Der Westen und Russland - In der Sackgasse 

Die Welt steckt in einer verhängnisvollen Sackgasse. Putin hat sich mit seiner aggressiven Strategie vollständig verrannt. Selbst ein baldiger militärischer Sieg böte ihm kein Ausweg aus der verfahrenen Lage. Doch auch der Westen hat sich im Übereifer in eine Ecke manövriert, aus der er jetzt wieder herausfinden muss. Denn gut gemeint ist noch immer das Gegenteil von gut. Zeit für kühle Vernunft statt politischer Romantik. 

Bürohelden am Werk: Das Deutsch-Russische Museum in Berlin heißt jetzt nur noch Museum / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Der Herr im Kreml hat sich verkalkuliert. Das zumindest kann man, bei aller gebotenen Vorsicht, nach neun Tagen Krieg in der Ukraine festhalten. Der Widerstand der ukrainischen Armee scheint deutlich stärker als von den Russen erwartet, die Bevölkerung empfängt die Eindringlinge nicht mit offenen Armen, und die westliche Welt ist nicht bereit, Putins Überfall zähneknirschend hinzunehmen. 

Der Westen hingegen handelte halbwegs schnell und halbwegs entschlossen. Was weder amerikanischen Präsidenten noch Bundeskanzlern, französischen Präsidenten und EU-Ratspräsidenten gelang, schaffte Putin: ihn zu einen. Umgehend wurden wirkungsvolle Wirtschaftssanktionen beschlossen, sogar Deutschland hat sich schließlich dazu durchgerungen, Waffen an die Ukraine zu liefern, und allerorts zeigt sich eine ungeahnte Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Alles in Butter also? 

Mitnichten. Denn das Dilemma des Westens ist offensichtlich. Kaum ein Politiker, Journalist, Funktionär oder sonstwie Prominenter, der in diesen Tagen nicht größte Härte gegenüber Russland fordert, Putin einen Verbrecher schimpft und den Angriff auf die Ukraine in immer neuen, sich immer weiter überbietenden Formulierung verurteilt. Putin, der Paria der Weltgemeinschaft. Putin, der Ausgestoßene. Putin, der vor den internationalen Gerichtshof gehört. 

Mit einem sinnlosen Opfergang ist keinem geholfen

Mag ja alles sein. Aber was hilft es uns? Nichts. Auch die wortgewaltigste Verdammung des Wladimir Putin und seines Handelns, auch die eifrigste Empörung wird an der Situation nichts ändern. Das Gleiche gilt für die wirtschaftlichen Sanktionen und die Rüstungshilfe des Westens: Die Sanktionen sind hart, werden aber Putin nicht in die Knie zwingen. Und die Waffen, die man nun der Ukraine liefert, haben allenfalls einen Effekt: sie werden den Krieg verlängern, also dazu beitragen, dass es mehr Tote gibt und mehr Zerstörung. Putin werden sie nicht stoppen, eher im Gegenteil. Man muss das so trocken zur Kenntnis nehmen. 

Gute Diplomatie besteht darin, nicht sich selbst zu gefallen, sondern sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen – und sei es ein Putin. Schon aus Gründen des Machterhalts wird Putin diesen Krieg zu Ende führen, koste es, was es wolle. Und er hat die Mittel dazu. Der Widerstand der Ukraine ist mutig, bewundernswert und zeigt eine unglaubliche Größe, keine Frage. Doch es hilft nichts: Angesichts der Gesamtlage wäre es klug, die Ukraine nicht noch weiter zum Durchhalten zu ermutigen, sondern ihr im Interesse aller nahezulegen, den Kampf einzustellen. Selenskyjs Mut ist bewundernswert, doch mit einem sinnlosen Opfergang ist keinem geholfen. Er bringt nur sinnlosen Tod und Zerstörung. Das mag in dieser Deutlichkeit viele provozieren, für politische Romantik ist aber angesichts des gewaltigen Gefahrenpotentials der falsche Zeitpunkt. 

Umso mehr irritiert das Büroheldentum, das sich auch in Deutschland in den letzten Tagen breitgemacht hat. Wohlbehütet hinter ihren Schreibtischen verstiegen sich überraschend viele Kommentatoren in einen Verbalheroismus, der vermutlich nur noch tiefenpsychologisch zu erklären ist. Mit kühler politischer Vernunft jedenfalls hat er wenig zu tun. Denn die müsste jedem nüchternen Betrachter der Situation sagen, dass dieser Konflikt so schnell wie möglich beendet werden muss. Im Interesse der Menschen, der Ukraine selbst, aber auch der internationalen Sicherheitslage. 

Die Aufnahme in die EU oder gar die Nato ist an ganz klare Kriterien gebunden

Und wenn dann die Waffen schweigen und Putin irgendein Marionettenregime eingesetzt haben wird, wird man auch wieder mit dem Herrn im Kreml reden müssen – so oder so. Vermutlich ist das Ukraine-Abenteuer der Anfang vom Ende der Herrschaft Putins. Aber diese Machterosion kann dauern. Darauf zu vertrauen, wäre verantwortungslos. 

Entsprechend einfältig ist der symbolische Radikalismus, mit man derzeit alle Verbindung zu Russland kappt, so als würde dadurch irgendetwas gewonnen. Allenfalls vergiftet man eine ohnehin schon vergiftete Atmosphäre weiter. Und der Bekenntniszwang, den beispielsweise der Münchener Oberbürgermeister Reiter selbstherrlich von Chefdirigent Waleri Gergijew forderte, sollte ohnehin nicht Schule machen. 

Zu den ernüchternden Wahrheiten gehört auch, dass angesichts der Gesamtsituation eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU oder gar der Nato nicht nur illusorisch, sondern brandgefährlich wäre. Die Aufnahme in beide Bündnisse ist – man muss inzwischen schon daran erinnern – an ganz klare Kriterien gebunden, von denen die Ukraine kein einziges erfüllt. Vor allem aber wäre ein solcher Schritt von sicherheitspolitischer Verantwortungslosigkeit. Auch hier ist vor politischer Romantik mit Nachdruck zu warnen. 

Der Westen wird im eigenen Interesse, aber auch im Interesse der Weltgemeinschaft über seinen Schatten springen und früher oder später mit dem bösen Buben in Moskau reden müssen. Mehr noch: Man wird ihm irgendeine goldene Brücke zurück an den Gesprächstisch bauen müssen. Von allein wird er sie nicht finden. Prinzipienreiterei und wohlfeile Phrasen von Völkerrecht und Moral sind für Sonntagsreden. Jetzt ist Realpolitik gefragt. 

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