Frauen trauern am Sarg des bei einem israelischen Drohnenangriff getöteten obersten Befehlshabers der Hisbollah, Ali al-Debs, während seines Trauerzugs / dpa

Hamas und Hisbollah - Blutige Freundschaft

Dramatische Veränderungen in der Region und Pläne für die Nachkriegszeit in Gaza werfen einen Schatten auf die Zukunft der Hisbollah. Ihre militärische Unterstützung der Hamas hilft ihr dabei nicht. Im Gegenteil.

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Der Angriff der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober entbehrte jeder Logik. Nach dem jahrzehntelangen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hätte ein rationaler Akteur die überwältigende Reaktion Israels auf einen solchen Angriff leicht vorhersehen können. Die Hamas hätte verstehen müssen, dass sie nicht auf die Unterstützung der arabischen Länder zählen kann, da die meisten von ihnen die Vernichtung der Gruppe begrüßen würden. 

Einer der ganz wenigen Verbündeten, die bereit waren, ihr militärisch zu helfen, war die Hisbollah. Die schwache Reaktion der Hisbollah reichte jedoch nicht aus, um die Hamas zu entlasten, und verärgerte Israel nur noch mehr, indem sie israelische Zivilisten zur Räumung des Grenzgebiets zwang. Sowohl die Hamas als auch die Hisbollah sind sich darüber im Klaren, dass eine Abrechnung bevorsteht, dennoch ziehen sie es weiterhin vor, das Unvermeidliche hinauszuzögern.

Wahllose Messerangriffe im Westjordanland

Die Niederlage der arabischen Armeen im arabisch-israelischen Krieg von 1967 löste ein islamisches Erwachen aus, das zum Widerstand der Muslimbruderschaft gegen die Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens führte. Sie glaubte, dass sie Israel zerstören und einen palästinensischen Staat errichten könnte, der sich vom Jordan bis zum Mittelmeer erstreckt. Aus dieser Überzeugung heraus gründeten ehemalige Mitglieder der Muslimbruderschaft 1981 in Gaza die palästinensische Bewegung Islamischer Dschihad. Sechs Jahre später löste die Ermordung von vier palästinensischen Arbeitern durch einen israelischen Lastwagenfahrer die erste Intifada aus, woraufhin sich der Gaza-Ableger der Muslimbruderschaft in die Islamische Widerstandsbewegung, auch bekannt als Hamas, umwandelte.

Jahrelang verübte die Hamas wahllos Messerangriffe im Westjordanland, verstärkte aber ihre militärischen Aktivitäten nach dem Massaker in der Höhle der Patriarchen in Hebron 1994, das von einem israelischen religiösen Extremisten verübt wurde. Daraufhin verübte die Hamas eine Reihe von Selbstmordattentaten gegen weiche israelische Ziele. Sie glaubte weiterhin, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie Israel besiegen würde, obwohl das Gegenteil bewiesen war.

Israel hat der Hamas vor Jahren über eine dritte Partei einen langfristigen Waffenstillstand und ein Ende der Blockade des Gazastreifens vorgeschlagen. Es bot auch wirtschaftliche Anreize an, darunter Zugang zu Wasser und Strom und sogar Barzahlungen. Die Hamas lehnte den Vorschlag ab – trotz der schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Menschen im Gazastreifen zu leiden haben, darunter eine Jugendarbeitslosigkeit von über 60 Prozent.

Die Notlage des Gazastreifens

Nach dem Angriff der Hamas im Oktober äußerte ein hochrangiges Mitglied des politischen Büros der Hamas sein Erstaunen über die Haltung der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Notlage des Gazastreifens, die er als beschämend gleichgültig bezeichnete. Er brachte auch seine Enttäuschung über die symbolischen Grenzoperationen der Hisbollah gegen israelische Stellungen zum Ausdruck und sagte, er habe viel mehr erwartet. 

Angesichts der Tatsache, dass die Hisbollah der Hamas in keinem der vorangegangenen Kriege mit Israel seit 2008 zu Hilfe kam, ist es jedoch überraschend, dass die Gruppe mehr erwartet. Bemerkenswert ist, dass der Iran die Beteiligung der Hisbollah an der Kampagne angeordnet hat, ebenso wie er die jemenitischen Huthi-Rebellen angewiesen hat, internationale Schiffe im Roten Meer anzugreifen.

Für die Palästinenser besteht kein Zweifel, dass der Gaza-Krieg zu einer humanitären Katastrophe führen wird. Der israelische Politiker Benny Gantz sagte, die Hamas habe zwei Möglichkeiten, wenn ihr die palästinensische Zivilbevölkerung am Herzen liege: sich zu ergeben oder alle israelischen Geiseln freizulassen. Andernfalls, so Gantz, werde Israel seine Operationen im gesamten Gazastreifen fortsetzen; auch in Rafah, der südlichsten Stadt des Streifens.

Hamas am Scheideweg

Die Hamas und ihre Führer sind sich der Wut der Durchschnittspalästinenser im Gazastreifen bewusst, die ihr die Schuld an ihrem Leid geben und die Konsequenzen ihres Angriffs auf Israel nicht einkalkulieren. Die Hamas befindet sich heute an einem Scheideweg. Ihr militärischer Flügel kann nicht weiter trotzig agieren und muss zugeben, dass es ein fataler Fehler war, die Reaktion Israels nicht vorherzusehen. Aber so oder so, ihr Schicksal ist besiegelt: Die Gruppe wird zerschlagen werden, und ein radikalerer und revolutionärerer Flügel wird sich von ihr abspalten. Unterdessen sieht sich die Hisbollah zwischen israelischen Forderungen, sich weiter nördlich der Grenze zurückzuziehen, und Aufrufen libanesischer Gruppen zur Entwaffnung gefangen. Angesichts wachsender politischer Spannungen im eigenen Land und israelischer Vergeltungsmaßnahmen in Syrien und im Südlibanon befindet sich die Hisbollah nun in einer existenziellen Krise.
 

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Die Hisbollah wiederholt den Fehler von 2006, als sie beschloss, den Norden Israels anzugreifen und israelische Soldaten zu entführen, um vom lokalen Druck zur Entwaffnung abzulenken. Diesmal ist sie mit einer tiefen politischen Krise im Libanon konfrontiert und kann die Wahl eines befreundeten Präsidenten nicht garantieren. Christliche Gruppen haben die Hisbollah zur Entwaffnung gedrängt und gedroht, das Land zu föderalisieren, wenn sie nicht kooperiert. Die Hisbollah hat sich stattdessen für eine laue Unterstützung der Hamas entschieden, in der Annahme, dass die israelischen Repressalien bescheiden ausfallen würden.

Ein Kind des Krieges

Die Hisbollah wurde im Krieg geboren und kann nur unter kriegsähnlichen Bedingungen funktionieren. Seit 1985 strebt die Hisbollah einen Staat nach dem Vorbild des iranischen Ayatollah Khomeini an, der im Widerspruch zum konfessionell geprägten System der Machtteilung im Libanon steht. Sie suchte ihre Legitimität in der Anti-Israel-Stimmung und drohte dem Land oft mit Krieg. Ihre Dominanz in Sicherheits- und militärischen Angelegenheiten ermöglichte es ihr, Regierungsentscheidungen zu kontrollieren und diejenigen zu beeinflussen, die sich um politische und administrative Positionen bewarben. Sie schenkte den staatlichen Angelegenheiten wenig Aufmerksamkeit und konzentrierte sich stattdessen auf die Konsolidierung ihres Ministaats.

Nach dem Rückzug der syrischen Armee aus dem Libanon im Jahr 2005 wurde sie aus der Not heraus in die Politik einbezogen. Doch der Übergang der Hisbollah von einer militanten Gruppe zur dominierenden politischen Kraft im Libanon war eine große Herausforderung für die Gruppe. Während der Präsidentschaft ihres Verbündeten Michel Aoun (2016-2022) versuchte die Hisbollah erfolglos, die Verbindungen des tiefen Staates zu kontrollieren. Die Hisbollah ist von ihrer Doktrin her nicht in der Lage, sich in das staatliche System zu integrieren, was voraussetzen würde, dass sie sich ideologisch vom Iran distanziert und die Souveränität des Libanon akzeptiert. 

Heute hat der Niedergang des iranischen Regionalprojekts neben dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Libanon und dem Zerfall seines sozialen Gefüges zu den Herausforderungen beigetragen, vor denen die Hisbollah steht. Ihr größtes Hindernis bleibt jedoch ihre Unfähigkeit, dem existenziellen Druck aus allen Richtungen standzuhalten, insbesondere nachdem sie beschlossen hat, eine weitere Front gegen Israel zu eröffnen, um die Hamas zu unterstützen. Angesichts der raschen regionalen und lokalen Veränderungen wird die Krise der Hisbollah nicht enden. Die dramatischen Veränderungen in der Region und die Pläne für die Nachkriegszeit in Gaza werden einen Schatten auf die Zukunft der Hisbollah werfen.

Ausbruch der Kämpfe im Norden

An der südlichen Grenze des Libanon setzt die Gruppe auf Zeit und hofft, dass der internationale Druck auf die Israelis es ihr ermöglicht, ihre Präsenz dort aufrechtzuerhalten. Israel fordert, dass sich die Hisbollah bis zum Litani-Fluss zurückzieht, der etwa 30 Kilometer von der Grenze entfernt ist. US-Präsident Joe Biden hat nur begrenzte Möglichkeiten, das Vorgehen der israelischen Regierung in diesem Gebiet zu beeinflussen. Im Inland wächst der Druck auf die Regierung, die Grenze zum Libanon zu sichern und 80.000 Bürger in ihre Häuser zurückkehren zu lassen, die sie nach dem Ausbruch der Kämpfe im Norden verlassen haben.

Die Hisbollah versucht weiterhin, die Durchschnittslibanesen, insbesondere die Schiiten, davon zu überzeugen, dass sich das Kräfteverhältnis zu Israel zu ihren Gunsten verschiebt. Ihr Anführer Hassan Nasrallah ist sich jedoch bewusst, dass diese Darstellung nicht mit der Realität übereinstimmt; die militärische Kluft zwischen seiner Gruppe und Israel ist größer denn je. Die Hisbollah fürchtet sich vor einem totalen Krieg mit Israel und tut ihr Bestes, um ihn zu vermeiden. Doch es fehlt ihr der Mut, ihre Angriffe auf Nordisrael einzustellen, obwohl sie keine Auswirkungen auf die israelischen Operationen im Gazastreifen haben.

Israel betrachtete die Hamas und die Hisbollah zunächst schlimmstenfalls als Ärgernis und bestenfalls als bequeme Ablenkung, die dazu beitrug, die israelische Solidarität inmitten chronischer politischer Spaltungen zu stärken. Der tödliche Überfall der Hisbollah, der den Libanonkrieg 2006 auslöste, und der Angriff der Hamas im vergangenen Oktober veränderten jedoch Israels Wahrnehmung der beiden Gruppen. Es sieht sie nun als existenzielle Bedrohung an.

An mehreren Fronten kampfbereit

Israels Notwendigkeit, an mehreren Fronten kampfbereit zu sein und die Armeeeinheiten rotieren zu lassen, um die Wirtschaft in Gang zu halten, hat die spaltende Frage der Wehrpflicht wieder aufleben lassen. Es gibt eine wachsende Debatte über einen Regierungsbeschluss vom vorigen Sommer, der das israelische Militär anweist, keine Mitglieder einer ultraorthodoxen Gruppe, die als Haredim bekannt ist, einzuziehen. 

Die sephardischen Haredim, die etwa 13 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels ausmachen, genießen außergewöhnliche Privilegien, obwohl sie sich weigern, im Militär zu dienen. Sie glauben, dass sie die Armee durch ihre Gebete und ihre Hingabe an das Studium der Tora unterstützen. Der sephardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef hat sogar davor gewarnt, dass die Haredim aus Israel auswandern würden, wenn sie gezwungen würden, dem Militär beizutreten – eine Aussage, die von säkularen israelischen Juden heftig kritisiert wurde.

Israel hat keinen klaren Plan

Israel wird seinen Krieg gegen die Hamas so lange fortsetzen, bis es die Gruppe als militärische Organisation beseitigt hat. Aber es wird keinen Frieden haben, selbst wenn alle arabischen Länder diplomatische Beziehungen mit Israel aufnehmen. Frieden mit den arabischen Machthabern ist eine Sache, Frieden mit dem arabischen Volk eine andere. Israel ist es gelungen, die arabischen Armeen zu besiegen, die den arabisch-israelischen Konflikt aufgegeben haben, und die Palästinensische Befreiungsorganisation davon zu überzeugen, ihren bewaffneten Kampf beizulegen. Die Beendigung des Konflikts durch die Araber führte jedoch zum Aufkommen des politischen Islams, der Israel mit einer noch nie dagewesenen Heftigkeit bekämpft.

Israel hat keinen klaren Plan für die Zeit nach dem Krieg und weiß nicht, welche Auswirkungen seine Operation im Gazastreifen haben wird. Es scheint jedoch unvermeidlich, dass ein neues palästinensisches (wenn auch nicht unbedingt islamisches) Phänomen entstehen wird, das extremer ist als die Hamas und der Palästinensische Islamische Dschihad. Die palästinensischen Organisationen, die zwischen den 1950er und den 1970er Jahren gegen Israel arbeiteten, waren säkular. 

Dazu gehört die radikale Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), die von George Habash, einem palästinensischen Christen, kurz nach dem Krieg von 1967 gegründet wurde. Die PFLP entführte 1968 ein israelisches Passagierflugzeug nach Algerien und verübte in den 1970er Jahren eine Reihe von gewalttätigen Anschlägen innerhalb Israels. Obwohl Israel einem entscheidenden Sieg über die Hamas und dem Abschluss eines langen Kapitels im israelisch-palästinensischen Konflikt näher gekommen ist, steht es wahrscheinlich kurz davor, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
 

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Reinhold Schramm | Do., 14. März 2024 - 11:49

Die Palästinenser haben keinerlei Aussicht auf einen eigenen Staat und die „Zweistaatenlösung“ bleibt eine westliche Fata Morgana.

Eine Ansiedlung und Zwangsumsiedlung auf den ägyptischen Sinai scheidet demnach auch aus, da es mit einer gemeinsamen Grenze mit Israel keine friedliche Grenze und wirtschaftliche Beziehung geben könnte; zumal auch Ägypten hierzu nicht bereit wäre, das Territorium abzutreten (61 000 km²).

Es bleibt allenfalls für fünf Millionen Palästinenser ein Neuanfang auf dem Territorium der Golfmonarchien. Die Monarchisten und ihre Prinzen müssten hierfür die vorhandenen mehrere Millionen asiatischen Arbeitskräfte finanziell und sozial abgesichert ausweisen. Das würde allerdings auch an der Tatsache scheitern, dass die große Mehrheit der Palästinenser seit Jahrzehnten keine geregelte Erwerbsarbeit hatte und bis zu 70 Prozent vom Ausland alimentiert wurden.

►Fazit: Es bleibt allenfalls die Migration der Palästinenser nach Westeuropa (EU-Deutschland) und Nordamerika.

Freue mich schon drauf, wenn die arabischen Palästinenser aus Gaza, größtenteils Anhänger der mörderischen Hamas hier nach Westeuropa (EU-Deutschland) kommen. Aber es ist eh unwichtig. Die Unterwerfung ist abgeschlossen, siehe Frankfurt, Köln usw.

Tomas Poth | Do., 14. März 2024 - 12:24

Der Plan, so erscheint es mir, ist es bis zum allerletzten Gefecht durchzuhalten, dieses so weit wie möglich hinaus zu ziehen und dann unterzugehen?

Jens Böhme | Do., 14. März 2024 - 13:40

Hisbollah und Hamas sind verfeindete Organisationen. Ein Staat Palästina wäre Pulverfass für die zusätzlich verfeindeten arabischen Staaten mit verfeindeten religiös-muslimischen Hintergründen. Deshalb favorisiert kein arabischer Staat in Westasien einen palästinensischen Staat. Der derzeitige Status Quo unter den arabischen Staaten wird nicht wegen zwei zusätzlichen Organisationen aufs Spiel gesetzt. Die arabischen Claims sind verteilt und werden auch gegen Palästinenser verteidigt. Das ist ähnlich, wie mit den Kurden.