Iskander-K-Rakete
Eine russische Iskander-K-Rakete, die bei einer Militärübung auf einem Truppenübungsplatz in Russland abgeschossen wird / dpa

Atomwaffen - In Krisenzeiten steigt auch das nukleare Risiko

Die Ankündigung Putins, Truppen in die Ost-Ukraine zu senden, ist eine weitere Etappe einer Entwicklung, die die Furcht vor einem Atomkrieg wieder aufkommen lässt. Doch die Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung war in den vergangenen Jahrzehnten nie völlig gebannt. Auch wenn keiner den Erstschlag will: Je aufgeheizter die Weltlage, desto wahrscheinlicher werden Panikreaktionen.

Autoreninfo

Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 2015–2020.

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Ein durchdringender Heulton von einer Minute Dauer, an- und abschwellend, zweimal kurz unterbrochen – so würde sich die offizielle Warnung vor einem Atomangriff anhören. Vorausgesetzt, irgendjemand verstünde noch, was mit diesem Alarmgeheul gemeint sein könnte. Und vorausgesetzt, es gäbe noch überall Sirenen. Geübt wird in Deutschland das Warnszenario schon lange nicht mehr.

Im Ranking der Risiken, mit denen wir persönlich rechnen, ist der Atomkrieg weit nach unten gerutscht. Klima und Terror, Corona und Inflation wirken im 21. Jahrhundert weit bedrohlicher. Erst der militärische Aufmarsch Russlands an den Grenzen der Ukraine bringt neuerdings wieder eine gewisse Furcht vor Krieg ins öffentliche Bewusstsein.

Das war in den 80er-Jahren, in den Zeiten der erbitterten Diskussion über die Nato-Nachrüstung mit nuklearen Mittelstreckenwaffen gegen die SS-20-Vorrüstung der Sowjetunion, durchaus anders. Angst vor dem „Atomtod“ ging damals um.

Ein „Atomkrieg aus Versehen“ ist jederzeit möglich

Als latente Gefahr aber gab es das Risiko eines katastrophalen Atomkriegs durchgängig immer, seit mehr als ein Land diese Bombentechnik beherrscht. Trotz Abrüstung verfügen allein die Ur-Antagonisten USA und Russland zusammen noch über mehr als 10.000 nukleare Sprengköpfe: in Raketensilos, in Bunkern, auf See. Dazu China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea, vielleicht bald auch der Iran.

Ein „Atomkrieg aus Versehen“ ist jederzeit möglich. Je aufgeheizter sich die Weltlage darstellt, je konfrontativer die internationalen Beziehungen sind, desto wahrscheinlicher werden Fehlwahrnehmungen, falsche Alarme und Panikreaktionen. In der Geschichte gibt es eine ganze Reihe von Beispielen, die das „Launch on warning“-Problem illustrieren: die Notwendigkeit, Waffen einzusetzen, schon bevor der erkannte feindliche Angriff Wirkung entfaltet.

Nachdem Anfang 2020 eine US-Drohne den iranischen Revolutionsgarden-General Soleimani auf irakischem Gebiet getötet hatte, kam es wenig später zu Anschlägen schiitischer Milizen auf amerikanische Stützpunkte im Irak. Am 8. Januar 2020 schoss dann die iranische Luftabwehr ein ukrainisches Verkehrsflugzeug auf dem Linienflug nach Teheran mit 176 Menschen an Bord ab. Die diensttuenden Soldaten hatten mit einem amerikanischen Vergeltungsschlag gerechnet und trotz des auf dem Radar erkennbaren Größenunterschieds zwischen einer Passagiermaschine und einem Marschflugkörper zwei Abfangraketen gestartet.

Jimmy Carter und Boris Jelzin behielten 1979 bzw. 1995 einen kühlen Kopf

Ein echtes nukleares Beispiel ist vom 26. September 1983 überliefert, ebenfalls aus einer instabilen internationalen Lage (Nachrüstung). Damals meldete das sowjetische Frühwarnsystem fünf anfliegende Interkontinentalraketen. Der verantwortliche Offizier gab diese Information nicht weiter, weil er befürchtete, sonst einen nuklearen Gegenschlag auszulösen und ihm persönlich ein amerikanischer Erstschlag mit nur fünf Raketen unwahrscheinlich erschien. Tatsächlich war es eine Fehlmeldung, und die Weltgeschichte ging so weiter, wie wir sie kennen.

Üblicherweise werden Fehlalarme von keiner Seite aktiv veröffentlicht. Dennoch sind etliche Fälle bekannt geworden: von einem Atom-U-Boot-Zwischenfall in der Kuba-Krise 1962 bis zu Fehlalarmen in der jüngsten Vergangenheit wie auf Hawaii 2018 oder 2020 auf der Air Base Ramstein (nach russischen Raketentests). US-Präsident Jimmy Carter und Russlands Präsident Boris Jelzin behielten 1979 bzw. 1995 einen kühlen Kopf, als ihnen mutmaßliche Atomangriffe gemeldet wurden.

Über Donald Trumps Nervenkostüm ist in diesem Zusammenhang auch immer wieder spekuliert worden. Am Ende versicherte der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs des US-Militärs den europäischen Verbündeten ausdrücklich, man werde besonders darauf achten, dass der scheidende Präsident mit dem Atomkoffer nicht noch irgendetwas Irrwitziges anstellt.

Alle Seiten betonen den defensiven Charakter ihrer Atomwaffen

Vor allem Russland allerdings sorgt in der jüngeren Vergangenheit mit der Einführung modernster nuklear-waffenfähiger Trägersysteme für zusätzliche Beunruhigung im Westen. Landgestützte Mittelstrecken-Marschflugkörper (Nato-Bezeichnung: SSC-8), zeitweise stationiert in der Region Kaliningrad, verletzen den INF-Vertrag über den beiderseitigen Verzicht auf solche Systeme in Europa (der inzwischen gekündigt ist). Sie verkürzen die Reaktionszeit extrem. Neue Hyperschall-Flugkörper können durch ihre Manövrierfähigkeit jede Raketenabwehr überwinden. Und gerade getestete Anti-Satelliten-Waffensysteme sollen gegebenenfalls die US-Frühwarnung ausschalten.

Niemals wurden solche Waffen bisher eingesetzt. Die nukleare Metaphysik der gesicherten gegenseitigen Vernichtung scheint noch intakt. Alle Seiten betonen den defensiven Charakter ihrer immer leistungsfähigeren Technik. US-Präsident Barack Obama beschwor in seiner Amtszeit zudem mehr als einmal die politische Vision einer atomwaffenfreien Welt: „global zero“. Und Präsident Joe Biden denkt offenbar sogar über eine amerikanische Selbstverpflichtung nach, kategorisch auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten.

Demgegenüber gibt es bei den Russen eine Ergänzung ihrer Nuklearstrategie, für die Wissenschaftler den Begriff „nuklearer Deeskalationsschlag“ geprägt haben: Nach einer schnellen territorialen Eroberung mit konventionellen Truppen könnte Russlands Präsident Wladimir Putin eine einzelne Atomwaffe einsetzen, womöglich über unbewohntem Gebiet, um damit dem Westen die Sinnlosigkeit militärischer Anstrengungen zur konventionellen Rückeroberung, etwa im Baltikum, zu demonstrieren. Im Manöver geübt wurde so etwas schon.

Wir machen uns selten klar, wie viel Glück wir 77 Jahre lang hatten

Für die Ukraine wäre mit diesem russischen Nuklear-Szenario allerdings nicht zu rechnen, da sie als Nicht-Mitglied keine Nato-Beistandsverpflichtung auslösen könnte. Von bewaffneter Hilfe für Kiew müsste Putin niemanden nuklear abschrecken.

Doch zweifellos hat die Kernwaffen-Bedrohung in dieser Zeit wieder neue Aktualität gewonnen, auch wenn das bisher kaum Gegenstand der öffentlichen Debatte geworden ist. Neben den Gefahren neuer Drohpotenziale lässt sich ja auch das Ingangsetzen einer unbeabsichtigten militärisch-politischen Kettenreaktion nie völlig ausschließen. Wie viel Glück wir bisher damit hatten, dass keiner der falschen Alarme, Systemfehler und Unfälle in den 77 Jahren unseres Atomwaffen-Zeitalters zur nuklearen Eskalation geführt hat, machen wir uns selten klar.

Dass aber auch hoffnungsloseste Konfrontation umschlagen kann in Kooperation und Partnerschaft, dass Freundschaft und Integration möglich sind, beweist nach den Weltkriegen und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts das zusammenwachsende Europa, trotz aller Widrigkeiten. Gäbe es nur Europa auf unserem Planeten, bräuchte es keine Streitkräfte mehr, und schon gar keine nuklearen. Da das aber nicht so ist, muss die Menschheit vorerst weiter damit leben, das Dauerrisiko der Atomkriegskatastrophe politisch, militärisch und technisch zu beherrschen, so gut es geht.

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Tomas Poth | Di., 22. Februar 2022 - 12:22

... und dazu eine ruhige Hand.
Die Atomwaffen sind da und werden auch nicht verschwinden, so lange es keine bessere Rückversicherung gegen militärische Übergriffe gibt.

Walter Bühler | Di., 22. Februar 2022 - 12:50

Es stimmt: wir haben die letzten 77 Jahre viel Glück gehabt.

Es stimmt, dass mit der europäischen Union eine hoffnungsvolle Zukunft für Europa möglich geworden ist.

Aber dieser schöne europäische Garten ist teilweise wieder von den Unkräutern der Gleichgültigkeit und der Schlamperei überwuchert worden. Dazu ist seit der Renationalisierung des Balkan auch das Unkraut des blinden Nationalismus wieder hochgeschossen. Unter der medialen Tarnkappe des tapferen, heroischen "Freiheitskämpfers", der gegen eine urgewaltigen böse Zentralmacht für seine "Selbständigkeit" kämpft", ist eine Art von der süßem "kleinem" oder "romantischem" Nationalismus herangewachsen, der bis weit in die Grünen und Linken hinein seine Anhänger und Unterstützer gefunden hat und heute in allzu vielen Teilen Europas toleriert wird.

Die deutschen Kara Ben Nemsis von heute, die solche "Freiheitskämpfer" unterstützen, sind hauptsächlich in den Medien und bei den Grünen zu finden, aber auch in den anderen Parteien.

Joachim Kopic | Di., 22. Februar 2022 - 18:17

...hören möchte: Bisher hat nur die doch so "liebe" USA die Atombombe als Waffe eingesetzt ... nicht nur einmal ... Deutschland hatte Glück im Unglück, rechtzeitig kapitulieren zu "dürfen", sonst hätte es uns mit Sicherheit (denken wir nur an "Dresden"...) auch getroffen :(