Mitgliedstaaten respektieren. Niemand kann uns einen Vorwurf daraus machen, dass wir an unserer nationalen Identität festhalten – was übrigens die Mehrheit der europäischen Völker ebenso tut. Auch Familienpolitik und Migrationspolitik sind nationale Angelegenheiten.

Fücks: Wir sollten unterscheiden zwischen Liberalismus als einer politischen Philosophie und der liberalen Demokratie, auf der die Europäische Union gegründet ist. Ich will niemanden dazu verpflichten, sich politisch als Liberaler zu bekennen. Natürlich haben Konservative und Sozialisten ihre legitime Daseinsberechtigung. Aber hier geht es um die Fundamente der liberalen Demokratie – und das ist, was ich an dem Slogan „illiberale Demokratie“ kritisiere. In Ungarn betreibt Ministerpräsident Orbán eine systematische Veränderung zu einem hybriden Regime, bei dem man die demokratischen Fassaden zwar noch stehen lässt, sie aber konsequent entkernt. Das Verfassungsgericht wird an die Kandare genommen, das Staatsfernsehen ist vollkommen auf Linie gebracht. Auch Kultur und Wissenschaft werden zunehmend der Regierung unterworfen.

Györkös: Herr Fücks, sofern ich weiß, befinden wir uns in einer Rechtsgemeinschaft namens EU. Hier gelten gemeinsame Regeln, und im EU-Vertrag ist festgeschrieben, wie Konflikte geregelt werden. Ungarn ist das Land mit der größten Vertragstreue. Ich könnte jetzt jeden Ihrer Vorwürfe einzeln durchgehen. Fakt ist, dass sämtliche Punkte mit der EU-Kommission geklärt werden oder bereits geklärt worden sind. So, wie der ungarische Ministerpräsident mehrmals persönlich definiert hat, was er unter einer nichtliberalen Demokratie versteht, existiert jedenfalls kein Dissens mit den Normen der Europäischen Union.

Herr Fücks, hat die linke Identitätspolitik womöglich dazu beigetragen, dass der Liberalismus in den eher traditionalistisch geprägten Ländern Mitteleuropas in Verruf geraten ist? Kann es sein, dass die westlichen Debatten über Gender-Toiletten oder über das soundsovielte Geschlecht kontraproduktiv waren?
Fücks: Ich halte nichts davon, die neuesten Blüten der Postmoderne zur allgemein verbindlichen Regel für alle europäischen Gesellschaften machen zu wollen. Es braucht Raum für kulturelle Vielfalt innerhalb der EU – allerdings im Rahmen der demokratischen Grundwerte und der gleichen Freiheit aller. Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, dass es in Mittelosteuropa ein sehr starkes Freiheitsstreben gab. Die Idee der liberalen Demokratie wurde nicht vom Westen aufoktroyiert, sie kam aus diesen Gesellschaften selbst. Und zwar mit einer langen Vorgeschichte. Für mich sind die Aufstände in Ungarn im Jahr 1956 und in Prag 1968 ebenso wie Solidarnosc in Polen prägende europäische Ereignisse. Heute so zu tun, als wäre Mittelosteuropa essenziell anders, halte ich für einen Mythos.

Györkös: In Ungarn war die Unterstützung für die deutsche Einheit sogar größer als unter den Deutschen selbst. Um zum Westen zu gehören, brauchte man eigene Souveränität. Dazu war die Vereinigung Deutschlands eine Grundvoraussetzung. Deswegen war für uns die Einheit Deutschlands mit der Freiheit und Souveränität Ungarns eng verbunden. Daraus folgt, dass wir die Deutschen nicht nur mögen, sondern ihnen auch auf Augenhöhe begegnen wollen. Und während der Migrationskrise 2015 haben wir gewagt zu sagen: Nein, liebe deutsche Freunde, so wollen wir das in Ungarn nicht handhaben! Trotzdem sollte man die Situation nicht dramatisieren: Wir haben fast 6000 deutsche Unternehmen in Ungarn, wir haben unzählige kulturelle Bindungen zwischen den beiden Ländern. Und auf Regierungsebene hat es allein in den letzten 18 Monaten drei offizielle Treffen zwischen Angela Merkel und Viktor Orbán gegeben. Wenn die Deutschen und die Ungarn es schaffen, einander besser zu verstehen, ist es das Beste, was sie für Europa leisten können.

Das Gespräch moderierte Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier.

Dieser Text ist in der April-Ausgabe des Cicero erschienen, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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