Energie- und Sicherheitspolitik der Ampel-Regierung - Deutschland wettet gegen die „Zeitenwende“

Deutschland ist sich zwar mittlerweile stärker bewusst, welche Risiken die Abhängigkeit von autoritären Staaten birgt. Doch die Ankündigungen in Bezug auf die Verteidigungsausgaben wird es langfristig nicht einhalten. Der amerikanische Analyst Ryan Bridges blickt von außen auf das, was von der angeblichen „Zeitenwende“ übrigbleibt.

Winterfest? Verteidigungsministerin Christine Lambrecht besucht in der Slowakei stationierte Bundeswehrsoldaten / dpa
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Bundeskanzler Olaf Scholz hielt seine historische „Zeitenwende“-Rede drei Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Die Welt befinde sich an einem Wendepunkt, sagte Scholz, und Berlin müsse sich anpassen. Vor allem brauche Deutschland eine kraftvolle, aber besonnene Antwort auf den russischen Angriff. Scholz hob das Verbot seiner Koalition auf, tödliche Waffen in Konfliktgebiete zu liefern, und kündigte die Lieferung Tausender schultergestützter Panzer- und Flugabwehrwaffen an die Ukraine an – eine sehr große Sache für deutsche Beamte, wenn auch weniger für ihre Verbündeten.

Außerdem befürwortete er Sanktionen gegen die russischen Eliten und bekräftigte das Engagement seiner Regierung für die Verteidigung der Nato-Verbündeten. Scholz würde seine Ukraine-Politik später konkretisieren, aber für den Moment hatte er sich verpflichtet, den Krieg einzudämmen und Druck auszuüben, um den Kreml zurück an den Verhandlungstisch zu bringen. Berühmt wurde Scholzens „Zeitenwende“-Rede jedoch durch zwei weitere Zusagen. Erstens versprach der Kanzler, Deutschland werde seine Abhängigkeit von russischer Energie „überwinden“. Zweitens kündigte er an, die Bundeswehr in eine fähige, moderne Kampftruppe zu verwandeln, indem er einen Sonderfonds in Höhe von 106 Milliarden Euro für Verteidigungsprojekte und -investitionen einrichtete. Und „von nun an, Jahr für Jahr“ werde Deutschland mehr als zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben, sagte er.

Die Wirtschaft schrumpft weniger als angekündigt

Die Bundesrepublik hat auch in Bezug auf ihre Energieversorgung einen Wandel vollzogen, obwohl Deutschland und Europa noch weit davon entfernt sind, von Russland unabhängig zu sein. Aber die Geschichten – und die Daten – bezüglich der Modernisierung der Verteidigung und der Aufrüstung sind in etwa die gleichen wie früher. Offensichtlich gibt es einige Abhängigkeiten, die Deutschland nicht hinter sich lassen will.

Im Frühjahr warnten deutsche Beamte, dass der plötzliche Ausfall der russischen Gaslieferungen eine Rezession auslösen würde, die mit der von 2009 vergleichbar wäre, als die deutsche Wirtschaft um 5,7 Prozent schrumpfte. Doch die jüngsten offiziellen Schätzungen für 2023 gehen von wenig bis gar keinem russischen Gas aus und prognostizieren nunmehr einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um lediglich ein halbes Prozent oder weniger.

Wie konnte das passieren? Erstens hat Europa das Auffüllen der Gasspeicher zu einer dringenden Priorität gemacht. Aktuell sind die deutschen Speicherkapazitäten zu 88 Prozent gefüllt, was elf Prozentpunkte über dem Fünfjahresdurchschnitt für diese Zeit des Jahres liegt. Die Speicher in der EU insgesamt enthalten über ein Drittel mehr Gas als zu diesem Zeitpunkt im Vorjahr. Zweitens trugen Nachfragereduzierung und Sparbemühungen dazu bei, dass der Gasverbrauch in der EU von August bis November im Vergleich zu den Vorjahren um 20 Prozent zurückging. Deutschland reduzierte seinen Verbrauch um mehr als ein Viertel. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als Russland den Gaskrieg eskalierte und im September die Lieferungen durch die Nord-Stream-1-Pipeline stoppte, die zusammen mit ihrem Schwesterprojekt im Oktober von unbekannten Akteuren sabotiert worden war.

Wird die Preisobergrenze für Gas in Kraft treten?

Schließlich hatte Deutschland vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine keine Kapazitäten für den Import von Flüssiggas. Nach dem Einmarsch baute Deutschland in nur zehn Monaten die Infrastruktur für sein erstes schwimmendes LNG-Terminal – und das in einem Land, das routinemäßig Faxgeräte benutzt und in dem ein großes Flughafenprojekt seinen Eröffnungstermin um neun Jahre verpasst hat. Deutschland wird in Kürze zwei weitere schwimmende LNG-Terminals in Betrieb nehmen und damit etwa ein Drittel des im letzten Jahr aus Russland importierten Gases ersetzen können – ohne auf seine Nachbarn angewiesen zu sein. Weitere Terminals werden im nächsten Winter in Betrieb genommen, so dass sich die Gesamtkapazität für LNG-Importe auf etwa 30 Milliarden Kubikmeter beläuft – etwas mehr als die Hälfte dessen, was Deutschland im Jahr 2021 aus Russland bezogen hat. Es ist nicht gerade das Bild deutscher Effizienz – die Kosten für die LNG-Terminals sind weit mehr als doppelt so hoch wie von der Regierung veranschlagt –, aber nach deutschen Maßstäben wurde das Projekt zügig durchgeführt, insbesondere bei einem Vorhaben dieser Größenordnung.
 

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Und natürlich sind es auch Deutschlands inhärente Vorteile – sein Zugang zur Nord- und Ostsee und seine zentrale Lage in Europa, vor allem aber seine ausgeprägte Finanzkraft –, die es ihm ermöglichen, mit den wohlhabenden asiatischen Abnehmern von LNG zu konkurrieren. Dies ist der Grund, warum Deutschland so zögerlich war, Vorschläge für eine EU-Preisobergrenze für Erdgasimporte zu akzeptieren. Deutschland, wenn auch nicht seine energieintensive Industrie, ist besser als die meisten anderen Länder der Region in der Lage, hohe Gaspreise zu verkraften. Es befürchtet, dass eine wirksame Obergrenze die Bemühungen der Regierung um eine Senkung des Energieverbrauchs untergraben und gleichzeitig dazu führen könnte, dass LNG-Lieferungen an außereuropäische Abnehmer umgeleitet werden und die Märkte verunsichern. Am 19. Dezember lenkte Berlin ein und unterstützte eine Obergrenze, aber aufgrund der zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen ist es fraglich, ob sie jemals in Kraft treten wird.

Deutsche und EU-Interessen in Einklang bringen

Damit sollen die Risiken nicht heruntergespielt werden, von denen das unmittelbarste darin besteht, dass es in Europa ohne angemessene Energieeinsparungen zu Stromausfällen kommen könnte. Besonders gefährdet sind die Binnenstaaten in Mittel- und Osteuropa und alle, die den wohlhabenderen Nordwesten beim Gas nicht überbieten können. Die milden Temperaturen haben dazu beigetragen, den Verbrauch zu senken, und im günstigsten Fall könnten die deutschen Gasspeicher im April zu mehr als 70 Prozent gefüllt sein. Zu diesem Zeitpunkt wird Europa dazu übergegangen sein, die Vorräte aufzufüllen, anstatt sie abzubauen. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass das Auffüllen der Vorräte für Europa im nächsten Jahr äußerst schwierig sein wird, da russisches Gas möglicherweise nicht mehr verfügbar ist und die Nachfrage aus China nach dem Ende der Null-Covid-Politik voraussichtlich wieder steigen wird. Die Internationale Energieagentur mit Sitz in Paris warnte kürzlich, dass die EU ihren geschätzten Bedarf von insgesamt 395 Milliarden Kubikmetern im nächsten Jahr um 27 Milliarden Kubikmeter nicht wird decken können.

Im schlimmsten Fall – sollte also die politische Zusammenarbeit in der EU zusammenbrechen und die Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung von Erdgas scheitern – kann man davon ausgehen, dass der wohlhabendste Mitgliedstaat der Union einen vergleichsweise geringeren Teil des Schmerzes erleiden würde. Wie bei der wirtschaftlichen Reaktion auf die Corona-Pandemie wird die größte Herausforderung für die deutsche Regierung wahrscheinlich darin bestehen, ihre engen nationalen Interessen mit ihren EU-Verpflichtungen in Einklang zu bringen.

Zwei-Prozent-Ziel als Wahlkampfmittel

Was Scholzens Verpflichtungen in Bezug auf die Verteidigungsausgaben angeht, so gibt es keinen Aufschub. Deutschland wird 2023 keine zwei Prozent des BIP für die Verteidigung ausgeben, und nach den derzeitigen Plänen wird es nach dem Erreichen der Marke 2024/2025 im Jahr 2026 wieder darunter fallen. Die Amtszeit von Scholz endet 2025, so dass er mit der (vorübergehenden) Einhaltung des Ziels Wahlkampf machen kann. Das Zwei-Prozent-Ziel ist letztlich dazu da, Wahlen zu gewinnen. Ob ein Nato-Mitglied seinen Mindestverpflichtungen nachkommt, lässt sich nicht so leicht quantifizieren, aber niemand bestreitet, dass Deutschland seine Verpflichtungen nicht erfüllt. Die ersten Ergebnisse der „Zeitenwende“ sind kaum besser.

Bei einer kürzlich durchgeführten Übung fielen alle 18 neuen Puma-Schützenpanzer durch. Zuvor hatte der Ko-Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten nach nicht belegten Berichten, wonach die Bundeswehr nur noch über Munition für ein paar Kriegstage verfüge, den Vertretern der Rüstungsindustrie die Schuld für den Engpass zugewiesen. Die Regierung sagt, die Industrie investiere nicht, die Industrie sagt, sie traue der Regierung nicht zu, dass sich Investitionen lohnen. Unterdessen bat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) den Finanzminister dringend um die Bereitstellung von Mitteln zum Kauf von Munition. Der Finanzminister sagte, Lambrecht habe diese angebliche Notlage noch nie erwähnt und deutete an, sie solle ihr eigenes Haus in Ordnung bringen. Auch das Finanzministerium dementierte die Anfrage, die weniger Aufmerksamkeit erregte, und erklärte, bürokratische Hürden seien schuld daran.

Doch das eigentliche Problem sind die eigenen Interessen und die Strategie Deutschlands, die sich offenbar nicht so sehr geändert haben, wie es die „Zeitenwende“-Rede von Scholz vermuten ließ. Der Grund dafür ist, dass der Auslöser für den Wandel – die drohende Gefahr eines russischen Angriffs auf einen deutschen Verbündeten – nicht mehr glaubwürdig ist. In den letzten Februartagen des Jahres 2022 rechneten die Verantwortlichen in der Ukraine und im Westen mit einer Einkreisung Kiews. Keiner wusste, ob der ukrainische Staat überleben würde. Niemand wusste, wie verlässlich die Reaktion der USA sein würde – und auch nicht, ob die EU oder die transatlantische Einigkeit Bestand haben würden, wenn der Kreml eine Reihe plausibler Maßnahmen ergreifen würde, wie etwa die Unterbrechung der europäischen Gasversorgung.

Globalisierung des LNG-Marktes

Die ukrainische Stärke und die amerikanische Unterstützung haben die Erwartungen sowohl in Berlin als auch in Moskau weit übertroffen. Im April hatten sich die russischen Streitkräfte aus der Umgebung von Kiew zurückgezogen. Wenig später begann in Berlin das Murren darüber, ob all die neuen Verteidigungsausgaben wirklich notwendig seien. Die Grünen argumentierten, dass ein größerer Teil des neuen 100-Milliarden-Euro-Militärsonderfonds für nicht-militärische Sicherheitselemente wie Cyber- und Infrastrukturschutz verwendet werden sollte. Die kostenbewussten Freien Demokraten fühlten sich ermutigt, den Prozess so schmerzhaft wie möglich zu gestalten, um zu verhindern, dass er sich wiederholt.

Und Scholzens eigene Sozialdemokraten kehrten zur Nabelschau zurück. Im Sommer schrieb ein ranghoher sozialdemokratischer Abgeordneter und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages einen Aufsatz, in dem er „eine neue Ostpolitik für die „Zeitenwende“ skizzierte. Diese neue Ostpolitik sei alles für alle: „realistisch und werteorientiert, untermauert durch militärische Belastbarkeit und Dialogbereitschaft“. Und sie solle mit rund drei Dutzend deutschen Verbündeten koordiniert werden, unter enger Einbindung der Zivilgesellschaften – was gut für die diplomatischen Beziehungen und die Demokratie sei, tatsächlich aber ein Rezept für Untätigkeit ist.

Der Ausfall der russischen Gaspipelines ist ein seismisches Ereignis für Europa. Die Pipelines von Gazprom nach Deutschland unter der Ostsee sind tot und begraben, und die Jamal-Pipeline durch Weißrussland und Polen ist nicht in Betrieb. Lieferungen erfolgen nur noch über die Türkei und die Ukraine, jeweils in geringen Mengen. Infolgedessen sind die europäischen Gaspreise vier- bis fünfmal so hoch wie üblich.

Im Laufe der Zeit wird der Ausbau der europäischen LNG-Importkapazitäten jedoch zu einer Globalisierung des LNG-Marktes beitragen, wobei sich die Preise auf dem amerikanischen, asiatischen und europäischen Markt angleichen werden. Anhaltend hohe Preise werden auch die europäische Industrielandschaft verändern, indem sie schwächere Unternehmen in den Ruin treiben und einige energieintensive Produktionszweige verdrängen, aber auch die schmerzhaften Bedingungen schaffen, die in der Regel zu Innovationen führen. (Einige Hersteller haben bereits wider Erwarten neue Wege zur Steigerung ihrer Energieeffizienz gefunden.) Die Krise hat das Interesse an einer Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit im Energiebereich neu geweckt und könnte die Entdeckung und Entwicklung bahnbrechender grüner Technologien beschleunigen. Sie könnte aber auch soziale Unruhen und Bürgerkriege auslösen. Oder der Krieg könnte plötzlich enden, und Russland könnte mit der Wiederherstellung der Gaslieferungen beginnen. Das wird die Zeit zeigen.

Deutschland verlässt sich weiterhin auf die USA

Aber in der Sicherheitspolitik ist Deutschland nicht davon überzeugt, dass es viel mehr tun muss. Wenn das Putin-Regime seine Missgeschicke in der Ukraine überlebt, wird es noch Jahre dauern, bis es jede Verteidigungskoalition bedrohen kann, die Polen, Finnland und Schweden – geschweige denn die Nato – zusammenstellen könnten. Vor allem Polen ist durch den Krieg in der Ukraine gestärkt worden, und Warschau ist entschlossen, die stärkste Armee Europas aufzubauen. Ob es nun gelingt oder nicht, die polnische Macht steigt im Verhältnis zu Russland und bietet Deutschland einen stärkeren Schutz. Vor allem aber ist die US-Regierung unter Präsident Biden entschlossen, für Stabilität zu sorgen und Partnern und Rivalen in Asien zu zeigen, dass sie ein zuverlässiger und wertvoller Verbündeter ist.

Das bedeutet nicht, dass sich in Deutschland nichts geändert hat. Die Dringlichkeit, die Abhängigkeit des Landes von russischem Pipelinegas zu beenden, ist real – Energieexperten warnen sogar davor, dass Deutschland seine LNG-Importkapazität überbaut. Außerdem haben sich die Träume von einem Bündnis mit Russland zerschlagen, und die Deutschen sind sich der Risiken einer Abhängigkeit von autoritären Staaten stärker bewusst. So sind 84 Prozent der Deutschen der Meinung, es sei wichtig ist, dass das Land seine wirtschaftliche Abhängigkeit von China verringert, auch wenn die Regierung in dieser Frage gespalten ist. Doch zumindest noch eine Weile sind die USA bereit, die relativ geringen Mittel bereitzustellen, die notwendig sind, um Russland, das in der Ukraine einen exorbitanten Preis zahlt, in die Schranken zu weisen. Solange sich das nicht ändert, wettet Deutschland gegen die „Zeitenwende“.

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