Der Westen von Osten gesehen - Wie blickt China auf Deutschland und Europa?

Das Bild der Chinesen von Deutschland und Europa hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Einst als starker Wirtschaftspartner und kultureller Sehnsuchtsort geschätzt, gilt der Kontinent heute als orientierungslos und krisengebeutelt.

Bundeskanzler Olaf Scholz wird in der Großen Halle des Volkes mit militärischen Ehren empfangen / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Seit etlichen Monaten wartet das politische Berlin auf die sogenannte Chinastrategie des Auswärtigen Amtes. Sie soll, vor dem Hintergrund einer umdüsterten Weltlage, die grundlegende und richtungsweisende außenpolitische Position der Bundesregierung gegenüber China formulieren. Bislang wartet man vergeblich. Liegt es an der ungeklärten Zuständigkeit zwischen Auswärtigem Amt und Bundeskanzleramt, an der Unabsehbarkeit der politischen Großwetterlage oder schlichtweg an mangelnder staatsmännischer Weitsicht? Vermutlich kennt noch nicht einmal die deutsche Außenministerin die Antwort. Die Opposition hat dieses fehlende Momentum für sich genutzt und eine „chinapolitische Zeitenwende“ ausgerufen. Ein „nationaler Konsens“, so die Unionsfraktion, wird neuerdings angestrebt.

Das alles klingt reichlich alarmistisch, erinnert doch der Begriff „Zeitenwende“ bewusst an politische Auslassungen zum Krieg in der Ukraine. Wer mag, kann China einiges unterstellen, doch eines gewiss nicht, aktiver Kriegsgänger zu sein. China möchte, ebenso wie Indien, nicht Partei ergreifen in einem Konflikt, von dem es territorial nicht betroffen ist und der im Übrigen auch nicht den eigenen Interessen entspricht. Die Ukraine gehörte vor dem Krieg zu den größten Wirtschaftspartnern Chinas in Osteuropa. An einer Neuauflage des Kalten Krieges unter dem Motto „The West against the rest“ hat am allerwenigsten China mit seiner stark exportorientierten Wirtschaft ein Interesse.

Die Einschätzung Chinas aus deutscher und EU-Perspektive ist über die Jahre eine kritische, um nicht zu sagen ablehnende, geworden. Der langanhaltende Honeymoon sich intensivierender Wirtschafts- und Kulturbeziehungen ist, seit Pandemie und Ukrainekrieg, einer hartnäckigen Katerstimmung gewichen. Europa und China – diese Beziehung bereitet auf beiden Seiten zunehmend Kopfschmerzen statt Wohlbefinden. Das war nicht immer so.

Vier Phasen der Annäherung an den Westen

Chinas Verhältnis zur modernen westlichen Welt, der Welt des wettbewerbsorientierten Kapitalismus und eines pluralistischen Gesellschaftsentwurfes, lässt sich in vier Phasen unterteilen. In der ersten Phase ab 1978 verordnete der damalige chinesische Staatspräsident Deng Xiaoping seinem Land eine radikale wirtschaftspolitische Kehrtwende. Die Politik der hermetischen Abschottung erwies sich als ungeeignet, um China aus seiner Armutsfalle zu befreien. China sollte vom Westen lernen, wie man wirtschaftlich erfolgreich wird. Begabte junge Chinesen wurden zu Tausenden auf Staatskosten ins westliche Ausland zum Studieren entsandt. Spitzenuniversitäten in Amerika, Großbritannien, Deutschland und Australien standen bei ihnen besonders hoch im Kurs.

Wissens-, Kapital- und Technologietransfer waren von Anfang an Ziele der chinesischen Öffnungsstrategie. Westliche Investitionen in den Aufbau von Schlüsselindustrien erfolgten in Sonderwirtschaftszonen, zumeist als Joint-Ventures mit staatlichen chinesischen Unternehmen. In dieser Phase wurde Europa, und mit ihm der Westen, vor allem aufgrund seiner Stabilität, seiner wirtschaftlichen Stärke, seiner Innovationskraft und seines hohen Lebensstandards als unerreichtes Vorbild propagiert und nachempfunden. Chinesische Studenten, die aus dem westlichen Ausland zurückkehrten, berichteten im Superlativ von technischem Erfindungsreichtum, kultureller Vielfalt und vollen Supermarktregalen. Insbesondere Deutschland beeindruckte durch zweierlei: weltweit anerkannte Ingenieurleistungen und die bemerkenswerte Geistestradition in Literatur und Philosophie. Von beidem wird noch zu sprechen sein.

 

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Mit der blutigen Niederschlagung der chinesischen Studentenproteste von 1989 fand diese Phase jedoch ein rasches und gewaltsames Ende. Der Westen erkannte, dass die politische Führung in China zwar bereit war, die eigene Wirtschaft, nicht aber die gesellschaftliche und politische Struktur des Landes zu liberalisieren. Chinas Führung wiederum verstand die Lektion, dass die Wirtschafts- und Wohlstandspotenziale des Westens auch eine Gefahr der inneren Destabilisierung bargen. Die Konsequenz war ein zeitweises Einfrieren der wirtschaftlichen, diplomatischen und universitären Beziehungen, welches aber nur von kurzer Dauer war.

Bereits 1992 begann, mit noch größerem Nachdruck, die zweite Phase des chinesischen Modernisierungs- und Öffnungsschubes. Deng Xiaopings Reise durch die südlichen Provinzen und Sonderwirtschaftszonen – am bekanntesten ist bis heute die Stadt Shenzhen – markierte die Beschleunigung und Intensivierung der wirtschaftlichen Öffnung. China verwandelte sich innerhalb weniger Jahre zur „Fabrik der Welt“, ein politisch gefestigtes, infrastrukturell erschlossenes Niedriglohnland, in dem die Waren für die konsumhungrigen Länder des Westens zu unschlagbar günstigen Konditionen produziert werden konnten. Der chinesische Wirtschaftsaufschwung brachte allerdings massive ökologische Belastungen mit sich. Zudem konnte sich China in dieser ökonomischen Konstellation trotz Wohlstandszugewinn nicht aus der schwächeren Position des bloßen Lieferanten lösen. Dauerhaft konnte dies kein befriedigender Weg sein.

Chinesische Boomphase ab der Jahrtausendwende

Dies änderte sich in der dritten Phase der Öffnung ab der Jahrtausendwende, als China der Welthandelsorganisation (WTO) beitrat und seine wirtschaftlichen Eigeninteressen selbstbewusster vertrat. China profitierte zudem von der Revolution der Informationstechnologien und erlebte in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends eine enorme Boomphase im digitalen und industriellen Sektor. In dieser Zeit entstanden die Online-Giganten Alibaba und Tencent. Viele hochqualifizierte Chinesen, die nach ihrer Ausbildung im westlichen Ausland geblieben waren, kehrten zurück oder investierten ihr Vermögen in Festlandchina.

Die hypermodernen Skylines chinesischer Großstädte, an der Spitze Shanghais Finanzdistrikt Pudong, entstanden zu dieser Zeit. Die olympischen Sommerspiele 2008 in Peking und die Weltwirtschaftsausstellung Expo 2010 in Shanghai waren Visitenkarten eines weltoffenen, prosperierenden und sich industriell rasch entwickelnden Landes. Das schnelle Aufblühen von Wirtschaft und Individualvermögen brachte jedoch nicht nur Annehmlichkeiten, sondern auch zwei problematische Aspekte zum Vorschein: ökologischen Raubbau und Korruption. Beides zusammen bildete eine ernsthafte Gefahr für die Fortführung des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs.

Die vierte Phase der ökonomischen Expansion Chinas, nach innen wie nach außen, begann 2012 mit dem Amtsantritt Xi Jinpings als Staatspräsident. Er lancierte, auch um seine eigene Machtbasis abzusichern, eine Antikorruptionskampagne, minimierte die ökologischen Kollateralschäden der Wachstumspolitik und entwickelt mit der „Belt and Road Initiative“ eine langfristig orientierte außenpolitische Strategie zur Sicherung von Chinas Handelswegen und Rohstoffzufuhren.

Die außenpolitischen Ambitionen Chinas in Zentralasien und im Pazifik forderten immer stärker die USA heraus. Schon die US-Administration unter Barack Obama erkannte in China die ultimative Herausforderung und verstärkte ihre Aufmerksamkeit auf die indopazifische Region. Unter Donald Trump erreichten die amerikanisch-chinesischen Beziehungen einen historischen Tiefpunkt und haben dieses Delta aus Protektionismus und militärischem Säbelrasseln bis heute nicht hinter sich gelassen. China und die Vereinigten Staaten befinden sich mitten in einem offenen, wenn auch noch nicht heißen, Konflikt um Sicherheit und Vorherrschaft in jeweils selbstdefinierten geographischen Räumen.

Tiefe Risse in Chinas Bild vom Westen

Wie blickt das heutige China auf Europa und Deutschland? Die momentane Phase der chinesisch-europäischen Beziehungen lässt sich am ehesten mit dem Begriff der vollkommenen Ernüchterung umschreiben. Die Zeit der industriellen Öffnung und des freien Technologietransfers ist vorüber, immer stärker treten Interessengegensätze ins Blickfeld. China ist längst nicht mehr das bloß billige Produktionsland für westliche Konsumbedürfnisse, sondern technologischer Konkurrent mit eigenständigen Industriezweigen geworden. Europäische Wirtschaftspartner, vor allem Deutschland, spüren das gewachsene chinesische Selbstbewusstsein. Diese Neugewichtung der ökonomischen Beziehungen spiegelt sich auch in der gegenseitigen politischen Einschätzung.

Lange Zeit war China davon überzeugt, dass die europäischen Staaten als souveräne Partner zu betrachten seien. Dem lag die Überzeugung zugrunde, dass Westeuropa, dreißig Jahre nach Untergang der Sowjetunion und dem schrittweisen Rückzug der amerikanischen Streitkräfte, eine eigenständige Außen- und Wirtschaftspolitik umsetzen könne. In der Extremsituation des Ukrainekrieges jedoch zeigt sich, dass Europa weder strategisch noch militärisch in der Lage ist, seinen eigenen Interessen Nachdruck zu verleihen. Auch in einem genuin europäischen Konflikt wie dem Ukrainekrieg benötigen die westeuropäischen Staaten die USA, sogar dringender denn je.

Durch Pandemie, stagnierende Wirtschaft, Krieg und Inflation hat Europa viel von seinem Charme für junge Chinesen verloren. Aus einem verklärten Sehnsuchtsort, bewundert und beneidet um Rechtssicherheit, Lebensstandard, Kulturvielfalt und Bildungsreichtum, mutiert das heutige Westeuropa zu einer als zunehmend riskant und krisenhaft erlebten Weltregion. Chinesische Beobachter sind befremdet über die zivilgesellschaftlichen Widersprüche und ihre brachialen Artikulationsformen, über politischen Rechtsruck, endlose Genderdebatten und soziale Krisensymptome. Europa wirkt eigentümlich orientierungslos, beschäftigt mit sich selbst, das heißt mit marginalen Problemen, ohne sich den wahren globalen Herausforderungen zu stellen. Politischer Eskapismus statt Realpolitik. Bloß eine Fehleinschätzung? Viele chinesische Studenten, die einen Hauch von kosmopolitischer Kultur erleben möchten, wollen heute lieber für ein paar Semester nach Hongkong als nach Hamburg oder Hohenheim.

Dichter, Denker, Dekadenz

Das „Land der Dichter und Denker“ haben sich literarisch gebildete Chinesen in der Tat ganz anders vorgestellt. Immerhin trösten sie sich mit den Annehmlichkeiten europäischer Importwaren. Wer es sich leisten kann, fährt ein deutsches Automobil, trägt italienische Markenkleidung, schätzt die französische Lebensart – und bleibt doch ein chinesischer Patriot. Viele Chinesen, mit und ohne Auslandserfahrung, konstatieren einen Niedergang der europäischen und deutschen Kultur, nicht nur im ästhetischen, sondern auch im politischen Sinn. Es zeugt denn auch von großem außenpolitischem Unverstand, wenn man die eigene Unpopularität mit einer Art höherem Respekt verwechselt. Historisch geschulten Chinesen fällt zum heutigen Europa, und zuallererst zu Deutschland, ein wenig schmeichelhafter Begriff ein, Dekadenz.

Dies vor dem geschichtlichen Hintergrund, dass Europa und Deutschland auch in China zusammen mit den Gewaltexzessen von Kolonialismus und Holocaust gesehen werden. Die spezifisch europäische Historie, kulturelle Verfeinerung einerseits, extreme und expansive Gewaltanwendung andererseits – also Kreativität und Destruktion –, wird auch unter chinesischen Intellektuellen als bestenfalls ambivalent wahrgenommen. Kurzum, Europa hat von sich selbst ein wesentlich positiveres Bild als der Rest der Welt.   

Der Ukrainekrieg zeigt: Europa kann noch immer ein enormes konfliktives Potenzial entfesseln, es aber, wie schon im 20. Jahrhundert, nicht selbst eindämmen. Außenpolitisch, militärisch und geostrategisch ist Europa nicht in der Lage, eine souveräne Position, unabhängig von amerikanischen Interessen, zu definieren. Schamhafte Versuche europäischer Politiker, eine eigenständige Haltung gegenüber China zu formulieren, wie jüngst Macrons Äußerungen zur Taiwanfrage, werden von deutschen Außenpolitikern, etwa von Norbert Röttgen, prompt verbal abgestraft: „Wir müssen als Europäer stärker werden, aber natürlich nicht gegen die USA, sondern mit den USA.“ In chinesischer Lesart bedeutet das: Europa richtet sich, aus einer Position der Schwäche, erneut nach Amerika aus. Man kann darüber debattieren, ob dies einer grob verzerrten Interpretation oder der machtpolitischen Wirklichkeit entspricht.

Hinwendung nach Asien?

Zutreffend, wenn auch in undiplomatischer Deutlichkeit, formulierte kürzlich der indische Außenminister Subramaniam Jaishankar: „Es ist an der Zeit, dass Europa aus der Denkweise herauswächst, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind. Die Probleme Europas sind nicht die Probleme der ganzen Welt.“ Diese Bemerkung war auf den Ukrainekrieg gemünzt, aus dessen destruktiver und mörderischer Spirale sich insbesondere asiatische Staaten politisch herauszuhalten versuchen. Umgekehrt jedoch gelten die Probleme und Herausforderungen Asiens nicht als genuin asiatisch, sondern als Gegenstand auch westlicher Interessen. Amerika möchte weder in Europa noch im pazifischen Raum seine Vormachtstellung verlieren, stößt dabei jedoch in Asien auf Widerstände.

Schon heute sind die Exporte Chinas in die ASEAN-Staaten fast genauso hoch wie in die EU. Die bevorzugte Währung in diesem Wirtschaftsraum ist nicht der US-Dollar, nicht der Euro, sondern der chinesische Renminbi. Nicht nur Europa diversifiziert seine Exportwirtschaft, oder möchte dies zumindest, China tut es auch. Die Wiederauflage eines Kalten Krieges, diesmal mit China als Antagonist des Westens, könnte zu einer stärkeren Regionalisierung der Wirtschaftsströme führen. Die chinesische Belt and Road Initiative im Osten und Süden der Weltkugel würde eine solche Entkopplung der Wirtschaftswege und -infrastrukturen überstehen.

Materialismus und Stabilität

Ein wahrscheinliches Szenario ist dieser Albtraum aller Exporteure dennoch nicht. Dagegen spricht vor allem ein gewichtiges innenpolitisches Argument in China. Um das Wohlstandsversprechen gegenüber der eigenen Bevölkerung einzulösen, ist die chinesische Führung auf außenpolitische Stabilität und kontinuierliches Wirtschaftswachstum angewiesen. Auch für China gilt: It’s the economy, stupid. Die Akzeptanz des politischen Systems und seiner Repräsentanten bei der Bevölkerung ruht zuletzt auf dem Gefühl des in der Breite angekommenen materiellen Wohlergehens. Diese Lehre zumindest hat China gründlich vom Westen gelernt.

Ein hegemonialer Großkonflikt ist für China weder ökonomisch noch militärisch von Vorteil. Von einer friedlichen Weltlage, so paradox dies klingen mag, profitiert China zwar am meisten. Der Rest der Welt aber auch. „Win-win“ ist in China nicht von ungefähr eines der populärsten westlichen Lehnwörter.

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