Serkan Osokin im Interview - „Die Wirtschaft erstickt in der überbordenden Bürokratie“

Der Mitbegründer des Bundeswirtschaftsrats Serkan Osokin fordert eine Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik, damit sich Deutschland aus der Krise befreien kann. Im Interview spricht er über Subventionsfallen und die Notwendigkeit eines neuen Steuersystems.

Die jahrzehntelange Reformmüdigkeit bekommt die deutsche Wirtschaft zurzeit bitter zu spüren / picture alliance
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Als Mitbegründer des im Lobbyregister des Deutschen Bundestags eingetragenen Bundeswirtschaftsrats hat sich der Börsenfachwirt und Investmentbanker Serkan Osokin gemeinsam mit einem Stab aus Experten zur Aufgabe gemacht, die Bundes- und Landesregierungen bei wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, sie zu begleiten, zu beraten und mit neuen Lösungen und Konzepten zu unterstützen.

Herr Osokin, woher kam die Motivation, den Bundeswirtschaftsrat zu gründen?

Der Bundeswirtschaftsrat ist aus der dringenden Notwendigkeit einer überparteilichen, regierungsunabhängigen Beratungs- und Kontrollinstanz konstituiert worden. Da wir zudem unabhängig von Branchen oder Konzernen sind, lässt sich durchaus sagen, dass wir hauptsächlich den Interessen der Bürger und denen der KMUs, also kleineren und mittleren Unternehmen, dienen. Unser Ziel ist eine funktionierende soziale Marktwirtschaft und der damit zusammenhängende Wohlstand für möglichst viele.

Wie arbeiten Sie?

Wir weisen Ministerien und die Regierung auf wirtschafts- und finanzpolitische Fehlentwicklungen und Missstände hin. Wir bieten Ideen und Lösungen an, die zu einer funktionalen Wirtschaft und stabilen Finanzen für den Staat und für möglichst viele Bürger führen. Daneben wurde kürzlich eine sehr aktive Jugendabteilung des Bundeswirtschaftsrats gegründet. Sie besteht hauptsächlich aus Studierenden fachbezogener Fächer. Es geht ja zuletzt um die Zukunft der Jugendlichen, und sie bringen oft eine frische und unkonventionelle Sichtweise auf die drängenden Themen mit.

Der Bundeswirtschaftsrat ist im Lobbyregister des Bundestags eingetragen. Für viele klingt Lobbyismus eher nach Manipulation, Schattenregierungen und Eliten …

Serkan Osokin / Nico Jünger

Das stimmt. Um den Begriff ranken sich Mythen. Dabei ist die passendste Beschreibung für Lobbyismus „Interessenvertretung“. In einer funktionierenden Demokratie ist die Interessenvertretung aller Branchen und Akteure und der Informationsaustausch mit ihnen dringend erforderlich. Denn nur, wer weiß, wo der Schuh drückt, ist auch in der Lage, dieses Wissen in die politischen Entscheidungen einfließen zu lassen. 

Dass der Begriff allerdings derart negativ besetzt ist, liegt daran, dass im Wirtschaftslobbyismus in den letzten Jahren eine deutliche Disbalance zwischen den Interessen der Konzerne, der Großverbände und der der Großeigentümer, die allesamt viele Millionen in den Lobbyismus investieren, und auf der anderen Seite den Interessen der vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) und der Bevölkerung entstanden. Viele Menschen und KMUs haben den Eindruck, dass zahlreiche finanzpolitische Entscheidungen nicht ihren Interessen dienen. Und viel Gravierender ist es, dass sie der sozialen Marktwirtschaft erheblich schaden.

Kurz gesagt, braucht jeder funktionierende Staat Lobbyismus, aber mit einem Gleichgewicht der Kompetenz und entsprechend fähigen Akteure auf beiden Seiten.

Was sind Ihrer Meinung nach die Folgen dieser Disbalance, von der Sie sprechen? Aktuell gewinnen Populisten in Europa massenhaft Wähler und bedienen dabei das Narrativ der „volksfremden Eliten“. 

Die Interessen Einzelner stehen oft konträr zu den Bedürfnissen weiter Teile der Bevölkerung, daraus entstand in der Vergangenheit eine ungleiche Chancen- und Vermögensverteilung, die eben neben einer hohen sozialen Unzufriedenheit auch finanzielle Frustration nach sich zieht. Das Vertrauen in das Narrativ einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft, und dass es den Kindern einmal besser geht als unserer Generation, geht verloren. Ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger ein sehr feines Gespür für dieses Ungleichgewicht haben, sie es aber nicht genau greifen und benennen können.

Populisten nehmen diese für den Wähler undefinierbare Unzufriedenheit auf und lenken sie auf Themen, die kein einziges unserer Probleme lösen. Ganz vorne steht der Hass gegen Fremdes und Fremde, das Schüren von Zukunftsangst, die Verunsicherung in allen Bereichen und die Ablehnung von Veränderung. 

Dieser Vertrauensverlust vor allem auch in die Politik, deren Institutionen und deren seit längerem nicht ausreichender Kompetenz, den Großlobbyisten und anstehenden Aufgaben gewachsen zu sein, führt wiederum zu der oben genannten demokratiegefährdenden Entwicklung, was es mit aller Macht zu verhindern gilt – auch in Europa und der Welt. Dabei gibt es Ideen, Lösungen und Konzepte, die die wahren Probleme lösen und zu einer hohen Zufriedenheit bei der Mehrheit führen würde.

Und Sie als Bundeswirtschaftsrat haben diese passenden Konzepte?

Ja, die haben wir. Zuerst gilt es, der oben beschriebenen Disbalance der Interessen und der Macht mit unserer Arbeit und der Umsetzung unserer wirtschaftspolitischen Konzepte entgegenzuwirken. So stellen wir die Chancengleichheit wieder her, führen Deutschland wieder an die Weltspitze technologischer und wirtschaftlicher Entwicklung, erhöhen die Zufriedenheit, stellen das verlorengegangene Vertrauen in der Bevölkerung wieder her und machen damit Deutschland wieder zu einem Leuchtturm der Demokratie. Somit entsteht nicht zuletzt „Wohlstand für alle, die dafür arbeiten“, der auch diejenigen versorgen kann, die aufgrund von Einschränkungen kein oder nur sehr wenig Geld verdienen können.

Das sind jetzt allerdings sehr allgemeine Ziele …

Selbstverständlich weiß ich, dass das sehr allgemein verfasste Ziele sind, die sicherlich die meisten Parteien in ihren Wahlprogrammen stehen haben. Der signifikante Unterschied zu diesen liegt allerdings darin, dass wir funktionierende Lösungen und Konzepte bieten. Es fehlen nur noch mehr Mut und Durchsetzungskraft in der Politik. Hier setzen wir an und gehen davon aus, dass neben unserer Kompetenz unsere Beharrlichkeit und Ausdauer entsprechende Entscheidungen befördern werden.

Welche praktischen finanzpolitischen Ratschläge sprechen Sie aktuell aus?

Zunächst brauchen wir ernsthafte Reformen im Finanzsystem und der vorhandenen Überregulierung, die das Wort Reformen auch tatsächlich verdienen. 

Leider ersticken die Wirtschaft und die Bevölkerung an der seit über 25 Jahren vorherrschenden Wirtschaftspolitik und der überbordenden und sehr veralteten Bürokratie. Eigentlich fing das Dilemma schon mit der Schröder-Regierung und Herrn Eichel als Finanzminister und davor in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Kohl an. Seitdem begleiten uns Politiker und deren Stäbe, denen Kompetenz und Erfahrung oder der Wille fehlen, die richtigen Entscheidungen zu fällen.

 

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Konkret gesagt brauchen wir zuallererst eine grundgesetzkonforme Steuerung der Geldflüsse und Vermögen. In Artikel 14 Satz 2 des Grundgesetzes steht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Es gibt bisher kein mir bekanntes Gesetz, das diesem Artikel in irgendeiner Weise Rechenschaft trägt. 

In Deutschland gab es noch nie so viel Geld wie jetzt. Und auf der anderen Seite gab es noch nie so viele private und öffentliche Schulden und so wenig verfügbares unternehmerisches Wachstumskapital in Bereichen, in denen echter neuer Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen werden. 

Wir müssen den Staat finanziell entlasten, um Spielräume für Investitionen in die Zukunft wie zum Beispiel Schulen, Universitäten, Forschung und die Infrastruktur zu schaffen und privates, ungenutztes Geld wieder in den wirtschaftlich operativen Kreislauf zu bringen. Geld muss zirkulieren. Das gilt für die anbietende wie für die nachfragende Seite. Vielleicht ist es dem einen oder anderen ja entgangen, dass jeder Mehrwert, jede Rendite und jeder Zins am Ende durch unternehmerische, risikobehaftete Leistung entsteht – für alles und für jeden. 

Sie sprechen sich auch gegen die aktuelle Subventionspolitik aus …

Unbedingt. Der Staat muss aus dieser Subventionsfalle befreit werden. Ich meine damit diejenigen Subventionen, die vor allem als Quasi-Bonus an Großkonzerne geleistet werden, und nicht die, die für Unternehmungen gelten, die ohne diese Subvention nicht auskommen würden. Konzerne nutzen staatliches Vermögen, also unsere Steuergelder, um eigenes unternehmerisches Risiko auf die Gesellschaft zu verlagern. Das geschieht nicht selten durch sehr fragwürdige Argumentationsketten und Methoden, um es freundlich auszudrücken. Konzerne und deren Großeigentümer müssen ihr eigenes Risiko selbst tragen. Das wurde im Übrigen auch bei der Bankenkrise 2008 zum sehr großen Teil vernachlässigt.

Welche weiteren Punkte setzen Sie auf die To-do-Liste unserer Regierung?

Unser Steuersystem muss sehr stark vereinfacht und für die meisten verständlich werden. Alle Versuche, dies zu tun, sind bisher kläglich gescheitert. Auch hier braucht es mutige vorausschauende Politiker, die durchsetzungsstark sind. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Bürokratie und die Überregulierung. Ich weiß sehr wohl, dass es Herkulesaufgaben sind, auszudünnen, Regulierungen zu ändern und abzuschaffen. Aber wir haben keine Zeit mehr für Grabenkämpfe. Entweder man tut es oder man lässt es. Alles andere führt zu noch mehr Chaos.

Wenn man diese dringend notwendigen Reformen nicht angeht, wird es auf Dauer keine grundsätzliche positive Veränderung geben, und wir werden in immer mehr Ranglisten nach hinten durchgereicht. Gravierend ist hierbei, dass Deutschland laut WCC als Wirtschaftsstandort um 7 Plätze auf Platz 22 abgerutscht ist und damit jetzt hinter zum Beispiel China (21), Saudi-Arabien (17) und Belgien (13) liegt. Ganz vorne liegen Dänemark, Irland und die Schweiz. 2014 lag Deutschland noch auf Rang 6, wie man jüngst auch in der FAZ nachlesen konnte.

Aktuell beschäftigen Sie sich unter anderem mit dem INVEST-Förderprogramm. Es bietet Investoren, die „Wagniskapital“ in Start-ups stecken, zahlreiche steuerliche Vorteile, sogar Rückerstattungen. Wie bewerten Sie das Förderprogramm?

Richtigerweise geht das INVEST-Förderprogramm von der Tatsache aus, dass Geld wieder zurück in die Wirtschaft fließen muss, um unser Wirtschaftssystem und vor allem die Soziale Marktwirtschaft gerecht und funktionierend am Leben zu halten. Start-ups als junge und erfolgversprechende Unternehmen sind ein sehr gutes Instrument hierfür.

Während im letzten Jahr allein in den USA über 300 Milliarden in neue Unternehmen als Wagniskapital investiert wurden, waren es in Deutschland 9 Milliarden. Das ist auch mit der unterschiedlichen Bevölkerungsgröße selbstredend nicht zu erklären. Leider hat diese Förderung entscheidende Strickfehler. 

Welche?

Es werden zum Beispiel Steuergelder dafür verwendet, um Investoren, die sowieso bereit sind, Risiken beim Investieren in neue Unternehmen in Kauf zu nehmen, zu subventionieren. Dadurch werden sie kaum zusätzlich motiviert werden. Sie werden die Förderung dankend annehmen, um ihren eventuellen Gewinn zu maximieren. Investoren, die ohnehin weniger Risiken eingehen möchten, werden auch durch diese Förderung wenig animiert, das Wagnis eines Investments in Start-ups in Kauf zu nehmen. Viele Gespräche mit Kollegen aus dem Investmentbanking, Business Angels und sonstigen Start-up-Investoren haben mir das bestätigt. Mal ganz davon abgesehen, dass die Mehrheit der potentiellen Investoren, mit denen ich sprach, das Programm nicht kannten. Ein weiterer Strickfehler liegt in der Bestimmung der Investment-Ziele, die nicht nur von der Regierung auf Antrag bestimmt werden, sondern deren Eckdaten auch viel zu eng und starr gefasst sind.

Gehen Sie davon aus, dass das INVEST Förderprogramm nicht die erwünschten Ziele erreichen wird?

Ich weiß natürlich nicht, wie groß der Umfang des gewünschten Ziels der Bundesregierung ist. Von einem nennenswerten Umfang und einem nennenswerten Einfluss auf die Wirtschaft gehe ich nicht aus.

Hat der Bundeswirtschaftsrat der Regierung alternative Vorschläge zur Optimierung des Programms vorgeschlagen?

Wir haben keine Optimierung vorgeschlagen. Vielmehr hat der Bundeswirtschaftsrat in diesem Zusammenhang einen viel tiefgreifenderen Vorschlag, der in ausgearbeiteter Form demnächst der Bundesregierung vorgelegt wird. Ganz grob gesagt: Unser Gesetzesvorschlag baut unter anderem auf Artikel 14 Satz 2 des Grundgesetzes und verpflichtet Bürger mit einem gesamten Geldvermögen (Spar- und Sichteinlagen) über einer sehr hohen Summe jährlich einen niedrigen, einstelligen Prozentbetrag dieses Geldes in Start-ups und andere junge, kleine und mittlere Unternehmen zu investieren.

Niemand muss hierfür Immobilien, Fondsvermögen, Aktien, sonstige Unternehmensbeteiligungen oder ähnliches liquidieren. Natürlich sind jede Menge Details und Fragen im Entwurf geklärt. Wichtig ist uns, dass ungenutztes Geldvermögen zurück in die operative Wirtschaft geholt wird.

Sie möchten also vermögende Bürger motivieren, in Start-ups zu investieren. Was wären die Vorteile Ihres Optimierungsvorschlags? 

Das Reinvestitionsgesetz (RIG), wie wir unseren Gegenentwurf zu „INVEST – Zuschuss für Wagniskapital“ nennen möchten, wird den Staat verhältnismäßig wenig Geld kosten und eine Summe von geschätzt 90 Milliarden Euro für den Markt von neuen und innovativen Unternehmen generieren. 

Damit wird in Deutschland im Verhältnis zu den USA nicht nur mehr Geld zur Verfügung stehen, viele Investoren werden getreu dem Motto „Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin“ auch aus dem Ausland ihr Geld hier investieren. Neben deutschen Innovationsträgern, die derzeit aufgrund mangelnder Finanzierung und überbordender Regularien ins Ausland gehen und die dortige Wirtschaft anheizen, werden Gründer aus aller Welt ihre Ideen und Unternehmen in Deutschland entfalten wollen und die hiesige Wirtschaft fördern.

Wir werden damit nicht nur ein Magnet für Leistungsträger werden, es wird sich im ungeahnten Ausmaß positiv auf die Wirtschaftsleistung, den Arbeitsmarkt, die Innovationskraft und nicht zuletzt entscheidend auf die Staatsfinanzen auswirken. Selbstverständlich müssen begleitend zu unserem Entwurf die Bürokratie sowie die Steuergesetze entscheidend entflochten und vereinfacht werden.

Wir haben in Deutschland also bisher nicht das Problem, dass wir keine innovativen Start-ups oder Unternehmer mit hoher Einsatzbereitschaft haben. Die Start-up- und Innovationskultur müssen sich durch ausreichend privates Wagniskapital und nicht durch staatliche Subventionen einstellen. Wären Unternehmen wie Apple, Microsoft, Facebook, Twitter, Google oder Youtube in Deutschland gegründet worden, gäbe es heute wegen zu wenig Kapital kein einziges mehr. In den USA weiß man: „Wer ernten will, muss auch irgendwann säen.“

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen.

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