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(picture alliance) Roma finden sich in ganz Europa - hier im mazedonischen Skopje.

Roma und Sinti - Eine Reportage vom Rand der Gesellschaft

In der Hauptstadt machen sie Schlagzeile als Bettler, Scheibenputzer und Straßenmusikanten. Damit bedienen viele Roma ein typisches Klischee. Dabei ist ihr Leben am Rand das Syndrom jahrhundertelanger Verfolgung.

Es ist ein lauer Juniabend in Berlin. Auf der Potsdamerstraße braust der Feierabendverkehr vorbei. An einen Stromkasten gelehnt, sitzt ein Mädchen. Sie ist etwa 14 Jahre alt. In der Hand hält sie einen leergetrunkenen Kaffeebecher, auf dessen Boden liegen einige Kupfermünzen. Sie wirkt gelangweilt. Doch dann setzt sie ein: „Entschuldigung, bitte fünfzig Cent.“ Ihr Akzent klingt osteuropäisch. Sie kommt aus einem kleinen, unbekannten Dorf in der südrumänischen Walachei. Auf die Frage, wo genau der Ort liegt, korrigiert sie: „Bukarest“. Das ist leichter, die rumänische Kapitale kennt jeder. „Erst seit ein, zwei Tagen“ sei sie hier – sagt sie dem Autor.

Seit Rumänien und Bulgarien 2007 der Europäischen Union beitraten, genießen die Bürger beider Länder das Recht, den Kontinent frei zu bereisen. Die beiden südosteuropäischen Staaten sind die ärmsten in der EU. Viele Menschen verlassen ihre Heimat in der Hoffnung, sich in Westeuropa ein besseres Leben aufzubauen. Schlagzeilen machen vor allem die Ärmsten der Armen – bulgarische aber vor allem rumänische Roma.

Eine Zwanzig-Cent-Münze fällt in den Kaffeebecher der jungen Frau. „Du sitzt doch schon seit mindestens einem Monat immer mal wieder hier.“ Sie schweigt kurz, lächelt und schaltet um auf Hundeblick. „Bitte geben Sie mir fünf Euro. Ich habe Hunger“, fleht sie. „Die heilige Mutter Gottes segne Sie“. In Städten wie Bukarest oder Cluj-Napoca hört man den Satz beinahe täglich.

In keinem Land der Welt leben mehr Roma als in Rumänien. Es sind etwa zwei Millionen, ein knappes Zehntel der Gesamtbevölkerung. Hätte diese in Europa seit Jahrhunderten verfolgte Minderheit ihren eigenen Staat, es wäre der neuntgrößte in der Europäischen Union. Auf zehn bis zwölf Millionen schätzt die EU-Kommission ihre Zahl, genau lässt sich das nicht sagen. Zu sehr leben Roma sozial und wirtschaftlich an den Rand gedrängt.

Die rumänische Mehrheit behandelt sie wie Aussätzige. Einen Zigeuner in der eigenen Firma einstellen? Zu groß ist die Angst. Was, wenn er mich bestiehlt? Diese Furcht speist sich aus alten Vorurteilen und wird seit Generationen weitergegeben. Vom Mittelalter bis 1856 wurden sie in Rumänien unter unmenschlichen Bedingungen als Sklaven gehalten. Aber auch nach ihrer Befreiung schloss die Mehrheit sie vom gesellschaftlichen Leben weitgehend aus, bis heute.

„Sprichst Du denn überhaupt kein Deutsch?“, wird die junge Romni gefragt. Sie zögert, streicht sich die dunkelbraunen Locken aus ihrem Gesicht. Ihr Mund formt sich zu einem warmen aber schelmischen Lächeln. „Entschuldigung, Dankeschön“, das sei alles. Und „Bitte 50 Cent“, funkelt sie aus tiefgrünen Augen. Was das überhaupt bedeute, fragt sie gespielt naiv, wie zum Beweis, dass sie die Wahrheit sagt. Das Gespräch wird verschoben. „Wir sehen uns morgen“, verspricht das Mädchen.

Auf den ersten Blick entspricht sie einem tief verwurzelten Stereotyp: Roma kommen aus Rumänien, leben vom Betteln oder Stehlen und im besten Fall musizieren sie. Was in der Diskussion um den täglichen Umgang mit Roma und Sinti häufig jedoch vergessen wird: Sie sind auch Holocaustopfer.

Die Forschung schätzt, dass bis zu einer halben Millionen Menschen während des zweiten Weltkriegs als Zigeuner ermordet wurden, erklärt Frank Reuter vom Zentralrat der deutschen Sinti und Roma. Der Weg von ihrer Entrechtung bis zu ihrer Vernichtung ähnelt dem der europäischen Juden. Am 16. Dezember 1942 erteilte Heinrich Himmler den Befehl, alle „noch im Reich“ befindlichen Roma und Sinti nach Auschwitz zu bringen. Die Bundesrepublik erkannte den Völkermord der Nazis erst 1982 an. So gelang es den wenigsten Roma und Sinti, Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Jene, die ihre Peiniger anklagten, wurden häufig als Lügner diskreditiert.

Die Geschichte der Roma-Verfolgung begann in Deutschland jedoch viel früher. Bis Ostern 1501 sollten die Zigeuner das Gebiet des deutschen Reiches verlassen, befahl König Maximilian I., später Kaiser. Danach galten sie als vogelfrei. Man entzog ihnen die Pässe und versuchte, sie mit Gewalt zu vertreiben. In Hessen wurden 1734 Kopfgelder auf Roma ausgesetzt. So gingen selbst einfache  Dorfbewohner auf „Zigeunerjagd“.

Potsdamer Straße, einen Tag später. Das Mädchen mit dem Kaffeebecher ist nicht da. Eine Kreuzung weiter südlich, an der die U-Bahnlinie U2  oberirdisch die  Bülowstraße quert, staut sich der Verkehr vor einer roten Ampel. Zwischen den Fahrzeugen wandelt eine dunkelhäutige Frau umher. Sie wirkt gut gelaunt, tanzt. In der rechten Hand winkt sie mit einem Fensterwischer, in der Linken hält sie eine Plastik-Flasche mit Spülmitteln. Hinter den Steuern: Kopfschütteln. „Bloß nicht“, schallt es aus einem heruntergelassenen Fenster. Unbekümmert tänzelt sie sich durch die eng beieinander gerückten Autos, summt eine Melodie. Auch der Fahrer eines türkisen Kleinwagens winkt strikt ab. Die Ampel schaltet auf Grün. Ohne einen Cent hinterlassen zu haben, rast die potentielle Kundschaft an ihr vorbei. Sie lächelt trotzdem.

„Welche Mechanismen dazu führen, dass Leute Fensterschreiben an Straßenkreuzungen wischen müssen, “  kritisiert Samir Biberovic die Berichterstattung über Roma, „wird nicht erklärt“. Biberovic arbeitet als Assistent im Verein Amaro Drom. Auf Romanes, der Sprache der Roma, bedeutet das „Unser Weg“. Die teils äußerst oberflächliche Presse wühle die Gemüter auf und festige Vorurteile: „Das erschwert unsere Arbeit“, sagt Biberovic.

Die Gründe, die Roma an den Rand drängen, sind Jahrhunderte alt. Klassischerweise kehren sie das Verhältnis zwischen Opfer und Täter um: So wollte man im Habsburgerreich die Roma-Gemeinschaft assimilieren, indem man ihre Kinder entführte und sie in fremden Familien großzog. Viele Eltern versuchten dann, ihre Kinder zurückzuholen – so entstand die Legende vom kinderstehlenden Zigeuner. Ähnlich wirkte Ausgrenzung im deutschen Reich. Als begabte Handwerker machten Roma den hiesigen Zünften Konkurrenz. Deshalb verbot man ihnen, ihren Berufen nachzugehen, verjagte sie. So wurden die Roma erneut auf Wanderschaft getrieben, ihre Lebensform außerhalb der Gesellschaft verfestigte sich.

„Ich bin Rotationseuropäer“, scherzt der 23-jährige Biberovic. Ein politisch-korrekter Jux, wie er sagt. Sein Vater kommt aus Serbien, seine Mutter aus Bosnien. Er selbst kam in Slowenien zur Welt, ging in Österreich, Genf und Berlin zur Schule. Samir Biberovic ist ein Vorzeige-Europäer, denn er war viel unterwegs. Und nur in diesem Punkt bedient er ein gängiges Roma-Klischee. Entgegen aller Vorurteile leben die meisten Roma heute sesshaft.

Samir Biberovic drückt sich gewählt aus. Er will „eher dem Menschen als seiner Nationalität begegnen“,  will junge Roma dazu motivieren, Selbstbewusstsein zu entwickeln, Vorurteile mit Taten zu widerlegen. Es brauche Idole, die sich zu ihrer Identität als Roma bekennen. Nur so, meint Samir Biberovic, könne man die negativen Stereotype brechen.

Jugendliche, die zu dem 23-Jähringen ins Neuköllner Hinterhaus kommen, ihn um Rat bitten, beschreiben ihm eine Art Kasten-System auf deutschen Pausenhöfen. In dieser Rangordnung stünden die Roma an letzter Stelle. Und die sagen sich, so Biberovic: „Wieso soll ich zur Schule gehen? Ich gehe doch lieber ‚Kabel schälen‘ und Aluminium sammeln und verdiene so mein Geld. Wieso sollte ich mit den Deutschen zusammen in der Klasse sitzen. Ich bin Zigeuner, ich muss arbeiten, ich muss heiraten, ich muss Kinder machen.“ Samir Biberovic unterstützt die Jugendlichen dabei, sich von solchen Denkmustern zu lösen. Er selbst plant, im nächsten Jahr zu studieren.

Neben dem S-Bahnhof Friedrichstraße heizt rasantes Getrommel die Luft an, das kräftige Staccato eines Blasorchesters dröhnt über den Platz. Einige Dutzend Beobachter stehen staunend vor der turbulenten Geräuschkulisse. Manche verschränkten die Armen, blicken skeptisch drein. Andere gehen mit einem Lächeln vorüber, lassen eine Münze in den offenen Instrumentenkoffer springen. Eine rothaarige Frau bahnt sich im Marschschritt ihren Weg durch die Zuschauer, sticht dabei mit denZeigefingern den Takt in die Luft.

„Wir Roma haben die europäische Kultur mit beeinflusst“, erklärt Samir Biberovic. „Wenn es zum Beispiel um Musik geht.“ Aber auch das sei ein positiver Stereotyp, dass jeder Zigeuner Geige spielen könne, musikalisch veranlagt sei und am Lagerfeuer geboren wurde.

Sein Verein Amaro Drom berät auch rumänische Roma, hilft ihnen bei behördlichen Schwierigkeiten, kümmert sich um Arbeitsgenehmigungen, Krankenversicherung, Einschulungen und unterstützt sie bei der Wohnungssuche. Für alle Roma könne er aber nicht sprechen, sagt Samir Biberovic. Zu unterschiedlich seien die verschiedenen Gruppen und ihre Interessen. Dass auch zwischen Roma kulturelle, soziale und ökomische Pluralität herrscht, wird häufig unterschlagen. Seit langem leben sie durch nationale Grenzen getrennt. Trotzdem betrachtet die Mehrheitsgesellschaft sie häufig als einheitliche staatenlose Nation.

Rumänische Politiker versuchen die Bezeichnung Zigeuner wieder salonfähig zu machen. Sie fürchten die Nähe zwischen den Wörtern Roma und Rumäne. Straftaten, die rumänische Staatsbürger in Frankreich, Italien oder Deutschland begehen, ließen sich so komplett auf jene abwälzen, die man als Zigeuner stigmatisiert. In dieser Form beschreibt der Begriff kein Volk, sondern kriminelle Strukturen. Krumme Geschäfte, Einbrüche und Diebstahl nennt man auf Rumänisch auch ?iganie, Zigeunerei. Was ist aber mit jenen Rumänen, die für drei Monate nach Deutschland kommen und schwarz auf dem Bau oder als Erntehelfer arbeiten? Die meisten sind keine Roma, arbeiten aber illegal. Sind sie künftig auch Zigeuner? Deutsche Medien werfen sie ohnehin häufig in einen Topf mit jenen, die betteln, Autoscheiben putzen und auf der Straße musizieren.

Dass Letztere tatsächlich häufig aus der Roma-Minderheit stammen, verdeutlicht eines: Wie stark diese Menschen in ihrer Heimat ausgegrenzt werden. Diese Existenz am Rand der Gesellschaft setzen sie hier fort, sofern sich niemand um ihre gleichberechtigte Integration bemüht. In Rumänien ist es ihnen kaum möglich,  ein normales Leben zu führen – gar unmöglich, ohne die eigenen Wurzeln zu leugnen. So erlebt es auch ein junger homosexueller Roma in Bukarest. Er arbeitet erfolgreich als Grafik-Designer, trägt die neuste Mode, geht in die angesagtesten Clubs der Metropole. Damit enttäuscht er alle üblichen Stereotype. Die Folge: Er wird für einen Araber gehalten. „Menschen, die unauffällig in der Normalität leben“, erklärt Frank Reuter vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma, „ nimmt man in der Regel auch nicht als Roma oder Sinti wahr.“

Die sechs Straßenmusikanten der „Fanfara Preda Band“ kommen aus den verschiedensten Ecken Rumäniens. Sie spielen bekannte Stücke von Goran Bregovic, klassische Roma-Folklore aber auch weltberühmte Titel wie Kalinka. Fünf der sechs Musikanten sind dunkel und schwarzhaarig. Der gut gelaunte Saxophonist mit seinem etwas helleren Teint und dem grau gelockten Haar sticht besonders hervor. Pedro, wie er sich nennt, ist der Bandleader. Nach fünf Minuten findet die Kapelle einen ersten Abnehmer ihrer selbstgebrannten CD. Den frisch verdienten Schein hält Pedro sich genüsslich vor die Nase, riecht, als wolle er zeigen, wie sehr das Geld duftet.

Einen Interviewtermin verschiebt der Bandleader am Telefon. Aus dem Hintergrund tönt noch die Tuba durch den Hörer. Nach dreimaligem Aufschub soll das Treffen am Alexanderplatz stattfinden. Pedro erscheint nicht und ist auch telefonisch nicht mehr zu erreichen. Und das Mädchen mit dem Kaffeebecher, das regelmäßig vor dem Stromkasten auf der Potsdamer Straße saß? Seit ein paar Tagen ist sie dort nicht mehr zu sehen.

Vermutlich musste die junge Romni das Revier wechseln. Einen Artikel über Roma, in dem das Mädchen die Hauptrolle spielt, kann ihre Familie nicht gebrauchen. Auch Pedro und seine Fanfara Preda Band kommen, ohne in den Kontext mit Zigeunerkriminalität gestellt zu werden, vermutlich besser über die Runden.

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