Debatte über Sicherheitspolitik - 50 Jahre danach: Schweigen im Lande von Clausewitz

Eine Schar mehr oder minder qualifizierter Diskutanten meldet sich in Deutschland heute zu jeder beliebigen Frage der Sicherheitspolitik zu Wort. Gleichzeitig bleibt die Debatte über Militär und Verteidigung in vielerlei Hinsicht zutiefst provinziell.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) betrachtet während eines Besuchs des Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr Fahrzeuge / dpa
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Michael Rühle arbeitete über 30 Jahre im Internationalen Stab der NATO, unter anderem in den Bereichen Politische Planung und Reden, Energie- und Klimasicherheit sowie hybride Bedrohungen.

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Dr. Hans Rühle, Ministerialdirektor a.D., war im Verteidigungsministerium Leiter des Planungstabes, General Manager einer NATO-Agentur sowie Koordinator der Bundessicherheitsakademie. 

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Vor fast 50 Jahren beklagte einer der beiden Verfasser dieses Textes das „Schweigen im Lande von Clausewitz“. Warum, so fragte er 1975, gibt es in der Bundesrepublik keine strategische Debatte? Als Land an der Nahtstelle zwischen Ost und West war Westdeutschland eines der wichtigsten NATO-Mitglieder, es verfügte über eine der größten Armeen Europas, und der Verteidigungshaushalt betrug stolze drei Prozent des Bruttosozialprodukts. Dennoch blieb die Zahl der deutschen Sicherheitsexperten, die sich auf internationalen Konferenzen behaupten konnten, überschaubar. Viele scheiterten bereits an ihren mangelnden Englischkenntnissen. Deutschland, so schien es damals, blieb trotz seiner Weltläufigkeit sicherheitspolitische Provinz. 

Doch das ist lange her. Das Schweigen von einst ist einer lauten, manchmal ans Hysterische grenzenden Debatte gewichen, in der sich eine Schar mehr oder minder qualifizierter Diskutanten zu jeder beliebigen Frage der Sicherheitspolitik äußert. Es scheint, als habe jeder zu jeder Frage ein Urteil oder wenigstens ein Vorurteil anzubieten. Deutschland diskutiert, aber dieser Diskussion scheint jede intellektuelle Disziplin abhandengekommen. 

Auf internationalem Niveau

Was ist geschehen? Hatte man denn nicht Bundeswehr-Universitäten gegründet, sicherheitspolitische Lehrstühle eingerichtet und Stipendienprogramme aufgelegt, um Deutschland sicherheitspolitisch endlich sprechfähig zu machen? Hatte man nicht die Friedensforschung gefördert und zahlreiche deutsche Studenten nach Harvard oder ans King’s College geschickt, um in und von Ländern zu lernen, die Sicherheits- und Militärpolitik mit weniger historischen Berührungsängsten praktizierten? Und hatte man nicht die Münchener Sicherheitskonferenz vom eher intimen deutsch-amerikanischen Diskussionsclub zum globalen Mega-Event aufgewertet, auf dem die sicherheitspolitische Elite des Planeten jedes Jahr die Schlüsselfragen unserer Zeit diskutiert?

Das alles hatte man unternommen, um Deutschland auch in der sicherheitspolitischen Debatte auf internationales Niveau zu heben. Und nicht ganz ohne Erfolg. Zumindest auf den ersten Blick kann die deutsche „Strategic Community“ jetzt international mithalten. Man spricht Englisch und Französisch, die deutschen „Think Tanks“ sind international vernetzt, und die deutschen Offiziere in NATO und EU genießen einen guten Ruf. Dennoch bleibt die aktuelle sicherheitspolitische Debatte in Deutschland in vielerlei Hinsicht zutiefst provinziell. 

Ohne militärischen Sachverstand

Ein besonders auffälliges Merkmal der deutschen Debatte ist, dass sie fast völlig ohne militärischen Sachverstand auszukommen glaubt. Dies gilt für die führenden deutschen Denkfabriken ebenso wie für die Presse: Man spricht und schreibt eloquent zu sicherheitspolitischen Fragen, doch wenn es um das militärische Handwerk geht, fehlt die Expertise. Die deutsche Generalität, die vielleicht Abhilfe schaffen könnte, hält sich aus Angst vor dem Zorn ihrer politischen Führung vornehm zurück. Und nicht jeder Angehörige des „Lodenmantel¬geschwaders“ der pensionierter Spitzenmilitärs, aus dem nach 40 Jahren des eher unauffälligen beruflichen Wirkens plötzlich der innere Clausewitz hervorbricht, ist wirklich der Experte, der er zu sein vorgibt. 

Bei den deutschen Journalisten verhält es sich ähnlich. Wirkliche Militärexperten unter ihnen sind inzwischen rar, was zur Folge hat, dass viele kaum über das hinausschreiben, was sie auf den Pressekonferenzen des Verteidigungsministeriums oder der NATO aufschnappen. Auch die Nähe zur Bundeswehr, die früher viele Journalisten ausgezeichnet hat, findet man heute kaum noch. 

Die Folgen sind gleich in zweifacher Weise verhängnisvoll. Zum einen werden nur noch selten tiefergehende Analysen geboten, weil man Sicherheitspolitik überwiegend im Feuilleton abhandeln zu können glaubt. Zum anderen verlässt man sich immer häufiger auf die Beiträge teils fragwürdiger Experten, weil man nicht in der Lage ist, Seriöses von weniger Seriösem zu unterscheiden. Es zählt allein die Aufmerksamkeit, die man erzielt. Und die erzielt man am besten mit möglichst viel Drama. 

Wie ein Katalog der Beliebigkeit

Inzwischen gibt es kaum noch eine sicherheitspolitische Talkshow, zu der nicht auch mindestens ein Philosoph eingeladen wird, um seine Meinung über die aktuelle Sicherheitsherausforderungen kundzutun. Verstärkt wird der Eindruck, dass Sicherheitspolitik keiner spezifischen Kenntnisse mehr bedarf, durch das Internet und die sozialen Medien. Dort steht jede auch noch so krude Meinung gleichberechtigt neben der sorgfältigen Analyse. Das Ergebnis dieser „Demokratisierung des Diskurses“ ist eine Flut von Äußerungen zu jedem beliebigen sicherheitspolitischen Thema – getätigt vom seriösen Wissenschaftler bis zum hoffnungslosen Dilettanten. 

Das Überangebot an oft nutzloser Information ist hierbei noch das kleinste Übel. Viel schlimmer ist die Entgrenzung dessen, was einst als ernstzunehmende Meinung galt. Der Lackmustest für sicherheitspolitische Vorschläge – sie sollten militärisch plausibel und politisch wie finanziell umsetzbar sein – muss gar nicht mehr angetreten werden. Es genügt bereits, eine halbwegs originelle Meinung zu vertreten. Diese bewusste Verwechslung von Sicherheitspolitik und Politik-Show ist inzwischen auch in manchen deutschen Denkfabriken heimisch geworden, wo die Erwähnung in den Medien oft mehr zählt als die Qualität der Studien, die man produziert. 
 

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Und warum auch nicht? Angesichts einer zunehmend expansiven Interpretation von Sicherheitspolitik, bei der Fragen von Entwicklungshilfe, Klimaschutz oder Geschlechteridentität scheinbar gleichberechtigt neben Nuklearstrategie oder Rüstungspolitik stehen, wird praktisch jeder zum Sicherheitsexperten. 

So las sich die Agenda der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz wie ein Katalog der Beliebigkeit: Neben den klassischen sicherheitspolitischen Themen wie dem Ukrainekrieg, dem Konflikt im Nahen Osten, oder der Zukunft der transatlantischen Beziehungen fanden sich Gesprächsrunden über die Lage im Sahel, auf Haiti und im Sudan, Wassersicherheit, Korruption, sexualisierte Gewalt, Ernährungssicherheit („Nutritional Intelligence“), oder eine inklusivere Weltordnung. Niemand würde diese Themen als unwichtig abtun. Aber sie alle in eine zweieinhalbtägige Veranstaltung zu zwängen reflektiert nicht den Willen, diese Probleme zu lösen, sondern dient vermutlich eher dazu, ein Bild Deutschlands als globalen Kummerkasten zu etablieren.

Der Schock des russischen Angriffs

Und die Politik? Auch sie macht aktuell keine gute Figur. Während der Nachrüstungsdebatte Mitte der 1980er Jahre, als das Schweigen im Lande von Clausewitz zum ersten Mal – notgedrungen – einer kontroversen Diskussion wich, verfügten alle wichtigen Parteien in der Bundesrepublik noch über Sicherheitspolitiker, die mit Eloquenz und Sachkunde einer verunsicherten Öffentlichkeit die schwierige Materie nuklearer Abschreckung erklären konnten. Damit verhinderten sie, dass die selbsternannte sicherheitspolitische Gegenelite aus Friedensforschern und linken Politikern die Debatte dominieren konnte. Mit Sachkunde und politischer Standfestigkeit wurde eine zweifelnde Bevölkerung von der Richtigkeit der eigenen Sache überzeugt. 

Die aktuelle Politik scheint indessen genau das Gegenteil zu beabsichtigen. Seit dem Schock des russischen Angriffs auf die Ukraine setzt man auf Alarmismus. Um zu verhindern, dass die „Zeitenwende“ an Schwung verlieren könnte, werden Russland von deutschen Denkfabriken und Spitzenmilitärs militärische Fähigkeiten angedichtet, die das Land nicht hat und nach dem Krieg gegen die Ukraine erst recht nicht haben wird. 
Die Führung des Verteidigungs¬ministeriums ergeht sich in martialischer Wortwahl („kriegstüchtig“), obwohl man gerade dort wissen müsste, dass die Bundeswehr, die mehr als 30 Jahre lang von allen politischen Parteien vernachlässigt worden war, diese Ansprüche noch auf viele Jahre hinaus nicht erfüllen kann. Fast scheint es, als wolle man Abbitte leisten für die sicherheitspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit. 

Apologeten einer allgemeinen Dienstpflicht

Und damit nicht genug. Mit Blick auf die neue Bedrohung durch Russland propagieren manche deutschen Politiker die Wiedereinführung der Wehrpflicht – eine Forderung, die sich mehr aus Nostalgie denn aus militärischen Erfordernissen speist. Denn schon vor rund 15 Jahren, als über die Aussetzung des Wehrdienstes und alternative Wehrformen debattiert wurde, war kaum einer der Diskutanten in der Lage, den für diese Frage eminent wichtigen Unterschied zwischen einer Berufs- und einer Freiwilligenarmee zu erklären. 

Auch die Apologeten einer allgemeinen Dienstpflicht zeigen wenig Interesse, sich mit den schwierigen finanziellen und verfassungsrechtlichen Fragen eines so weitreichenden Vorschlags zu befassen. Dann wären solche Ideen nämlich sehr schnell vom Tisch. Doch in einer sicherheitspolitischen Debatte, in der kaum ein Vorschlag kritisch hinterfragt wird, genügt es bereits, die bloße Forderung aufzustellen. Putin macht’s möglich.

Eine fahrlässige Diskussion über Nuklearwaffen

Nur noch ärgerlich wird die deutsche Debatte, wenn es um Nuklearwaffen geht. Unter Verweis auf den bereits als sicher erachteten Wahlsieg Donald Trumps, der, so wird befürchtet, unweigerlich das Ende des amerikanischen nuklearen Schirms zur Folge hätte, lassen sowohl Experten als auch Feuilletonisten ihrer Phantasie freien Lauf. Einige Journalisten fordern die deutsche Bombe ohne jeden Hinweis auf die deutsche Geschichte, den Atomwaffen-Sperrvertrag, oder den Verzicht Deutschlands auf die Herstellung von Massenvernichtungswaffen. 

Deutsche Politikprofessoren schlagen einen zwischen den EU-Staaten rotierenden „nuklearen Koffer“ vor, um so eine EU-Nuklearmacht aufzubauen, während andere Deutschland zum Kernwaffenstaat machen, in dem sie 1.000 amerikanische Sprengköpfe kaufen und nuklear bestückte deutsche U-Boote in der Ostsee kreuzen lassen wollen. Und manche deutschen Politiker, die sich mit der Forderung, das „Undenkbare zu Denken“ als hartgesottene Realisten ausweisen wollen, glauben unbeirrt, Frankreich werde einen Nuklearschirm über Deutschland aufspannen – obwohl Frankreich einen solchen Schritt ausdrücklich ablehnt. 

Eine derart fahrlässige Diskussion zum sensiblen Thema Nuklearwaffen – die im Ausland überwiegend mit Verwunderung zur Kenntnis genommen wird – wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Doch in der laissez-fairen Debattenkultur, die inzwischen in Deutschland Einzug gehalten hat, ist alles möglich. Die Nervosität angesichts der Aussichten, Europa könne zwischen einem aggressiven Russland und einem erratischen Amerika zerrieben werden, veredelt scheinbar jede auch noch so abwegige Meinung zum wertvollen „Denkanstoß“.

Die „feministische Außenpolitik“

Wie geht es weiter? Vieles spricht dafür, dass sich die überhitzte deutsche sicherheitspolitische Debatte wieder abkühlt, wenn der Krieg in der Ukraine beendet wurde, die Hamas marginalisiert ist, und wenn sich herausstellt, dass Amerika auch unter einem wiedergewählten Donald Trump nicht aus Europa abziehen wird. Ohne diese großen Unsicherheitsfaktoren wird die Debatte an Schwung verlieren, denn andere sicherheitsrelevante Themen – vom Aufstieg Chinas bis zum Klimawandel – werden nicht das gleiche Maß an Nervenkitzel erzeugen. Die Empörungskultur, die von den sozialen Medien aus in die traditionellen Debattenformen hineingetragen wurde, braucht den „Kick“, für den ein chinesisches Großmanöver oder der ansteigende Meeresspiegel (noch) nicht ausreicht. 

Wirklich beruhigen kann dies zwar nicht – schließlich zeigt die aktuelle Debatte, wie leicht sich der journalistische Schuss aus der Hüfte als scharfsinnige Analyse verkaufen lässt. Doch schon die Aussicht, dass sich zumindest die analytischen Exzesse der vergangenen Wochen und Monate nicht mehr so schnell wiederholen könnten, stimmt hoffnungsvoll. Dann hätte man endlich wieder Zeit, um den zweifelsfrei innovativsten Beitrag zur deutschen Strategiedebatte – die „feministische Außenpolitik“ – eingehend zu würdigen. Selbst wenn es ihren Befürwortern auch künftig nicht gelingen sollte, den Unterschied zur konventionellen Außenpolitik zu erklären, kann Berlin damit wenigstens die weitverbreitete Meinung widerlegen, die Deutschen hätten keinen Humor. 
 

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