Corona-Proteste in China - „Die aktuelle Situation ist in keiner Weise vergleichbar mit ’89“

Ole Döring, Sinologe und Kulturphilosoph, lebt in China und ist verwundert über die aktuelle Berichterstattung westlicher Medien. Ja, die Unzufriedenheit wächst, aber von umfassenden oder bedeutenden Protesten könne nicht die Rede sein. Er spricht über Fehler, die sowohl in China, als auch Deutschland gemacht wurden, erklärt kulturelle Unterschiede beider Nationen und hat Thesen zur womöglich undifferenzierten Berichterstattung.

Studenten beobachten Demonstranten während einer Protestveranstaltung an der Universität Hongkong / dpa
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Autoreninfo

Robert Horvath hat Biochemie und Kommunikations-wissenschaften studiert. Derzeit absolviert er ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Ole Döring ist habilitierter Kulturphilosoph und promovierter Sinologe. Aktuell wohnt er in Südchina und arbeitet seit zwei Jahren als Professor an der Hunan Normal University in Changsha. Zahlreiche wissenschaftliche Projekte der letzten 26 Jahre haben ihn immer wieder nach China geführt, wodurch er die Entwicklung des Landes in den letzten Jahrzehnten hautnah mitverfolgen konnte.

Herr Döring, die westlichen Medien berichten von großen Corona-Protesten in China. Sie leben vor Ort. Was erleben Sie aktuell? Wie nehmen Sie die Situation wahr?

Von Protesten ist nirgends etwas zu sehen. Das ist bei einem so großen Land aber auch nicht erstaunlich. Man hört Berichte von hunderten Demonstranten. Wahrscheinlich sind das nur ein paar Dutzend. Changsha, die Stadt, in der ich wohne, hat circa zehn Millionen Einwohner. Hier ist alles sehr entspannt. Hier herrscht an der Oberfläche Frieden. Natürlich ist es schwierig, von China allgemein zu sprechen, aber das ist mein Gesamtbild. Bis vor kurzem herrschte hier und in weiten Teilen Chinas noch sehr viel Vertrauen, dass alles richtig läuft, wie es gemacht wird. Vertrauen darin, dass die Maßnahmen vernünftig und bald vorbei sind. Jetzt werden die Menschen aber zunehmend nervös und unzufrieden.

Warum steigt die Unzufriedenheit?

Das hat etwas damit zu tun, dass sich die Corona-Maßnahmen so in die Länge ziehen. Die Leute fühlen sich an ihrer Lebensführung gehindert. Zum Beispiel, weil sie nicht mehr arbeiten können. Weil man sie einsperrt und daran hindert, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wer ein kleines Geschäft hat, kann seine Arbeit nicht machen und geht im schlimmsten Fall Pleite. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Das beschäftigt die Leute schon sehr. Das betrifft aber nicht so sehr die Studenten, deren Proteste man in den Medien zitiert.

Sie reden davon, dass Leute eingesperrt werden?

Oder ausgesperrt. Je nachdem. Man kann unter Umständen einfach nicht arbeiten gehen. Zum Teil werden ganze Blocks abgesperrt, weil die chinesische Regierung noch immer eine Null-Covid-Strategie verfolgt. Das wird aber immer zielgenauer. Es wird nicht mehr so großflächig abgesperrt wie zu Beginn der Pandemie. Man fokussiert sich jetzt auf kleine Bereiche und Hotspots. Da geht dann aber erstmal nichts mehr. Das „Gute“ allerdings ist, dass man sich dort dann relativ schnell freitesten kann. Problematisch wird es, wenn der Test positiv ist. Dann trifft es die Einzelperson hart. Man muss ein paar Tage zu Hause bleiben oder sogar in eine spezielle Einrichtung – Hotel oder Klinik, wobei die Zahl der Quarantänetage in den letzten Monaten deutlich zurückgegangen ist.

Welche Maßnahmen gibt es aktuell noch?

Man muss festhalten, dass die Maßnahmen sich von Provinz zu Provinz unterscheiden. Das Hauptproblem ist aber, dass man sich in der Politik nicht nach gesundheitlichen Aspekten richtet, sondern, wie lange Zeit auch in Deutschland, nach wenig aussagekräftigen Inzidenzzahlen. Das hat zur Folge, dass man sich derzeit täglich testen muss, wenn man nicht sanktioniert werden will. Jeder hat eine App, die einem sagt, wo und wann man sich zu testen hat. Wenn man dem nicht nachkommt, darf man zum Beispiel nicht mehr in Kinos oder Shoppingcenter. Besonders problematisch sind immer wieder die Maßnahmen auf den untersten lokalen Ebenen, wo Einzelpersonen nicht qualifiziert oder überfordert waren und gleichzeitig die Angst hatten, etwas falsch zu machen. Das hat dann zum Teil zu Überreaktionen im Sicherheitsbereich geführt, die durch die Zentralregierung zurückgenommen werden mussten.

Zurück zu den Protesten. Einige Medien berichten, es handele sich aktuell um die größten und umfassendsten Demonstrationen in China seit 1989, seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Es gab und gibt mit der gesamten Modernisierung in China fortlaufend mehr oder weniger große Proteste. Die haben aber nichts mit dem Covid-Thema zu tun. Beispielsweise verschiedene spontane Aufstände, die sich direkt mit der Lage von Arbeitern beschäftigen. Das ist überhaupt nichts Neues. Die Größenordnung in diesem Bereich, wo es um soziale Probleme geht, ist unvergleichlich viel größer und breiter in der Bevölkerung vertreten als diese paar Studenten, die man jetzt sieht. Die aktuelle Situation ist in keiner Weise vergleichbar mit ’89. Es ist vollkommen normal, dass immer wieder mal demonstriert wird zu irgendwas. Diese marginalen Coronaproteste hierzulande haben hingegen keine politische Funktion, die hier im Land konstruktiv sein könnte. Das wird für Social Media gemacht, und es hat einzig und allein die Wirkung, dass man im Ausland genau diese Geschichten bedient.

Was meinen Sie damit?

Die Form von öffentlichen Protesten, wie wir sie kennen, die gibt es in China eigentlich nicht. Hier gibt es keine Demonstrationskultur. Die Idee, für politische Ziele auf die Straße zu gehen, ist den Leuten hier fremd. Das ist keine Auseinandersetzung, die hier für zielführend gehalten wird. Außerhalb eines kleinen Akademiker- und Weltbürgermilieus hat man für sowas auch kein Verständnis. Das machen junge Leute, die sich vom Westen inspirieren lassen. Andererseits aber sind da die Leute, die sich spontan zusammentun, aus einem unmittelbaren Anlass, um sich gegen etwas direkt Sichtbares zu wehren, das sich aufgestaut hat. Wie bei Arbeiteraufständen. Davon gibt es viele. Jedes Jahr werden tausende Proteste statistisch erfasst, die eigentlich fast immer was mit Arbeit zu tun haben: fehlende Lohnzahlungen, Sicherheitsprobleme, Arbeitsverbot. Diese Proteste sind in China schon seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Und die brechen spontan aus, wenn sich die Ungerechtigkeit so stark auswirkt, dass die Menschen nicht mehr weiterwissen. Aber sowas hat es bei Corona noch überhaupt nicht gegeben. Die paar Studenten, von denen keiner weiß, warum sie plötzlich auftauchen, haben in der Gesellschaft kein Gewicht. Das sind Dinge, die sind inszeniert oder gut gemeint, aber hier mit Sicherheit keine wirksame Protestaktion. Nur die westliche Presse findet das eben spannend.

 

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Sie meinen, man kann also nicht von großflächigen Protesten, aber sehr wohl von einer sich ausbreitenden Unzufriedenheit und Missstimmung bezüglich der Corona-Maßnahmen sprechen. Wie kann diese Unzufriedenheit in China gelindert werden, wenn nicht durch Proteste?

Man will das hier intern klären. Durch fortlaufende Verbesserungen. Ein Beispiel: In der staatlichen Nachrichtenagentur wurde berichtet, dass man in großen Massen fehlerhafte PCR-Tests benutzt hat. Das hat zu Unmut geführt. Es gibt also durchaus Leute, die ein Signal setzen wollen, das allerdings dem Land gilt und nicht der Weltöffentlichkeit. In der Führungsebene herrscht ein enormer innerer Kampf, wie man mit der Coronasituation umgehen soll. Kann man es sich jetzt leisten zu sagen, dass die Maßnahmen falsch sind? Schauen Sie doch mal nach Deutschland. Von den verantwortlichen Politikern hat sich in den letzten drei Jahren niemand getraut zu sagen, „Wir haben Fehler gemacht“, „Das war falsch“ oder „Daraus müssen wir lernen“. Das habe ich zumindest noch nicht gesehen. Und dann erwartet man das von einem ungleich viel größerem Land? Hier in China findet die Lernkultur nicht in der Öffentlichkeit statt. Dinge werden intern verhandelt. Uns muss klar sein, dass wir unsere westlichen politischen Maßstäbe hier nicht anwenden können. Das System funktioniert vollkommen anders. Die Menschen hier vor Ort leiden zum Teil sehr, sind aber gleichzeitig auch tapfer. Man ist stolz darauf, was man die letzten Jahrzehnte erreicht hat, auf das Land und die Kultur. Und man ist trotz aller Corona-Unzufriedenheit zuversichtlich, dass sich die Umstände weiter verbessern.

Was sehen Sie, wenn Sie die Coronapolitik von Deutschland und China vergleichen?

Eine wichtige Botschaft lautet: Wir leiden gemeinsam, Chinesen und Deutsche. Die Deutschen leiden darunter, dass wir in den letzten Jahrzehnten einen Abbau an Standards erlebt haben – in der Wissenschaft, im Gesundheitswesen, in der Bildung. In diesen Bereichen haben wir unser Tafelsilber verjubelt. Die Chinesen haben ihre Standards in derselben Zeit objektiv aufgebaut. Die haben lange zu uns aufgesehen und tun das teilweise immer noch. Jetzt hat sich herausgestellt: Wir Deutschen können Public Health, nämlich die gesamtgesellschaftliche Herangehensweise, nicht mehr. Stattdessen haben wir das Feld bestimmten Fachrichtungen wie der Virologie überlassen und die Politik dem untergeordnet. Aber diese Art von Krankheiten brauchen immer politische und soziale Dimensionen, in denen man denken muss. Wir haben in diesem Feld wesentlich stärker abgebaut als die Chinesen. Ganz einfach gesagt: Inzidenzen sind oder waren wichtiger als tatsächliches Krankheitsleiden. Das gilt für die Chinesen genauso wie für uns. Beide sollten sich von dieser „Wissenschafts“-Hörigkeit – in einem ganz schlechtem Sinne – emanzipieren. Wir müssen die Gesundheit der Bevölkerung wieder als Gesamtbild sehen.

Nochmal zurück zu den Protesten, von denen Sie meinen, die seien nicht so groß, bedeutsam und repräsentativ für das chinesische Volk, wie von einigen Medien dargestellt. Einmal angenommen, Sie haben recht, wie erklären Sie sich diese Berichterstattung?

Das kann mehrere mögliche Ursachen haben. Zum einen liegt das am Fehlen von ausreichend gut ausgebildeten deutschen und europäischen Journalisten in China. Dazu gehört auch, dass man die Sprache sprechen und lesen kann und die unterschiedlichen Regionen kennt, um differenziert und angemessen berichterstatten zu können. Diese Infrastruktur fehlt und damit auch die Zwischentöne und andere Wirklichkeitsperspektiven, die man verstehen muss. Viele Journalisten haben also unter Umständen gar nicht die Möglichkeit, China wirklich kennen und verstehen zu lernen. Dann liegt das andererseits aber auch an den Redaktionen und dem Publikum in Deutschland. Gibt es da genug Interesse, zu verstehen, was tatsächlich passiert? Oder haben wir uns schon an ein bestimmtes Chinabild gewöhnt, das wahrscheinlich nicht besonders breit und differenziert ist? Dann könnte man sich ja auch mal fragen, wo dieses Chinabild herkommt. Die USA haben zugegeben, dass sie eine Chinakampagne verfolgt haben, die sie letztes Jahr ausdrücklich als gescheitert bezeichnet haben. Man hat versucht, die Einflusspositionen Chinas auf Industrie, Universitäten und so weiter dergestalt darzustellen, dass davon eine übermäßige Gefahr ausgehen würde. Ich plädiere vor allem dafür, China besser verstehen zu wollen und uns wieder selbst handlungsfähig zu machen. Und das braucht Zeit. Ich glaube wir müssen wieder mehr Partner für China sein wollen und unserem eigenen Vorbild treu werden.

Das Gespräch führte Robert Horvath.

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