Wirtschaftshistoriker Harold James - „In der Krise nimmt die Globalisierung Fahrt auf“

Die Geschichte der Inflation ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Ein Gespräch mit dem britischen Wirtschaftshistoriker Harold James über Krisen als Globalisierungstreiber und die deutsche Angst vor der Geldentwertung.

Harold James zählt seit Jahren zu den weltweit renommiertesten Wirtschaftshistorikern / Max Kratzer
Anzeige

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

So erreichen Sie Ralf Hanselle:

Anzeige

Harold James ist Professor für Geschichte an der Princeton University. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte der Weltwirtschaftskrise in Deutschland. Zuletzt ist von ihm das Buch „Schockmomente“ im Freiburger Herder-Verlag erschienen.

Mr. James, wir erleben in Europa seit Monaten bereits die Rückkehr der Inflation. Schon am Ende der großen Corona-Lockdowns lag sie in Deutschland bei 5 Prozent, aktuell sind es 8,7 Prozent. Nun sagt man ja besonders uns Deutschen ein sehr spezielles Verhältnis zur Geldentwertung nach. Seit der Inflation von 1923 sieht man da eine Art Urangst am Werk. Muss man sich um die Deutschen derzeit Sorgen machen?

In der Tat, man hat in Deutschland ein besonderes Verhältnis zur Inflation. Und auf den ersten Blick ist das durchaus merkwürdig. Wer erinnert sich schon noch an das Jahr 1923? Man müsste mindestens 107 Jahre alt sein, um an die große Inflation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs noch Erinnerungen zu haben. Doch es gab hierzulande auch andere Entwertungen – etwa während des Zweiten Weltkriegs oder nach der Währungsreform von 1948. Natürlich, das war nicht so dramatisch wie 1923, aber es wurden eben Geldwerte vernichtet. 

Aber ein rapider Anstieg der Preise ist ja noch nichts speziell Deutsches.

Nein, aber das Beispiel der deutschen Inflation während der Weltwirtschaftskrise war besonders. Sie diente sogar anderen Ländern als warnendes Exempel. Der britische Labour-Premier Ramsay MacDonald etwa hat im Wahlkampf 1931 deutsche Inflationsnoten in die Luft gehalten. Wenn er nicht wiedergewählt werde, so seine Behauptung, dann würde auch in Großbritannien das Schreckgespenst der Inflation drohen.

Auch Adolf Hitler hat kurz darauf die Inflationsangst beschworen.

Ja, die Wahrheit aber ist, dass es letztlich die Deflation war, die die Nazis an die Macht gebracht hat.

Also gibt es im kollektiven Unterbewusstsein eine Art Fehlinformation?

Nicht unbedingt. Was man ja durchaus sagen muss, ist, dass die Nachwirkungen der Hyperinflation während der Weltwirtschaftskrise die Resilienz der deutschen Wirtschaft stark und nachhaltig geschwächt haben. 

Der Topos von der Inflation zieht sich seither jedenfalls durch die Kulturgeschichte. Am eindrucksvollsten findet er sich vielleicht bei Elias Canetti, der in „Masse und Macht“ eine Art Auflösungsangst der Deutschen beschrieben hat, die sich ins Destruktive kehren könne. Andererseits: Wenn man sich aktuell die Entwicklungen anschaut, muss man dieses Narrativ schon stark in Zweifel ziehen, oder? Wir hatten 2022 eine Jahresinflation von 7,9 Prozent, und dennoch ist der heiße Herbst ausgeblieben. Ist die „Urangst“ also nur ein Mythos? 

Im Moment erleben wir ja keine radikale Inflation. In Europa haben wir Inflationsraten zwischen 6 Prozent in Spanien und 20 Prozent in den baltischen Staaten. Man kann sogar sagen, dass diese Entwicklung in gewisser Weise gut ist. Wenn die Inflation in den nördlichen Ländern höher ist als in den südlichen, dann könnte das der Ausweg aus der aufgelaufenen Schuldenkrise sein. 

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Aber was müsste passieren, damit Inflationskrisen eine wirklich destruktive Wendung nehmen?

Aus historischer Perspektive ist das schwer zu sagen. Erwarten Sie da bitte keine konkreten Zahlen. Das ist wie mit der Debatte um die Schuldenhöhe. Was man vielleicht sagen kann, ist, dass es selbstzerstörerisch wird, sobald die Inflation bei 50 oder gar 100 Prozent per anno liegt. Das ist für Europa aber eigentlich ausgeschlossen. Mitte der 1970er-Jahre lag die Inflation in Großbritannien mal bei 25 Prozent. Das war gewaltig. Da veränderte sich auch das Konsumverhalten. Margaret Thatcher hat damals gesagt, sie fange als Hausfrau an, die Speisekammer mit Konservendosen anzufüllen. Wenn man weiß, dass Nahrungsmittel im nächsten Monat teurer sind als im laufenden, dann setzt ein irrationales Verhalten ein. Das kann am Ende zu Verknappungen führen. Man hat das auch am Beginn der Corona-Krise gesehen.

Da sind aber nicht alle Preise unmittelbar in die Höhe geschossen.

Das stimmt. Dieser Aspekt wird meiner Meinung nach auch zu wenig berücksichtigt. Die Pandemie hat eine starke Bewegung in den relativen Preisen gebracht. Aber es sind eben nicht alle Preise gestiegen. Es gab Segmente, in denen die Preise sogar gefallen sind, einfach weil es keine Märkte für diese Produkte gab. 

Aktuell scheint das schon etwas bedrohlicher zu sein. Denn mit dem russischen Überfall auf die Ukraine betrifft die Verknappung vor allem den wichtigen Energiesektor. Und das wiederum schlägt sich auf zahlreiche andere Segmente nieder. 

Vielleicht müssen wir uns aber an den Gedanken gewöhnen, dass es zuweilen sogar nützlich sein kann, wenn in diesem Bereich die Preise längerfristig steigen. Das drosselt einerseits den Konsum, fördert andererseits aber auch den Übergang in Richtung erneuerbare Energien. Die Energiewende erfordert gewaltige und dringend notwendige Investitionen. Am Beispiel der Ölkrise der 1970er-Jahre …

… die ja ebenfalls eine Verknappungskrise war …

Ja, eine, aus der man für die Gegenwart etwas lernen kann. Damals nämlich haben die Amerikaner den Fehler gemacht, dass sie die Energiepreise zu lange gedeckelt haben. Dadurch haben sie auf lange Sicht wichtige Entwicklungen verschlafen. Etwa in der Automobilbranche, wo die Europäer damals erstmals verstärkt auf kleinere Fahrzeuge setzten.

Die 1970er-Jahre sind eigentlich ein gutes Stichwort. Würden Sie sagen, die aktuelle Krise ist eher mit dem Ölschock als mit der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1920er zu vergleichen?

Ja, da gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten – in den Ursachen wie aber auch in den Folgen. Damals wie heute gab es einen ausgeprägten Demokratiepessimismus. In vielen westlichen Ländern glaubte man, dass die Demokratie in die Defensive geraten sei. Das große Schlagwort hieß „Ungovernability“. Dabei ging es um die Frage, ob moderne Staaten möglicherweise unregierbar geworden sind. Diese Ängste betrafen in den 1970ern besonders Länder wie Italien oder Großbritannien. Aber auch in Deutschland gab es mit dem Links­terrorismus vereinzelt die Sorge, dass die öffentliche Ordnung zusammenbrechen könnte. Und auch damals stand das Schreckgespenst von Weimar im Raum.

Nun ist die Geschichte ja im besten Fall Lehrmaterial für die Gegenwart. Was also kann man aus der Ölschock-Krise für die aktuelle Situation lernen? Was hat beispielsweise Helmut Schmidt für Deutschland damals besser gemacht als Aldo Moro für Italien?

Schmidt hat es erfolgreich verstanden, einen Eindruck von Kompetenz zu vermitteln. Gerade in Krisen ist das extrem wichtig. Die Menschen hatten damals das Gefühl, dass sie diesem Kanzler vertrauen konnten. In Italien war das ganz anders. Und die Ermordung Aldo Moros hat das Vertrauen später auch nicht gerade weiter befördert. Interessant ist übrigens, dass es in Italien schon früh das Bestreben gegeben hat, die Lösung für die Unsicherheit im außerpolitischen Bereich zu suchen: Mit Ciampi etwa hat man jemandem von der Zentralbank die Staatsverantwortung übertragen. Ähnlich wie dann später bei Draghi. So was hätte es in Deutschland nie gegeben. Man verzweifelt hier nicht so sehr an der Politik, dass man auf die Idee käme, Helmut Schlesinger zum Kanzler zu machen. 

Und dennoch sagt man ja auch uns Deutschen gelegentlich ein sehr wirtschaftlich geprägtes Demokratieverständnis nach. 

Da ist auch etwas dran. Schon im 19. Jahrhundert war das Staatsverständnis der Deutschen anders als das ihrer Nachbarn. August Ludwig von Rochau hat damals gesagt, dass die nationale Einheit nicht mehr und nicht weniger als eine Geschäftssache sei. Ja, die Fokussierung der Deutschen auf die Wirtschaft, das ist etwas sehr Typisches. 

Und dennoch, so behaupten Sie zumindest, haben auch uns die Wirtschaftskrisen der letzten 150 Jahre am Ende mehr und mehr globalisiert. Das ist ja interessant: Normalerweise würde man denken – und aktuell hört man das ja auch immer wieder –, dass Rezessionen zu einer Rückabwicklung der Globalisierung führen würden. Sie aber behaupten das genaue Gegenteil: Krisen treiben die Globalisierung voran. Wie ist das möglich?

Krisen werden in verschiedenen Phasen durchlebt. Natürlich, am Anfang versucht man sich zumeist abzuschotten. Denken Sie an Corona: Wer Impfstoffe hatte, der wollte sie 2021 nicht hergeben. Dann aber, in einem zweiten Schritt, wird man realistischer. Man merkt, dass das nicht praktikabel ist. Bei der Produktion von Medikamenten ist man sehr abhängig von Dritten. 90 Prozent der Grundstoffe für Antibiotika etwa kommen aktuell aus China. Und selbst die Inhaltsstoffe für indische Generika werden aus China geliefert. Ergo: Irgendwann kommt man wieder zu der Einsicht, dass Verbundenheit die beste Lösung ist, um einen Ausweg aus einer weltweiten Verknappungskrise zu schaffen. Und das, was ich gerade exemplarisch für die Corona­Krise geschildert habe, das galt in gewisser Weise auch für die Krise der 1970er: In Großbritannien etwa hat die damalige Labour-Regierung lange darüber diskutiert, ob man sich nicht besser abschotten müsse. Am Ende aber ist James Callaghan den gegenteiligen Weg gegangen: Er hat ein Abkommen mit dem IWF geschlossen und die Kapitalmärkte geöffnet. 

Nun scheint die Globalisierung aktuell aber auch noch an etwas anderem zu kränkeln. Neben dem Nachfrageschock scheint es eine Art ideologische Krise zu geben. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, als wäre sich der Westen seiner Sache nicht mehr ganz sicher. Und daraus dann scheint sich ein Bedürfnis zu speisen, sich aus der Welt ein Stück zurückziehen und sich von einem Konkurrenten wie China mehr abgrenzen zu wollen. Ist nicht auch das ein Treiber der aktuellen Deglobalisierungsdebatten? 

Das sehe ich etwas anders. Auch die 1970er waren ja extrem politisch – nicht nur im Inneren, auch nach außen. Wenn wir aber aktuell über unser Verhältnis zu China diskutieren, dann geht es eher um machtpolitische, weniger um ideologische Fragen. Das scheint mir eher wie im 19. Jahrhundert zu sein. Es geht also nicht darum, ob China eine kommunistische Regierung hat, sondern es geht ganz handfest darum, ob das Land andere Staaten in seinen Einflussbereich ziehen will. Natürlich, auch die UdSSR hat sich einst für Länder in Afrika oder Lateinamerika interessiert. Damals aber ging es immer auch um den Systemwettbewerb. Heute sind es eher pragmatische Verschiedenheiten. 

Dennoch: Politische Denker wie Francis Fukuyama sehen längst eine Krise des Liberalismus. Geht es am Ende nicht also doch um Ideologie?

Meiner Meinung nach sind das Modeerscheinungen. Es hat in den 1970er-Jahren Stimmen gegeben, die geglaubt haben, dass Autokratien die Wirtschaft besser leiten könnten als Demokratien – denken Sie etwa an Chile unter Pinochet. Und es hat diese Stimmen auch, bedingt durch den Aufstieg Chinas, in den 2010er- und 2020er-Jahren gegeben. Aktuell habe ich das Gefühl, dass wir wieder mehr zu einer westlichen Perspektive zurückkehren. Wir erkennen, dass Autokratien Schwächen haben.

An welche Schwächen denken Sie da konkret?

Die aktuellen Herausforderungen sind nur mithilfe von Informationen zu meistern. In einer Pandemie muss man etwa wissen, wo Krankheiten auftauchen. Und im Krieg muss man wissen, wie es um das eigene Militär steht. China und Russland haben da nicht gerade die besten Voraussetzungen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten 2022 im Kreml gesessen und Putin sagen müssen, dass sie nicht an den Erfolg der russischen Invasion glauben – etwa weil die Reifen im Winter nicht widerstandsfähig oder die Maschinen überaltert sind. Kann man das einem wie Putin sagen? Wohl eher nicht.

Nun reden wir bei der Ölkrise und der Ukrainekrise von Verknappungskrisen, die auch einer politischen Intention folgen. Es handelt sich um eine Art Wirtschaftskrieg. Es gibt aber andere Verknappungskrisen, die sind eher vom Zufall getrieben: die irische Kartoffelfäule von 1845 etwa oder eben Corona. Inwieweit ist das, was wir Globalisierung nennen, am Ende eigentlich eher vom Schicksal getrieben?

Das ist ambivalent. Oft kommen Globalisierungsimpulse durch Erfindungen, die es eigentlich schon gibt, deren Wert aber erst in der Krise erkannt wird. Denken Sie etwa an die Dampfmaschine. Die war bereits in der Welt, als es Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich nötig wurde, Getreide aus dem Inneren der USA oder Russlands mit dampfgetriebenen Lokomotiven an die Häfen zu bringen. Ähnlich war es später mit den Containerschiffen. Auch die hat es in geringem Umfang bereits gegeben. Aber in einem Moment, in dem Waren verknappt wurden, musste man anfangen, darüber nachzudenken, wie man auf billigere Weise Handel treiben könne. Ein letztes Beispiel: die Videokonferenzen während der Pandemie. Erst die Krise hat dieser Technik zum Durchbruch verholfen und somit einen weiteren Globalisierungsschub gebracht. 

Wenn in der Globalisierung wirklich derart viel Unvorhersehbares steckt, inwieweit lässt sich die ökonomische Zukunft dann vorausplanen? Ist man in der Bewältigung von Wirtschaftskrisen nicht am Ende immer auch auf den Kairos angewiesen?

Man kann die Zukunft natürlich nicht planen, aber man kann sie ein Stück vorherskizzieren. Es gilt zum Beispiel als relativ sicher, dass wir in der Zukunft nicht mehr in großen Metropolen arbeiten müssen, um am ökonomischen Prozess teilzunehmen. Zu diesen vorhersehbaren Dingen gesellt sich dann das Unvorhersehbare – ein Krieg, ein Unglück, eine Katastrophe. Als etwa Russland am 24. Februar die Ukraine überfiel, schlug mit einem Mal die Stunde all der unabhängigen Programmierer, die sich durch die oben skizzierte Entwicklung bereits vor Jahren vom Silicon Valley in die globalen Randgebiete wie etwa Mazedonien, Serbien oder eben die Ukraine zurückgezogen haben. Mit einem Mal konnten diese IT-Spezialisten dabei helfen, Plattformen zu programmieren, mit deren Hilfe man russische Truppenbewegungen melden konnte. Für die erste Phase des Ukrainekriegs war diese strukturelle Veränderung sehr entscheidend. 

Kehren wir am Ende unseres Gesprächs noch einmal zur Aufgabe des Staates in der Krise zurück. Unternimmt die deutsche Bundesregierung Ihrer Meinung nach aktuell genug, um aus der Situation herauszukommen?

Als Regierung sollte man sich in einer solchen Situation auf das fokussieren, was der Staat – und zwar nur der Staat – erledigen kann. In Bezug auf die Ukraine heißt das die Sicherstellung von Verteidigung und die Garantie von Sicherheit. Wenn man da Kompetenz beweist und nicht zaudert, dann ist das die Basis guter Regierungsarbeit. Man sollte sich also nicht im Klein-Klein verlieren, sondern sich den wirklich entscheidenden Themen stellen. 

Das Gespräch führte Ralf Hanselle.

 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie demnächst am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige