Unternehmensberater Franz Herrlein - „Altersdiskriminierung ist die größte Ungerechtigkeit in der Wirtschaft“

Der Fachkräftemangel bereitet der deutschen Wirtschaft massive Sorgen. Um wettbewerbsfähig bleiben zu können, müssen Unternehmen daher umdenken und ältere Mitarbeiter endlich als unverzichtbare Potenziale sehen. Der Unternehmensberater Franz Herrlein spricht im Cicero-Interview über Age-Management, die Diskriminierung älterer Arbeitnehmer und die großen Versäumnisse der Politik.

Ein älterer Herr arbeitet an einem Schreibtisch / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

So erreichen Sie Clemens Traub:

Anzeige

Franz Herrlein verfügt über mehr als 30 Jahre internationale Berufserfahrung, die meiste Zeit davon in Top-Management-Positionen. 2016 hat er mit der Gründung von Alpine One die Idee einer auf den Human Factor ausgerichteten Unternehmensberatung realisiert.

Herr Herrlein, der Fachkräftemangel ist seit Jahren eine der größten Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft. Im Jahr 2030 werden ihr voraussichtlich drei Millionen Erwerbstätige fehlen. Sind die Unternehmen darauf vorbereitet?

Nein, leider nicht, beziehungsweise nur begrenzt. Das Erstaunliche ist aber auch, dass die politische Seite den demographischen Wandel komplett vernachlässigt hat. Ehrlich gesagt hat mich die Politik diesbezüglich in den letzten zwei Jahrzehnten desillusioniert.

Welche Versäumnisse lasten Sie der Politik an?

Ich könnte eine ganze Liste an Versäumnissen aufzählen: Weshalb diskutieren wir in Deutschland nicht endlich offensiver über die Notwendigkeit einer qualifizierten Zuwanderung? Wann werden endlich flexiblere Arbeitsmodelle eingeführt, die im Kampf gegen den Fachkräftemangel hilfreich sein könnten? Meistens bin ich einfach schon froh, wenn sich die Politik aus den Angelegenheiten der Unternehmen raushält. Mein Vertrauen in die Schaffenskraft der Unternehmen ist ohnehin deutlich ausgeprägter.

Und wie können sich Unternehmen vor den Folgen des Fachkräftemangels schützen?

In den letzten Jahren haben sich Unternehmen fast ausnahmslos auf die Rekrutierung junger Talente konzentriert. Arbeitnehmer jenseits der 50 wurden leider oftmals als Belastung gesehen. Doch dieses Modell stößt mit dem derzeitigen Renteneintritt vieler Babyboomer und dem Rückgang der Anzahl an Arbeitnehmern in Folge der Corona-Krise spürbar an seine Grenzen. Wir sollten daher künftig überlegen, wie wir für langjährige, berufs- und lebenserfahrene Mitarbeiter Arbeitsumfelder schaffen können, die exakt auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind. Ihr Talent, Fachwissen und Sozialkapital sind für die deutsche Wirtschaft zu wertvoll, als dass sie einfach ignoriert und aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden sollten.

Fördern Unternehmen denn bereits gezielt ältere Mitarbeiter?

Franz Herrlein / Melissa Bungartz

Die Entwicklung kommt allmählich ins Rollen. Vor zwei Jahren haben uns die meisten Unternehmen mit unserem Konzept des Age-Managements nicht wirklich ernst genommen, da sie das Thema einfach nicht auf dem Radar hatten. Mittlerweile ist das nicht mehr der Fall, das Interesse an entsprechenden Strategien ist sehr deutlich gestiegen. Wir unterstützen und beraten inzwischen viele Unternehmen auf ihrem Weg, langjährige, erfahrene Menschen im Berufsleben zu halten. Denn die Unternehmen erkennen selbst, dass Mitarbeiter jenseits der 50 keine Last, sondern eine große Chance sind, um weiterhin erfolgreich und konkurrenzfähig zu bleiben.

Wie würden Sie Age-Management Menschen erklären, die zuvor noch nie davon gehört haben?

Das Age-Management bietet unterschiedliche Möglichkeiten, mit denen die Potenziale langjähriger, älterer Menschen einem Unternehmen erhalten bleiben können. Unternehmen können beispielsweise durch gezielte Mitarbeiterbefragungen herausfinden, welche Bedürfnisse und Wünsche es beruflich für die Zeit ab 50 gibt. Möchten sie in den Ruhestand gehen oder lieber im Unternehmen einen neuen Aufgabenbereich ausprobieren? Auch Dialogformate oder Trainee-Programme für Mitarbeiter jenseits der 50 sind geeignete Angebote, um ihnen Wertschätzung und Freude an der Arbeit zu vermitteln. Wichtig dabei ist es, maßgeschneiderte und individuelle Lösungsansätze für unterschiedliche Anforderungen zu finden.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel aus Ihrer Tätigkeit als HR-Unternehmensberater nennen?

Wir haben für eine große Versicherung einen sogenannten Life Cycle Dialog eingerichtet. Das ist ein Gesprächsformat, bei dem sich langjährige, erfahrene Mitarbeiter, im konkreten Fall ab 55, mit ihren Vorgesetzten offen über ihre berufliche Zukunft austauschen können. Das Gespräch wird aus einer positiven Sichtweise heraus geführt und die Potenziale werden dabei in den Vordergrund gestellt. Ein offener Dialog auf Augenhöhe ist das genaue Gegenteil der vielfachen Ausgrenzung, die ältere Menschen häufig im Beruf erleben. Schon der Dialog drückt Wertschätzung aus und zeigt der Belegschaft: Da kümmert sich der Arbeitgeber um uns und interessiert sich für unsere berufliche Entwicklung auch im höheren Alter.

Warum gibt es den Trend nach permanenter Verjüngung der Mitarbeiter?

Wir hatten über Jahrzehnte hinweg genug junge Menschen, die Unternehmen beschäftigten konnten. Denn solange die Babyboomer als geburtenstarke Jahrgänge voll im Saft waren, gab es für die Unternehmen keine Notwendigkeit umdenken zu müssen. Wenn Unternehmen dann aber Kosten reduzieren müssen, sind ältere Angestellte mit vergleichsweise hohem Gehalt die größere finanzielle Belastung. Die Personalabteilungen interessiert es dann nur wenig, dass sie viel Wissen und Erfahrung mitbringen.

Also war es vor allem eine Kostenfrage, weshalb junge Menschen lange Zeit bevorzugt wurden?

Ja, das ist sicherlich so. Insbesondere wenn es galt, Kosten zu reduzieren. Wer länger im Unternehmen ist, verdient in der Regel auch mehr. Unternehmen investierten bisher so gut wie gar nicht in Mitarbeiter ab 50. Viele Unternehmen betrachten derartige Investitionen als wenig profitabel. Die meisten Karrieren sind daher mit Ende 40 bereits abgeschlossen. Wir haben in den letzten Jahren mit Blick auf ungerechte Strukturen meistens über Gender und Diversity gesprochen. Dabei ist Altersdiskriminierung die größte Ungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt weltweit. Dies wissen jedoch nur wenige. Ein Beispiel wäre hierzu, dass älteren Menschen tendenziell ein Mangel an Kreativität, Innovationskraft und IT-Verständnis unterstellt wird. Dem ist in der Realität definitiv nicht so.

Haben Menschen ab Mitte 50 nach einem langen und anstrengenden Berufsleben überhaupt noch die Motivation und auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen?

Häufig heißt es, die Älteren warten ohnehin nur auf ihren wohlverdienten Ruhestand. Doch diese verbreitete Unterstellung ist meiner Erfahrung nach absoluter Blödsinn. Schauen Sie, in Japan gibt es sogar Unternehmensinitiativen, die es ermöglichen, dass ehemalige Mitarbeiter nach Renteneintritt wieder in das Berufsleben zurückkehren können. Und dieses Angebot wird angenommen. Auch bei uns in Deutschland suchen nach rund zwei Jahren 50 Prozent der Rentner wieder eine Nebenbeschäftigung. Das zeigt eindeutig, dass ältere Menschen noch große Lust auf Arbeit haben.

Worin unterscheidet sich die ältere Generation in ihren Prioritäten von der jungen Generation der Arbeitnehmer?

Unsere Sozialisation und unsere Lebensumstände prägen die späteren Prioritäten, die wir im Arbeitsleben an den Tag legen werden. Darin unterscheidet sich meine Generation erheblich von der Generation meiner beiden Kinder. Ihre Generation ist überwiegend in einer Gesellschaft des Wohlstands und der Chancen hineingeboren. Arbeit hat in ihrer Generation deswegen einen anderen Stellenwert: Für sie spielt die oft genannte Work-Life-Balance und der Sinngehalt ihrer Arbeit eine entscheidende Rolle. In meiner Generation ging es hingegen vor allem um Sicherheit und Erfolg.

Was können Führungskräfte ab 50 besser als ihre jüngeren Kollegen?

Wir wissen heute aus medizinischen Studien, dass bestimmte Aspekte der körperlichen Leistungsfähigkeit im höheren Alter natürlich nachlassen. Ältere Arbeitnehmer stehen ihren jüngeren Kollegen und Kolleginnen allerdings, was ihre kognitiven Fähigkeiten angeht, nicht zurück. Vielleicht sind sie in alltäglichen Arbeitsprozessen oder im Erlernen neuer Techniken ein bisschen langsamer aber sie bringen ein wertvolles institutionelles Wissen und eine gehörige Portion an Erfahrung mit. Damit sind sie für jedes Unternehmen eine große Bereicherung.

 

Lesen Sie mehr zum Thema:

 

Inwieweit profitieren Unternehmen von der Förderung älterer Mitarbeiter?

In gemischten Teams können Menschen im Berufsalltag viel voneinander lernen. Denn jede Generation bringt auf der Arbeit ihre spezifischen Stärken und Schwächen mit. Alle haben ihre eigene Sichtweise und bereichern sich dadurch gegenseitig. Das ist ähnlich wie bei Teams, deren Mitglieder aus verschiedenen Nationen stammen. Wenn sie beispielsweise deutsche, italienische, kanadische und japanische Teammitglieder gemeinsam an einem Projekt arbeiten lassen, werden sie sich mit ihren unterschiedlichen Kulturen gegenseitig beflügeln.

Wie können Unternehmen älteren Mitarbeitern zukünftig ein besseres Arbeitsumfeld gestalten?

Es geht nicht darum, dass man ihnen mehr Kekse auf den Tisch stellt. Am häufigsten leiden ältere Menschen an mangelnder Wertschätzung seitens des Unternehmens, von Kollegen sowie von Vorgesetzen. Sie fühlen sich nicht mehr gebraucht und gewollt. Auch die Unternehmenskommunikation ist zunehmend auf junge Arbeitnehmende ausgerichtet und geht damit an ihren Bedürfnissen vorbei. Daher müssen Unternehmen zukünftig wieder mehr in ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren, alternative Karrieremodelle schaffen und eine Arbeitsumgebung anbieten, die dem Lebenszyklus gerecht wird.

Wie kann die Politik die gezielte Förderung älterer Arbeitnehmer in Unternehmen unterstützen?

Zunächst einmal könnte der Staat als Arbeitgeber selbst vorlegen. Der Handlungsbedarf ist in vielen Behörden deutlich gravierender als in Unternehmen. Gerade öffentliche Verwaltungen sind vom demographischen Wandel und dem mangelnden Nachrücken junger Fachkräfte gewaltig betroffen. Hier könnte die Politik ein Zeichen setzen.

Und darüber hinaus?

Die Politik muss dafür sorgen, dass es endlich flexiblere Arbeitszeitmodelle gibt. In dieser Hinsicht sollte sich die Bundesregierung ein Beispiel an den skandinavischen Ländern und allen voran an Island nehmen. Dort werden arbeitende Menschen im Rentenalter finanziell zusätzlich belohnt. Wir könnten auch in Deutschland überlegen, ob Rentner beispielsweise einen bestimmten Zuverdienst steuerfrei erhalten, wenn sie einer Beschäftigung nachgehen. Erste Gedanken dazu gibt es aktuell. Außerdem könnte ein Rentenzuschlag für Ruheständler eine große Motivation darstellen, um weiterhin arbeiten zu gehen. Das wäre eine gerechte Belohnung.

Was droht der deutschen Wirtschaft, wenn sie die Folgen des demographischen Wandels weiterhin verschläft?

Es wird wahrscheinlich zur Abwanderung vieler Jobs ins Ausland kommen und damit wird die inländische Wertschöpfung sinken. Eine Automatisierung vieler Branchen wäre mit einer drastischen Verkürzung der Sozialabgaben verbunden. Das würde eine sehr große Belastung für den deutschen Staatshaushalt bedeuten. Wenn wir uns als Gesellschaft daher nicht besser auf den Fachkräftemangel vorbereiten werden, ist ein Wohlstandsverlust unseres Landes unumgänglich. Das sind alles finanzielle Belastungen, die unsere Kinder eines Tages leider ausbaden werden müssen.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

Anzeige