Augenzeugen-Buch aus Cherson - „Dann kamen die Russen“

Juri Vinograd lebt zufrieden im ukrainischen Cherson. Doch der russische Überfall auf sein Land und seine Stadt ändert alles. Der Autor Arye Sharuz Shalicar hat ein Buch über die Erlebnisse seines Schwiegervaters geschrieben. Im Interview erklärt er, warum.

Nach einem russischen Angriff geht eine Frau durch Trümmer in Cherson / picture alliance, Felipe Dana
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Arye Sharuz Shalicar ist als Sohn jüdisch-persischer Eltern in Deutschland geboren und aufgewachsen. Der Schriftsteller und Politologe ist seit 2017 Abteilungsleiter für Internationales im Büro des israelischen Ministerpräsidenten. Nach der abenteuerlichen Flucht seines Schwiegervaters Juri Vinograd aus der Ukraine ermutigte Shalicar ihn, seine Eindrücke aus dem Kriegsgebiet einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Vinograds Erzählungen und Eindrücke aus Cherson hat Shalicar als 40 Tagebucheinträge in „Tagebuch aus Cherson. Vom Leben und Überleben im Krieg in der Ukraine“ aufgeschrieben.  

Herr Shalicar, wie erleben Sie Ihren 74-jährigen Schwiegervater heute? Hat er es bereut, die Ukraine zu Ihnen nach Israel verlassen zu haben?

Mein Schwiegervater ist traurig, er leidet, er möchte zurück. Er hat dort alles zurückgelassen, was er sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat, und lebt nun in einem halben Zimmer in meiner kleinen Wohnung. Zuerst wollte er nur vorübergehend bei uns wohnen, bis sich die Lage beruhigt hat. Allerdings zeichnet sich ab, dass es noch viele Jahre dauern wird, bis seine Heimat, Cherson, wieder in Sicherheit ist. Ihm geht es also nicht gut, der Verlust der Heimat wiegt schwer. Gleichzeitig ist er auch dankbar dafür, dass er überlebt hat und weiterlebt, anders als andere, die in Cherson geblieben sind. 

Wie erlebt Juri Vinograd das kosmopolitische und mediterrane Israel, das so ganz anders ist als seine Heimatstadt?

Er hat hier weder Arbeit noch sonst etwas. Er verbringt seine Tage damit, im Bezirk einzukaufen, geht spazieren, macht Sport, spielt mit seinen Enkeln. Er kann auch kein Iwrit, allerdings gibt es in Israel auch viele russischsprachige Juden, weshalb er auch Personen begegnet, mit denen er sich unterhalten kann. Wir nehmen ihn auch oft mit ans Meer und versuchen, Zeit mit ihm zu verbringen.


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In „Tagebuch aus Cherson. Vom Leben und Überleben im Krieg in der Ukraine“ erzählt Vinograd eindrucksvoll, wie irreal sich die russische Besatzung für ihn anfühlt.

Die Menschen in Cherson sprechen Russisch, sie essen das Gleiche wie Russen, haben die gleiche Kultur, sind nicht selten sogar Fans derselben Fußballclubs. Dass sie nun von denen, die sie viele Jahre als Brüder beziehungsweise als Geschwistervolk wahrgenommen haben, erobert wurden, erleben sie als irreal. Aber am Ende geht es eben um Machtpolitik, und das Leben des Einzelnen zählt bei einem Krieg nicht wirklich. 

Juri Vinograd erklärt den Verrat, den die Bevölkerung Chersons zu Beginn des Kriegs empfindet, als die ukrainischen Soldaten Cherson verlassen und die Stadt den Russen überlassen. Wie schwer wiegt dieser Verrat; glauben Sie, Ihr Schwiegervater und andere Ukrainer aus Cherson werden der ukrainischen Regierung verzeihen können?

Kiew, die Hauptstadt, liegt quasi Lichtjahre von Cherson entfernt. Das ist ja zu vergleichen mit einem Politiker aus Berlin, der einem Freiburger etwas erzählt. Die Russen haben seit 2014 Teile des ukrainischen Ostens belagert. Sie gingen davon aus, dass sie diese kulturell russisch geprägten Gegenden schnell erobern können, mit Widerstand der Bevölkerung haben sie nicht gerechnet. Seit Februar 2022 haben die Russen auch den Süden der Ukraine ins Visier genommen. Cherson und Mariupol gehören dort zu den wichtigsten Städten. Die Russen hatten in Cherson ein leichtes Spiel, auch, weil die Armee geflohen ist.

Wie ging es dann weiter? 

Innerhalb kurzer Zeit wurde die Stadt russifiziert, wie Vinograd beeindruckend beschreibt: Die Namen von Zeitungen, auch von Supermärkten wurden geändert. Die Bewohner mussten abwägen, wem sie ihre Solidarität bekunden. Die Wahl konnte über Leben und Tod entscheiden. In der Familie meiner Frau Anna, die aus der Gegend stammt, sprechen übrigens alle Mitglieder untereinander Russisch. 

Cover-Bild: FBV-Verlag

Die russische Armee ging davon aus, dass sie von der Bevölkerung mit offenen Armen empfangen wird. Aber Ihr Schwiegervater beschreibt, dass das Gegenteil der Fall war.

Ja, es gab eine krasse Misskalkulation und falsche Wahrnehmung seitens der russischen Armee. Über Monate hinweg hat sich der Frust über die russische Besatzung intensiviert. Die Menschen in Cherson wollten ihr normales Leben zurück. Das war zwar nicht perfekt, weil viele dort in einfachen Verhältnissen lebten, aber im Endeffekt haben sie gelebt, sie hatten einen Alltag, man war glücklich, es reichte zum Leben. 

Dann kamen die Russen…

… und haben viel kaputt gemacht. Es gab eine Ausgangssperre, Leute wurden verhört. Bewohner der Stadt wurden gefoltert, mussten in der Essensschlange anstehen, um Brot zu bekommen, Frauen wurden vergewaltigt. Solche Gräueltaten sprechen sich rum. Zudem wurden auch Anwohner der Stadt, die in wichtigen Positionen waren, abgeführt. Das eben auch, um den Widerstand zu brechen und zu zeigen, was passiert, wenn man sich der russischen Armee in den Weg stellt. 

Ihr Schwiegervater beschreibt anfangs, dass sich die Menschen der Stadt durch die Flucht der ukrainischen Armee, allen voran von Selenskyj, betrogen fühlten. Wieso wurde die Stadt zu Beginn des Krieges ihrem Schicksal und somit den Russen überlassen?

Die Ukraine bekommt pro Tag 100 Millionen Dollar von den Amerikanern und Europa. Und das dafür, dass das System weiterhin besteht, Gehälter gezahlt werden können. Da fließt sehr viel Geld und das seit vielen Monaten. Zudem erhält die Ukraine Waffen. Dabei ist die russische Armee haushoch überlegen, aber dank der Unterstützung westlicher Staaten hat die ukrainische Armee es geschafft, Widerstand zu leisten. Große Städte, bis auf Cherson, wurden nicht eingenommen und Cherson wurde inzwischen zurückerobert. Auch wenn zu Beginn, als die ukrainische Armee die Flucht ergriff, die Enttäuschung groß war, wurde das Vertrauen der Bevölkerung wieder zurückgewonnen. Aber das Leben ist nach wie vor kein schönes, es ist ein Leben im Krieg. Keine Seite gewinnt, man steht sich aber dennoch täglich bewaffnet gegenüber. 

Ihr Schwiegervater schildert die Gräueltaten, die um ihn herum geschahen. Die Konflikte ihm bekannter Lehrerinnen, die von den Russen zum Gehorsam gezwungen werden; er beschreibt, wie die Kindheitsfreunde Ihrer Frau ihr Leben verlieren, weil sie Widerstand leisten. Inmitten all des Grauens, der Besatzung schafft er es, als 73-Jähriger zu überleben. Wie ist ihm dies gelungen?

Er hatte Glück im Unglück. Aufgrund seines hohen Alters musste er nicht kämpfen und sich somit nicht positionieren. Er hat den Ball flach gehalten, hat sich nicht dem Widerstand angeschlossen. Er war selten in der Stadt, er blieb meist in seinem Bezirk. Er ging nur zum Brot kaufen, Geld wechseln oder zu Gesprächen mit den Nachbarn raus. Er wusste, dass alles andere zu gefährlich wäre.

Ihr Schwiegervater ist Jude, in Cherson und in anderen ukrainischen Städten leben nicht wenige russischsprachige Juden. Die russische Seite argumentiert oft damit, dass der Gegner – die Ukraine – antisemitisch und den „Nazis“ verbunden sei. Wie nehmen Juden der Ukraine diese Beschuldigungen wahr?

Juden leben in allen größeren Städten der Ukraine, es gibt dort relativ große jüdische Gemeinden. Sowohl in Russland als auch in der Ukraine gibt es Juden. Und in beiden Ländern gibt es einen harten Antisemitismus, wie in fast allen Ländern Europas. Natürlich haben die Ukrainer während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht. Selenskyj spielt das gerne runter, auch wenn er selbst jüdischer Abstammung ist, allerdings das Judentum nie praktiziert hat und seine Kinder gar getauft sind. Ich finde die Verallgemeinerungen auf die heutige Ukraine nicht zutreffend, die Ukraine ist nicht weniger antisemitisch als Russland oder Deutschland. Zudem haben nicht alle Juden Russlands oder der Ukraine ihre Heimat verlassen. Für die Juden in der Ukraine gilt das Gleiche wie für nicht wenige Juden in Israel: Man gewöhnt sich an einen Kriegszustand, der allgegenwärtig ist. 

Autor Shalicar / Marco Limberg

Was macht das Leben unter einer Besatzungsmacht mit den Menschen? Wie hat sich Ihr Schwiegervater aus Ihrer Sicht verändert? 

Er bekam von seinen Eltern, Holocaustüberlebenden, nach dem Krieg gesagt, dass der Krieg für immer vorbei sei, dass er nie wieder für Brot anstehen müsse. Nun musste er das mit über 70 doch. Dabei dachte er: So lange du in Freiheit lebst, so lange du Brot auf deinem Teller hast, musst du dich glücklich schätzen. Sprüche, über die man lacht, solange man keinen Krieg erlebt. Es war unvorstellbar, doch plötzlich war er in einer Situation, in der es kein Brot mehr gab. Und das über 70 Jahre nach dem Holocaust. Er hätte nie gedacht, dass er jemals in so eine Lage gerät, und ist natürlich schockiert. 

Hat er weiterhin Kontakt zu seinen Freunden in Cherson?

Ja. Viele dieser Freunde, zu denen er noch Kontakt hat, sehen natürlich Putin als Hauptschuldigen. Allerdings empfinden sie auch die ukrainische Seite als nicht ganz sauber, es gibt Kritik an der Armee. Und auch Unzufriedenheit darüber, dass die Armee nicht in der Lage war, den Angriff besser abzuwehren. Der Frust der Menschen ist groß, auch bei denen, die nach Deutschland oder in andere europäische Staaten geflohen sind. Viele wollen zurück in ihre Heimat. 

Was wünscht sich Juri Vinograd?

Er glaubt an ein Ende des Kriegs und sitzt auf gepackten Koffern. Er sagt sehr oft, dass er zurück möchte. Dorthin, wo er geboren wurde und sein Leben verbracht hat, seine Freunde hat. Durch seine Flucht nach Israel fühlt er sich als Verräter, als einer, der seine Nachbarn und Freunde im Krieg zurückgelassen hat. Ohne den Druck meiner Frau und seines in Deutschland lebenden Sohnes wäre er ja nicht zu uns gekommen, sondern in Cherson geblieben. 

Wieso haben Sie die Erzählungen ihres Schwiegervaters veröffentlicht?

Im Endeffekt reden wir täglich in den Medien über diesen Krieg. Aber es gibt kaum Berichte von Menschen, die dort leben, die über das Erlebte und den Alltag sprechen. Dafür umso mehr Berichte von Journalisten, die mehrere Wochen im Kriegsgebiet verbringen und dann darüber berichterstatten. Deshalb liegt mir dieses Buch am Herzen. Es ist ein Stück Zeitgeschichte, es legt Zeugnis ab von dem, was die Bewohner vor Ort erleben, was Krieg für die Menschen im Kriegsgebiet heißt. 

Die Fragen stellte Ilgin Seren Evisen. 

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