Umgang mit China - Wohltuende Stimme der Vernunft

Der Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (APA) macht der Politik Beine. Mit seiner jüngst vorgelegten Chinastrategie bezieht der APA Position und setzt die zwischen den Ressorts wabernde Namenscousine der Bundesregierung unter Zugzwang.

Mädchen in Peking / picture alliance
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Autoreninfo

Ole Döring ist habilitierter Kulturphilosoph und Sinologe. Er vernetzt unterschiedliche Kompetenzen und Denkweisen zu Medizin und Gesundheit, Technologie, Soziales und Ökonomie. Döring beschäftigt sich mit kulturellen und philosophischen Fragen der Medizin und Bioethik und ist Vordenker einer globalen Gesundheits-Ethik. Zuletzt ist von ihm das Buch „Das Luther-Gen - Zur Position der Integrität in der Welt“ erschienen.

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In drei „Kernbotschaften“ bezieht der APA Stellung, zur Gestaltung der Beziehungen zu China unter neuen Vorzeichen, zur Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz sowie zum Ausbau von internationalen Partnerschaften. Diese Kernbotschaften lauten: „Ausbalancierter Umgang mit Chancen und Risiken“, „Stärkung der EU“ und „Diversifizierung von Partnerschaften“. So weit, so wenig spektakulär.

In Anbetracht der politischen Flughöhe und gesellschaftlichen Tiefenwirkung, besonders aber angesichts des Zeitpunkts ihrer Veröffentlichung, ist diese Positionierung allerdings mehr als ein bloßes Lobbyisten-Papier. Der APA versteht sich als „Brückenbauer zwischen der deutschen Asienwirtschaft und der Politik in Deutschland und in den asiatischen Partnerländern“. Der export-orientierte deutsche Mittelstand fordert nun eine realistische Chinapolitik. Endlich. 

Der Ton ist gegenüber der Politik konziliant. Man „unterstützt“ Ankündigungen und Absichten der Bundesregierung bzw. im Koalitionsvertrag, die auf eine Neuaufstellung der Chinastrategie zielen. Man betont, „Deutschland braucht einen strategischen Ansatz, der verschiedene Politikbereiche einbezieht, um eigene Interessen global erfolgreich zu verfolgen“, nicht ohne einzuschieben, „basierend auf unserem Wertesystem“. Nicht präzisiert wird, ob der Respekt vor allem unserem Grundgesetz gelten soll oder einer bestimmten moralpolitischen Agenda.

 

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Auch das Plädoyer für „den Weg einer verantwortungsvollen Koexistenz konkurrierender, aber gleichzeitig interdependenter Systeme sowie der verantwortungsvollen Weiterentwicklung der globalen, multilateralen Ordnung zu beschreiten“ klingt mit Blick auf Chinas öffentliches Image nach „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“.

Beim Hinweis auf das geläufige Postulat der „vielschichtigen und langfristigen Risiken, die sich aus Chinas globalen Ambitionen ergeben“ darf man mehr erwarten als raunende Andeutungen – vor allem, wenn die Wirtschaft sich vor der Aufgabe sieht, die mit Chinas Entwicklung verbundenen Chancen zu nutzen. Ähnlich unbefriedigend bleibt das vage Schutzbedürfnis gegen „nicht-marktkonformes Verhalten von Staatsunternehmen oder staatlich wettbewerbswidrig geförderten Unternehmen gefährdet“. Man könnte meinen, die USA seien in diesen Passus gleich mit einbezogen.

Etwas wohlfeil nimmt sich auch die Begrenzung des Horizontes strategischer Gemeinsamkeiten auf „Klima“ aus. Die „grüne Transformation“ ist längst einer der wichtigsten Treiber der Modernisierung und zentrales Anliegen der chinesischen Politik. Diese potentiell gemeinsamen Interessen müssen, wie viele anderen, eine Position zu unserer globalen Kultur- und Zivilisationskrise mit ihrer normativen Desorientierung entwickeln, die Handlungsfähigkeit im Ansatz gefährdet und die Grundlagen der Verständigung unterminiert. Vor allem durch das Recht des Stärkeren und Doppelstandards. Zu beiden pflegt die Wirtschaft naturgemäß ein zwiespältiges Verhältnis, indem sie Nachhaltigkeit und Opportunität balanciert.

Auf die heimische Wissenschaft verlassen können

Die geforderte realistische Chinapolitik muss zuerst die Voraussetzungen schaffen, Chinas komplexe und dynamische Realitäten analysieren zu können. Derzeit sind wir allzu sehr auf fremdes Wissen beziehungsweise Informationen aus nicht standardisierten internationalen Quellen angewiesen, als es dem Verlangen nach Souveränität entspricht.

Die Bereitschaft, sich wissenschaftlich mit China zu befassen und die Fähigkeit kritisch Originaltexte zu lesen, um Interpretationsangebote kompetent beurteilen zu können, ist unangemessen gering. Da die Beurteilung von Risiken zum Kern einer verantwortungsvollen internationalen Wirtschaftspolitik gehört, ist es sträflich, wenn Unternehmen sich nicht auf die heimische Wissenschaft und Politik verlassen können, die eine breit aufgestellte Forschung und Analyse ergänzt. 

Die strategische Kernaussage ist etwas versteckt. Sie findet sich unten auf Seite 8: „Die gezielte Kooperation mit China zur Erarbeitung und vor allem zur identischen Übernahme internationaler Normen und Standards sollte ein Teil der Lösung sein. Die Verhinderung einer globalen technologischen Fragmentierung ist im gegenseitigen Interesse.“ Die politischen, juristischen und kulturellen Voraussetzungen für diese gemeinsame Vergewisserung können als Hebel für Diskurse der Verständigung genutzt werden.

Unabhängigkeit vor moralischen Meinungen

Die geforderte Diversifizierung kann nicht auf inner- und außerchinesische Märkte beschränkt bleiben. Die Wirtschaft versteht globale Zusammenhänge und regionale Anforderungen. Sie muss zielgenauer auch die asiatischen Märkte in ihren Besonderheiten in den Blick nehmen, zu denen die vielschichtige chinesische Dominanz ebenso gehört wie der Entwicklungsrahmen der „Neuen Seidenstraße“. Mit der Ablehnung der „Friendshoring“ genannten transatlantischen Klüngelwirtschaft in angeblich „demokratisch strukturierten Marktwirtschaften“, bleibt der APA auf dem Boden der Tatsachen und im Rahmen der eigenen Kompetenz.

Er hätte zugleich die Gelegenheit ergreifen können, um seine Unabhängigkeit von den Winden der moralischen Meinungen klarzustellen. Die Unterwerfung der Wirtschaft unter politische Ansichten würde das Pferd von hinten aufzäumen. Politik dient der Wirtschaft, indem sie ihr Rahmenbedingungen gibt und diese garantiert, um Wertschöpfung zu ermöglichen. Damit sind keine über unser Grundgesetz hinaus gehenden moralischen Verpflichtungen für die Wirtschaft verbunden. Das bedeutet keineswegs eine Relativierung der Ethik. Denn sie prüft die Stimmigkeit der Regeln für alle.

Etwas unvermittelt kommt die Unterstützung des Dialogs mit China „zu den Menschenrechten“ daher. Hier vermisst man eine Anerkennung insbesondere der Erfolge Chinas in der Armutsbekämpfung, Bildung und im Arbeitsrecht. Immerhin wird Chinas internationale Rolle als Förderer globaler Normen- und Rechtsstandards erwähnt. Nur wer Chinas Zugang zum Thema Menschenrechte versteht, kann hoffen, von China als Gesprächspartner auf Augenhöhe behandelt zu werden.

„Offene Ansprache von Wertedifferenzen gegenüber China“: das hat nur dann überhaupt eine inhaltliche Bedeutung und kann die Beziehungen konstruktiv gestalten, wenn es in gemeinsamer Ablehnung von Doppelstandards und Verpflichtung auf klar definierte Interpretationen der einschlägigen Konventionen geschieht. Das Problem besteht derzeit in der dogmatischen, ideologischen Verweigerung des offenen Diskurses mit China. Weder die EU noch Deutschland behandeln China mit ausreichend Respekt und einer konstruktiven Haltung.

Doppelstandards überwinden

Das zeigt sich nicht nur im Ton sondern auch bei inhaltlichen Widersprüchen. Das geforderte Gleichheits- und Fairnessgebot steht neben dem Verlangen nach staatlicher Absicherung und Förderung. Zugleich lehnt man Chinas gleichsinnige Maßnahmen als Protektionismus ab. Doppelstandards können überwunden werden, wenn wir neu über die Kalibrierung von Welt- und Binnenmarkt nachdenken, im Sinne der Verflechtung der Wertschöpfungs- und Lieferketten. Qualitative Vorgaben wie die „Antidumping-Grundverordnung“ oder die Fähigkeit unfaire Marktmacht abzuwehren, widersprechen nicht nur nicht den chinesischen Interessen, sie weisen auch auf die Ebene der Konstellation protektionistischer Kräfte zwischen Europa, China und den USA hin.

Wenn festgestellt wird, „Der Schutz von Menschenrechten in internationalen Lieferketten ist die gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe“, dann gilt dies in der Tradition des aufgeklärten Weltbürgertums für die Weltgesellschaft unter Einschluss Chinas. Wir fremdeln weiter mit der Anwendung unserer Grundüberzeugungen auf uns selbst, in Aushandlungsprozessen politischer Gestaltung mit Kulturen, die über Jahrhunderte von der Regelbildung der Globalisierung ausgeschlossen waren.

Erst wer sich im Ansatz nach gemeinsamen Interessen erkundigt und deren Umsetzung erkundet, betritt die Weltbühne des 21. Jahrhunderts. Solange China nicht als potentieller, gewünschter strategischer Partner akzeptiert und genannt wird, bleibt es bei halbherzigen Vorsätzen.

Viele Hausaufgaben sind vernachlässigt worden

Auch irritieren merkwürdig pathetische Formulierung, wie dass es „um nichts weniger“ gehe als „zu beweisen, dass Offenheit, soziale Marktwirtschaft und Demokratie Wettbewerbsvorteile bringen.“ Wem muss man das beweisen? Das zeigt sich von alleine, wenn sich alle an die Regeln halten. China hat die verschiedenen Modelle der libertären bis zur sozialen Marktwirtschaft seit den 1980er Jahren gründlich studiert und seine Schlüsse daraus gezogen. Wie und welche scheint kaum bekannt. 

Hier drückt sich eine Verunsicherung aus, die mit der beschworenen Werte-Überzeugung schwer zusammengeht. Es geht nicht um einen Beweis sondern darum, die Voraussetzungen in Europa zu schaffen beziehungsweise neu zu stärken. Diese wurden über Jahrzehnte politisch geschwächt. Hier kann Europa seinerseits einiges von China lernen.

Dazu gehört, dass der APA heute von der „Union“ fordert, sich in die Lage zu versetzen, überhaupt eine gemeinsame Strategie zu China zu haben. So weit sind wir von der Standardnorm entfernt! Das mag mit dem nächsten Formelkompromiss-Satz zusammengehen: „Nationale Interessen sollten immer am Gesamtinteresse der Europäischen Union gemessen werden.“ Nach welchem Maßstab und aufgrund welcher Legitimations-Prozesse denn? Ein Schuh wird daraus, wenn das Gesamtinteresse sich aus dem Zusammenstimmen der nationalen Interessen ergibt, siehe die kantonale Verfassung der Schweiz.
 

Ole Döring im Gespräch mit Ralf Hanselle
„Noch haben wir es in der Hand, die Zukunft mitzugestalten“


Dieser Beitrag des APA zur Chinastrategie erinnert uns an die vielen gesellschafts-, wirtschafts- und kulturpolitischen Baustellen und Hausaufgaben, die seit Jahrzehnten vernachlässigt worden sind, von geostrategischen und wissenschaftspolitischen Kompetenzen ganz zu schweigen. Diese müssen jetzt im laufenden Betrieb unter Stressbedingungen nicht nur nachholend kompensiert werden, sondern zugleich in einen Entwicklungsschub umgesetzt werden, damit wir aus eigener Kraft die Augenhöhe mit China stabilisieren können. Diese Herausforderungen können nur mit Blick auf das reale China bewältigt werden.

Dabei wäre es unklug, aus einer Fehlstellung zu starten, wie sie in der Spuren der herablassenden bis angstvollen oder feindseligen Haltung gegenüber China ebenso zum Ausdruck kommt, wie in der leicht abgemilderten konfrontativen Aufstellung. Die Formelkompromisse enthalten zu viele Denkverbote, Political Correctness, falsche Vorannahmen – politisch-rhetorische Zugeständnisse sind hier keine kluge, sondern eine feige Strategie-Entscheidung.

Deutschland braucht mehr „China-Kompetenz“

Befremdlich ist der Kontrast zwischen der angedeuteten Dringlichkeit von „China-Kompetenz“ und den wenigen allgemeinen Worten dazu. „Die entsprechenden Analysekapazitäten sind in Deutschland angesichts der großen wirtschaftlichen, technologischen und politischen Bedeutung Chinas generell unterentwickelt.“ Da genügt es nicht, zum hundertsten Mal zu fordern, „Bundesregierung und Wirtschaft müssen in den breiten Ausbau von China-Kompetenz sowie in unabhängige, angewandte und praxisnahe China-Forschung investieren“, schon weil dies fortlaufend an angeblichen Länderinteressen scheitert, vor allem aber, weil es dafür kein wissenschaftliches Konzept gibt, trotz einiger Angebote aus den entsprechenden Fachkompetenzen.

Hier ist das Elend der Sinologie zu nennen, die über Jahrzehnte marginalisiert, unterfinanziert, diskreditiert – vor allem aber nie in den Stand eines ordentlichen Faches mit entsprechender Ausstattung versetzt worden ist. Da genügen nicht nur mehr finanzielle Mittel. Wir brauchen angesichts der Versäumnisse an dieser Schnittstelle von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur ein eigenes Konjunkturprogramm mit Chinakompetenz als Katalysator.

Ich interpretiere dieses wichtige Dokument als Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, als in Kompromissformeln gegossene Verzweiflung der Wirtschaft über die politischen Defizite Deutschlands und Europas. Im Ruf nach politischer Unterstützung und Orientierung zeigt sich unübersehbar: China ist nicht Rivale, sondern Herausforderung, nicht Bedrohung, sondern Anlass und Auslöser über unsere hausgemachten Krisen nachzudenken und ehrliche Antworten zu suchen. Auch die Betonung der Stärkung europäischer Souveränität klingt nach dem Pfeifen im Walde, nicht nach Selbstbewusstsein.

Als politische Positionsbestimmung ist diese Chinastrategie des APA gleichwohl eine wohltuende Stimme der Vernunft. Politisch ist dies vermutlich das Klügste, was im öffentlichen Raum aktuell möglich ist. Als eigenständiger Beitrag zur Verantwortung der Kultur- und Wirtschaftsmacht Deutschland, für eine gemeinsame Zukunft mit China jedoch enttäuschend.

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