Abgeblasene Rebellion der Wagner-Truppe - Alles eine große Verschwörung?

War der Kurzzeit-Aufstand von Jewgeni Prigoschin und seinem Söldnerheer lediglich eine Inszenierung? Und ist Putin jetzt geschwächt? Fakt ist: Das Scheitern der Kreml-Führung bestand darin, eine Situation geschaffen zu haben, in der die Wagner-Truppen überhaupt erst engagiert werden mussten. Der Rest ist Spekulation.

Jewgeni Prigoschin am Wochenende in einem Militärfahrzeug auf einer Straße in Rostow am Don / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Es wurde viel darüber spekuliert, ob der Aufstandsversuch der Wagner-Gruppe am Wochenende den russischen Präsidenten Wladimir Putin geschwächt haben könnte. Wenn man dem Anführer der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, Glauben schenken darf, wurde der Aufstand monatelang vorbereitet und war das Ergebnis einer absichtlichen Vorenthaltung von Nachschub durch das konventionelle Militär sowie eines direkten russischen Raketenangriffs auf seine Truppen. Dies mag erklären, warum sich sein Marsch eher gegen den russischen Generalstab als gegen Putin selbst zu richten schien.

Wie dem auch sei, die Angelegenheit war nach einem Tag vorbei; entweder ist sie gescheitert oder sie war nur als symbolische Geste gedacht. Es wird lange dauern, bis wir wissen, was genau geschehen ist.

Was wir aber jetzt schon durchdenken müssen, ist die Frage, inwieweit das Prigoschin-Debakel die russische Regierung destabilisieren, Putin schwächen oder den Krieg in der Ukraine beeinflussen wird. Putins Status steht im Mittelpunkt des Geschehens. Sollte es sich tatsächlich um einen Putschversuch gehandelt haben, so hat dieser den Kreml nie ernsthaft bedroht. Prigoschins Differenzen mit Teilen der Zentralregierung waren allgemein bekannt. Warum also sollte Putin durch einen Putschversuch eines bekannten Unzufriedenen geschwächt werden, der ins Leere lief? Und was bedeutet es überhaupt, geschwächt zu sein? Bedeutet es, dass die Abteilungsleiter und insbesondere der Generalstab seine Befehle missachten würden? Bedeutet es, dass Putin seinen Job los ist?

Was bedeutet „geschwächt“?

Im politischen Sinne könnte „geschwächt“ bedeuten, dass Putin nicht mehr in der Lage ist, exekutive Entscheidungen zu treffen oder Bürokraten und Generäle zu entlassen. Das wäre eine ernste Entwicklung. Russland befindet sich im Krieg und braucht eine effektive Kommandostruktur. Wenn Putin geschwächt wäre, dann bräche auch die Kommandostruktur zusammen – was auch bedeuten würde, dass es keinen Oberbefehlshaber mehr gäbe. In diesem Szenario ist es unwahrscheinlich, dass Putin geschwächt wird; er würde schlicht ersetzt werden. 

Die Frage ist dann aber, wer ihn ersetzen sollte? Prigoschin hatte sich faktisch womöglich um den Posten beworben, aber er kapitulierte schließlich vor einer anderen Putin-Marionette, dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Es könnte natürlich auch jemand Unbekanntes kommen, aber wenn es keinen Thronfolger gibt, weiß ich nicht, was es bedeutet, dass Putin „geschwächt“ sein soll. Und selbst wenn ich es wüsste, wüsste ich nicht, warum ihn ein nach weniger als einem Tag gescheiterter Putschversuch schwächen sollte.

 

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Die ernstere Frage ist, was die Wagner-Gruppe überhaupt auf dem Schlachtfeld zu suchen hatte. Private Militäraufträge sind durchaus üblich, aber die Rolle der Wagner-Gruppe in Russland war insofern ziemlich einzigartig, als sie Aufgaben übernahm, die normalerweise eher konventionellen Streitkräften als paramilitärischen Gruppen vorbehalten sind, da sie mit der Durchführung einiger der wichtigsten Schlachten des Krieges betraut war. Mit der Weiterentwicklung seiner Rolle begann Prigoschin, seine eigene Strategie außerhalb der Befehlskette des Militärs zu verfolgen, wobei er sich manchmal offen über seine Rivalen lustig machte, die ihm dann den Nachschub abschnitten. Zwei Armeen versuchten also, einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen – und sind bisher gescheitert.

Chaotische Kriegführung

Putin ist für die ganze Angelegenheit verantwortlich. Er und seine Kader dachten, Russland würde die Ukraine schnell und entschlossen besiegen. Mit dem Scheitern seines Panzerangriffs geriet der russische Angriff praktisch von Anfang an ins Stocken. Russland hatte den Krieg zwar nicht verloren, aber auch nicht gewonnen, sodass er die Armee mit Wagner-Truppen aufstockte. Mit anderen Worten: Putin hatte die ukrainische Armee und seine eigene dramatisch falsch eingeschätzt, und anstatt sich zurückzuziehen, warf er Wagner ins Gefecht. Diese seltsame Lösung führte zum Chaos. Aus dem Chaos entstand der Aufstand.

In diesem Sinne ist die Niederschlagung eines Putschversuchs nicht das Eingeständnis eines Scheiterns, wie viele zu glauben scheinen. Das Scheitern bestand darin, eine Situation geschaffen zu haben, in der Wagner überhaupt erst engagiert werden musste. Die Frage wird nun sein, inwieweit Moskau in der Lage ist, seine Kriegspläne zu überprüfen und die massiven Fehler zu erkennen. Putin hat es bisher vermieden, seine Kriegspläne auf den Prüfstand stellen zu lassen. Wird eine Revision nun aufgrund eines der wenigen Erfolge, die Putin hatte, stattfinden?

Manche glauben, der ganze Vorfall sei eine Verschwörung. Wenn das der Fall wäre, müssten an der Planung der Präsident von Belarus, der russische Generalstab, Mitglieder von Putins Stab sowie ein Teil der Wagner-Gruppe beteiligt gewesen sein. Keine professionelle Verschwörung würde jemals in Angriff genommen werden, wenn so viele Leute über die Vorgänge Bescheid wissen. Ich frage mich, wie viele Details Lukaschenko wohl irgendwann erfragt hat. Kein Profi würde sich auf eine Verschwörung einlassen, an der so viele Leute beteiligt sind.

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