Krisenmanagement im Konflikt mit Russland - Stabilität, nukleare Abschreckung, Nichtentgrenzung

Wunschdenken in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen können wir uns spätestens seit Putins kaum verhohlener Drohung mit Atomwaffen nicht länger erlauben. Wichtig sind glaubwürdige Abschreckung durch die Nato, ein Bewusstsein für machtpolitische Realitäten und Akzeptanz der im Atomzeitalter unausweichlich gewordenen Einsicht, dass Konflikte auch aus normativen Gründen begrenzt werden müssen.

Von Chruschtschows Atomdrohungen hat sich John F. Kennedy seinerzeit nicht „kirre machen“ lassen / dpa
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Autoreninfo

Dr. Andreas Lutsch ist seit Juni 2019 Juniorprofessor für nachrichtendienstliche Analyse (Intelligence Analysis) an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung.

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Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat ein politisches Erdbeben ausgelöst. Dauer und Resultate dieses Erdbebens sind aktuell nicht recht absehbar. Das Ausmaß diverser Veränderungen und Brüche erscheint bereits jetzt als fundamental, wenn nicht radikal.

Deutlich geworden ist auch, dass im russischen Krisenmanagement Kernwaffen eine besondere Rolle spielen. Bis vor Kurzem galt nukleare Abschreckung vor allem in Deutschland weithin als ein „virtuelles“ oder „unwirkliches“ Thema, von dem man nach der gefährlichen Zeit des Kalten Krieges am liebsten gar nichts mehr hören oder wissen wollte. Mit voller Wucht sind nun in wenigen Tagen ganze Gesellschaften aufgerüttelt worden. Die Erkenntnis sinkt ein, dass wir es nicht mit einem „Konstrukt“, sondern mit einer Realität zu tun haben. Praktisch über Nacht zerbröselte auch die weitverbreitete Fixierung auf abstrakte Ideen wie das Ziel einer Welt ohne Kernwaffen.

Putins Worte wirkten wie Donnerhall. Bei Auslösung des Krieges gegen die Ukraine sagte Putin in einer Fernsehansprache unter Hinweis auf das russische Kernwaffendispositiv (24.2.2022): „Wer versucht, uns zu stören, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort kommt und für Euch zu solchen Folgen führt, wie Ihr sie in Eurer Geschichte noch nicht erlebt habt.“ Der Begriff „Störung“ ist mehrdeutig. Zunächst einmal ging es möglicherweise darum, eine westliche militärische Intervention abzuschrecken, die ohnehin nahezu sicher ausgeschlossen war. Einen Bezug zu bedingten Ankündigungen westlicher Staaten hinsichtlich wirtschaftlicher und finanzieller Sanktionen enthielt die Ansprache allerdings auch. Möglicherweise wollte Putin eine entsprechende Willensbildung im Westen abschwächen oder sogar abschrecken.

Der Sinn für machtpolitische Realitäten darf nicht verloren gehen

Diese Drohgebärde, die weithin als Nukleardrohung verstanden wurde, versagte teilweise. Denn eine prompt folgende und in ihrer vollen Tragweite schwer einschätzbare Welle koordinierter Wirtschafts- und Finanzsanktionen durch westliche Länder konnte gerade nicht abgeschreckt werden. Umgehend zeigte sich der russische Staatspräsident in einer weiteren Fernsehansprache (27.2.2022). Aufgrund westlicher Sanktionen und „aggressiver Aussagen gegen unser Land“ ordne er nun an, die „Abschreckungskräfte der russischen Armee in besondere Kampfbereitschaft zu versetzen“. Die konkrete Abschreckungsabsicht ließ Putin offen.

Die überbordende Dynamik der Lage, die Intransparenz wesentlicher Konfliktprozesse, die Schwierigkeit, Veränderungen zu deuten, die zentrale Bedeutung der Aufklärung durch geheime Nachrichtendienste zum Zweck der Information von Entscheidern, die Bedeutung des Informationsraums unter digitalen Bedingungen und der Zwang für Entscheider, auch unter hoher Unsicherheit Entscheidungen zu treffen – all das sind fundamentale Rahmenbedingungen für Krisenmanagement in der aktuellen Situation. Allzu menschlich ist dabei der Faktor der Emotionalisierung, insbesondere der negativen Emotionalisierung. Diese kann sich mehr oder weniger stark auswirken und etwa in Überforderung, Fassungslosigkeit, Sympathiewellen, Wut, Enthemmung und Wunschdenken zum Ausdruck kommen. Zudem bezweifelt niemand auf einer allgemeinen Ebene die Notwendigkeit, dass die „Perspektive der Gegenseite“ mitgedacht werden muss, wobei die gleichzeitige Rede von der „Unberechenbarkeit Putins“ jeden Ansatz als aussichtslos erscheinen lässt.

Aber gerade der alternativlose Versuch, wirklich zu verstehen, welche Sichtweisen, Verzerrungen und – aus „unserer“ Sicht – pathologischen Vorstellungen „die Gegenseite“ wirklich prägen, kann extrem unbequem sein. Besonders schwierig wird es, wenn sich, wie aktuell der Fall, eine Einteilung in „Gut und Böse“ aufdrängt und der Fokus darauf abzunehmen droht, unter welchen Bedingungen menschliche Akteure „auf der Gegenseite“ handeln, welchem Druck sie sich ausgesetzt sehen und zu welchen Überreaktionen sie in der Lage sein könnten. Zu sehen, was ist und wie es ist, verlangt hohe Integrität, sorgfältige Besonnenheit und mitunter stählerne Nerven. Und so groß die Zumutung auch sein mag und so sehr auch wahrhaftige Versuche des Verstehens gerade unter Extrembedingungen Gefahr laufen, als Versuche des Verständnisses, des Entschuldigens, der Nichtdistanzierung oder des Rechtfertigens verunglimpft zu werden, so verzerrend, ja gefährlich, kann es sein, wenn nicht der sachliche Blick dominiert, der immer auch einen möglichst klaren Sinn für machtpolitische Realitäten vermitteln muss, die schlicht zu sehen sind und nicht verdrängt werden dürfen.

Kann nicht sein, was nicht sein darf?

Überhaupt stellt sich die heikle Frage: Sind wir Zeuge einer Situation, in der eine konstruktionsresistente Realität zurückschlägt?

Die Fassungslosigkeit im Westen legt etwa die Frage nahe, ob geopolitische Realitäten und damit auch Eigenlogiken von Großmächtepolitik wirklich „Realitäten“ sind oder ob es sich um „Konstrukte“ handelt, um „Denken aus dem 19. Jahrhundert“ usw. Eine brennend unangenehme Frage ist offensichtlich: Hatte und hat die Ukraine de facto die Möglichkeit, ihre Bindung frei zu wählen? Oder vereitelt die angrenzende Großmacht Russland de facto aus einer Position der Eskalationsdominanz heraus jeden Westbindungsversuch der Ukraine – und zwar, falls nötig, solange, bis die sich wehrende Ukraine ihre Freiheit verliert? Unabhängig von den Fragen, was eine Großmacht wie Russland zu solchem Verhalten motiviert, warum ihre Führung überhaupt die auffallende Chuzpe hat, sich zu solchem Verhalten legitimiert zu sehen, was solches Verhalten bedeutet und wie damit umgegangen werden soll, stellt sich auch die schwierige Frage: Was, wenn Situationsverständnisse tatsächlich so grundlegend unvereinbar waren und bleiben, dass die Führung der revisionistisch agierenden Großmacht Russland den Konflikt um die Ukraine geopolitisch rahmt, unabhängig davon oder angeschoben dadurch, was andere wollen, sagen oder tun? Oder kann nicht sein, was nicht sein darf? Oder umgekehrt gefragt: Darf nicht sein, was nicht sein kann?

Bereits eine idealistische Sichtweise, wonach gewisse geopolitische Realitäten einstweilen zur Kenntnis zu nehmen sind, um sie langfristig zu überwinden, wird häufig als unmoralisch abqualifiziert, obschon sich auch ihre Moralität gerade aus der Einsicht speisen soll, dass Staaten und insbesondere Großmächte im Atomzeitalter eine besondere Verantwortung für die Wahrung von Stabilität, für die Einhegung von Disputen und für das Nichtaufkommen von Exzessen haben. Wenn also in bestimmten Extremfällen tatsächlich eine gegenläufige Abhängigkeit bei Wertefragen besteht – Freiheit und Selbstbestimmung hier, Reduzierung des Risikos einer Großmächteauseinandersetzung da –, wie, warum und durch wen soll hier entschieden werden? Das sind profunde politische Fragen, deren Relevanz festzustellen selbst noch kein normatives Votum impliziert, was vorzuziehen ist. Das wiederum darf nicht zu dem Kurzschluss führen, wer so argumentiere, sei indifferent oder moralisch korrupt.

Entgrenzung von Konflikten kann suizidale Folgen haben

Tatsächlich muss der aktuelle Realitätsschock auch zu einer sorgfältigen Diskussion in Deutschland und Europa führen, wie internationale Politik funktioniert. Sogenanntes „magical thinking“ ist zu weit verbreitet. In solchem Denken imprägnieren Wünsche, wie etwas sein soll, so stark die Perspektiven von Betrachtern, dass ein Verständnis dessen, was wirklich der Fall ist, gehemmt, verzerrt, ja im Extremfall blind gemacht wird. Beispielsweise wird der Begriff der „Ordnung“ allzu schnell mit Begriffen wie „Frieden“ oder „Weltgesellschaft“ in Verbindung gebracht. Dabei bedeutet „Ordnung“ gerade nicht automatisch „Frieden“. Das Bestehen einer „Ordnung“ bedarf auch nicht eines umfassenden Friedenszustandes in der Welt. Die Fortexistenz der euro-atlantischen Sicherheitsordnung der Nato auch angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine illustriert den Punkt. Wichtig war und ist eine Kernidee: In der „anarchischen“ Staatenwelt setzt „Ordnung“ voraus, dass Macht durch Gegenmacht begegnet werden muss, um Stabilität zu gewährleisten. Dieses friedenserhaltende Prinzip gilt insbesondere unter nuklearen Bedingungen.

Die aktuelle Phase der Ukraine-Krise dokumentiert, was aus asymmetrischer nuklearer Verwundbarkeit erwachsen kann. Der Kernidee zufolge müssen Staaten allerdings auch ihre Ziele und Interessen begrenzen, ebenso die Anwendung von Mitteln, um Interessen umzusetzen. Eine Entgrenzung etwa aus normativen Gründen verbietet sich ebenso wie das Ignorieren machtpolitischer Rahmenbedingungen, weil das Gegenteil auf existenzielle Abgründe verweist. Es geht also um Interessen, um die Gewichtung und Priorisierung von Interessen und überhaupt um interessenbasierte Kalkulation. Ein strategischer Ansatz entspricht wiederum gerade nicht zwangsläufig einem „menschenfeindlichen Machiavellismus“, auch wenn Machtpolitik historisch immer wieder als Ansatz zur Unterjochung anderer pervertiert wurde, wie auch der russische Angriff auf die Ukraine in aller Brutalität zeigt. Gerade die Bewahrung der Freiheit sowie Versuche der friedlichen Konfliktlösung durch liberale Demokratien bedürfen einer machtpolitischen Grundlage. Verstanden werden muss zudem, dass Krisenmanagement primär top down – also von der nuklearen Abschreckung abwärts – gedacht werden muss und nicht bloß bottom up – also von der Entwicklungshilfe aufwärts.

Die Erfahrungen des Atomzeitalters legen bislang die fundamentale Erkenntnis nahe, dass in wechselseitig bestehenden Verhältnissen nuklearer Abschreckung Interessenmaximalismus oder eine Entgrenzung von Konflikten suizidale Folgen haben kann, welche niemand wollen kann – um das Mindeste zu sagen. US-Präsident John F. Kennedy etwa war bereit, erhebliche Risiken einzugehen, um die sowjetische Provokation der Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen auf Kuba mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Kooperationsbereitschaft zu entschärfen. Sein Krisenmanagement war riskant. Es erwies sich als effektiv und aus Sicht vieler als klug. Parallel dazu hing insbesondere auch die Freiheit West-Berlins an der nuklearen Abschreckung. Allerdings erkannte Kennedy damals: Es würde einen Weltkrieg wahrscheinlicher machen, wenn er die 1961 um West-Berlin herumgebaute Mauer einreißen lassen würde, welche ja unzweifelhaft die Unfreiheit der in der DDR eingesperrten Deutschen und die Integrität des Warschauer Paktes verfestigte. Und auch eine direkte Destabilisierung Osteuropas, also der imperialen Einflusssphäre der Sowjetunion, verbat sich aus demselben Grund.

Parallelen zur Berlin-Krise

Die nukleare Wirklichkeit machte die Welt viel gefährlicher, als sie vor der Erfindung von Kernwaffen war. Einen Ausweg aus ihr gab es zu keiner Zeit. Gleichzeitig war die allseitige Bemühung, den „Moment der thermonuklearen Wahrheit“ (McGeorge Bundy) niemals erleben zu müssen, eine starke Quelle für Moderation und Stabilitätsorientierung bei fortlaufendem Systemwettbewerb auf politischer, militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene. Selbst für den Extremfall, dass im Kriege selektiv Kernwaffen mit politischer Zielsetzung eingesetzt werden würden, um zu deeskalieren und einen Krieg politisch zu gewinnen, konnte eine moderierende Wirkung der nuklearen Abschreckung antizipiert werden, obschon sich derer niemand sicher sein könnte. Die Natur des Krieges würde dadurch jedenfalls fundamental verändert werden. Und doch dürften gerade im Falle selektiver Kernwaffeneinsätze dem Gegner „off-ramps“ nicht verstellt werden, also Auswege aus der Krise. Viele hielten bereits diesen Denkansatz für eine gefährliche Chimäre. Allerdings setzte sich solcher Pessimismus politisch gerade nicht durch. Im übrigen war er notwendig, um die nukleare Abschreckung in der Nato unter Bedingungen der amerikanischen Verwundbarkeit durch sowjetische Kernwaffen zu erhalten.

Heute stehen wir vor der beklemmenden Realität, dass der russische Staatspräsident Putin bereits zu Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine die Kernwaffen Russlands zu offensiven politischen Zwecken missbraucht hat – nicht nur im Verhältnis zur Ukraine, sondern auch, weil er westliche Länder wiederholt mit wenig verhüllten nuklearen Drohungen einschüchtern wollte. Man muss historisch weit zurücksehen, um auf Parallelen zu stoßen. Natürlich wird man an die „Atomdebatten“ der 1980er-Jahre denken. Viele haben diese Zeit persönlich erlebt, der Autor wurde in sie hineingeboren. Im Blick auf die aktuelle Russland-Krise noch relevantere Parallelen finden sich im Kontext der zweiten Berlin-Krise. Insbesondere Nikita Chruschtschow versuchte immer wieder, grobschlächtige rhetorische Hebel anzusetzen, um die europäischen Verbündeten der USA und ganz besonders die Bundesrepublik Deutschland zu beunruhigen, um sie „kirre zu machen“, wie es Konrad Adenauer nannte. Das diente offenbar größeren Zielen: den Widerstandswillen insbesondere der Deutschen im freien Teil Deutschlands auszuhöhlen und den Kalten Krieg politisch zu gewinnen. Noch einige Wochen nach der heißen Phase der Kuba-Krise sagte Chruschtschow anlässlich des Revolutionsfeiertages 1962: „Die Raketen, die wir von Kuba abziehen, sind nicht aus der Welt, sie sind in ihrer Reichweite gerade richtig für die Bundesrepublik.“ Gut ein Jahr später sagte er über die damalige Bundesregierung: „Sie wollen nicht begreifen, dass Westdeutschland im Falle eines Kriegsausbruchs schon in der ersten Kriegsstunde wie eine Kerze verbrennen würde.“

Auch Unwahrscheinliches muss mitgedacht werden

Damals wie heute ist es wichtig, ein hohes Maß an Kaltschnäuzigkeit zu bewahren, auf die Wirksamkeit der nuklearen Abschreckung in der Nato zu setzen, nukleare Drohgebärden genau im Blick zu behalten und vor allem den Spezialisten in Regierungen zu vertrauen, deren Aufgabe es ist, Risiken systematisch zu prüfen und abzuschätzen. Spekulationen, Alarmismus, Panikstimmung und Autosuggestion waren und sind nicht angesagt und betreiben das Geschäft der Gegenseite, sofern sie die Öffentlichkeit beeinflussen. Die Zukunft kann aber niemand wissen. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass man im Westen die russische Interessenlage „besser versteht“ als Putin und sein Apparat. Wer aber heute argumentiert, Putin könnte – selbst wenn es sehr unwahrscheinlich erscheinen mag – „wirklich so dumm“ sein, seine Drohungen wahrzumachen und selektiv Kernwaffen zur Wiederherstellung der Abschreckung bezogen auf westliche Sanktionen einzusetzen, läuft schnell Gefahr, selbst als „dumm“ hingestellt zu werden. „Unter Normalbedingungen“ gewachsene Plausibilitätsvorstellungen haben unter Normalbedingungen größte Bedeutung, können aber unter exzeptionellen Bedingungen fehlleitend sein. Nicht wenige waren zuletzt auch von der radikalen Tatsache des russischen Einmarsches in die Ukraine überrascht. Mögliche Ereignisse, die massive oder gar existenziell wichtige Konsequenzen hätten, müssen auch dann, wenn sie als sehr unwahrscheinlich erscheinen, ernst genommen werden – insbesondere unter Krisenbedingungen. Fundamentale Brüche sind möglich, was an dieser Stelle gerade keine Aussage über ihre Wahrscheinlichkeit implizieren und schon gar eine Prognose insinuieren soll.

Jetzt und mindestens auf Jahre hin auseinandersetzen müssen sich Europäer und Amerikaner mit der schwerwiegenden Problematik, wie bei Wahrung eigener Interessen Dynamiken zwischenstaatlicher Krisen beherrscht werden können, welche – wider eigenen Willen und den eigenen Friedensbemühungen zum Trotz – kriegsgefährlich oder sogar kriegerisch werden können. Dabei spielt die Frage, welche Wirkungen ein „nuklearer Schatten“ haben kann, eine herausragende Rolle. In einem hochkompetitiven und situativ fluiden Umfeld können Gefahren irrtums- und fehlerbehafteter Signalbildung, Fehlperzeption und Fehlkalkulation zunehmen. Dieser Punkt scheint in öffentlichen Debatten häufig massiv übertrieben zu werden, etwa wenn von Horrorszenarien die Rede ist: „versehentlicher Krieg“ oder „Krieg aufgrund von Unfällen“. Etwas anderes hingegen ist der „Krieg, den keiner gewollt hat“.

Zweifellos können sich in Krisen etwa Sichtweisen auf Interessen ändern und mit ihnen die Stakes, die Einsätze, die Akteure zur Interessenbehauptung einzubringen bereit sind. Änderungspotenziale liegen auf der Hand: Wenn in der Wahrnehmung auf „roter Seite“ ein vor der Krise als mittelwichtig eingeschätztes Interesse von „Blau“ im Zuge der Krise als sehr wichtig oder sogar existenziell erscheint oder mit welcher Wahrscheinlichkeit auch immer erscheinen könnte, kann der Handlungsdruck auf „Rot“ steigen, eigene Interessen auszuweiten und den eigenen Einsatz zu erhöhen, um Interessen in der Krise zu behaupten. Was beiderseits ursprünglich beabsichtigt wurde, droht unter solchen Bedingungen mehr und mehr in den Hintergrund zu treten und die fundamentale Bedeutung der Aufgabe, gesichtswahrende Auswege aus der Krise nicht zu verschließen, tritt immer deutlicher hervor. Eine zugespitzte Krisenphase entspricht dem, was etwa der Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Thomas C. Schelling als „competition in risk-taking“ unter nuklearen Bedingungen bezeichnete. Der dynamische Konfliktprozess kann zu einem Punkt führen, an dem zur Wahrung eigener Interessen nukleares „brinkmanship“ als rationales Mittel im Kriege erwogen werden könnte: also die vorsätzliche Risikoerhöhung und damit notwendigerweise auch Selbstgefährdung mittels Kernwaffendrohung oder gar selektivem Kernwaffeneinsatz zu politischen Zwecken, um die Entschlossenheit eines Gegners zu brechen und eine Auseinandersetzung zu eigenen Gunsten zu entscheiden. Auch im Lichte dieser Problematik ist es zentral für die Nato, für glaubwürdige nukleare Abschreckung zu sorgen, damit schon die Krisenwahrscheinlichkeit als solche abgebaut wird.

Ein stabilitätspolitischer Ansatz ist unausweichlich

Welche Folgerungen können nun aus der Realität von Putins Nukleardrohungen im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gezogen werden?

Jedenfalls sollten Menschen, die in jener Freiheit leben können, welche die euro-atlantische Sicherheitsordnung ihnen bietet, gerade angesichts der deprimierenden Weltlage die Courage aufbringen, zwei allgemeine Punkte zu verinnerlichen – und zwar unabhängig davon, welche konkreten politischen, strategischen und militärischen Schlüsse hieraus gezogen werden können oder sollen.

Erstens besteht angesichts massiv zunehmender Spannungen die reale Möglichkeit, dass Putins Russland auch den Nato-Staaten einen Krieg unter „nuklearem Schatten“ aufzwingen könnte, selbst wenn und gerade weil auch die russische Führung weiß, dass die Auslösung eines strategischen Kernwaffenkrieges ein irrationaler, ja diabolischer Akt wäre. Dieser Befund, dass eine reale Möglichkeit besteht, ist dezidiert keine Aussage über die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Möglichkeit. Der Punkt ist schlicht und direkt, dass es sich nicht nur nicht um „Thinking about the Unthinkable“ handelt, sondern um eine reale Möglichkeit, die weder ausgeschlossen noch sicher ist und sehr stark davon abhängt, welche Risiken die russische Regierung zur Erreichung der von ihr definierten Interessen einzugehen bereit ist.

Zweitens ist ein stabilitätspolitischer Ansatz unausweichlich. Ein solcher beinhaltet zwangsläufig eine Mischung aus Vorbereitetsein, Resilienz, Abschreckung, nuklearer Abschreckung, Bewusstsein für die Legitimität und sittliche Verpflichtung zur Selbstverteidigung gegen Friedensbrecher sowie gleichzeitig Bändigung, Nichtentgrenzung von Zielen und Einhegung von Disputen im Lichte machtpolitischer Rahmenbedingungen.

Der Autor vertritt ausschließlich seine persönliche Auffassungen, nicht die irgendeiner staatlichen Stelle der Bundesrepublik Deutschland.

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