Südkorea - Rückzug auf die Halbinsel

Handelskonflikte und der Trend zur Deglobalisierung treffen Südkorea besonders empfindlich. Das Hightech-Exportland reagiert mit einer bemerkenswerten Doppelstrategie aus Globalisierung und Lokalisierung.

Handel mit der ganzen Welt: südkoreanische Hafenstadt Busan / Dmitry Rukhlenko/Shotshop/Picture Alliance/DPA
Anzeige

Autoreninfo

Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

So erreichen Sie Felix Lill:

Anzeige

Kryogene Pumpen wie diese hier“, doziert Kim Chul-won und deutet auf einen wuchtigen Zylinder aus Metall neben sich, „werden nur in Japan produziert.“ Unverzichtbar seien sie, erklärt der Südkoreaner mit Stoppelhaar und schwarzem Anzug, damit Schiffe flüssiges Erdgas (LNG) über die Ozeane transportieren können. Durch die Pumpen wird der begehrte Rohstoff bei niedrigen Temperaturen ins Schiffsinnere hinein- und bei Ankunft am Zielhafen wieder hinausbefördert. „Leider geht die Herstellung mit sehr hohen Fixkosten einher. Häufig ist sie auch Optimierungen in Sachen Energieeffizienz unterworfen.“

Beim ersten Hinhören scheint Kim Chul-won seinen Zuhörern sagen zu wollen: Hier, in seinem Heimatland Südkorea, werde man derart komplexe Pumpen niemals selbst produzieren können. Warum auch, wenn man sie aus dem benachbarten Japan einkaufen kann? Aber die Pointe von Kims Vortrag ist eine andere. Er hebt seinen Zeigefinger: „2021 haben wir mit der Entwicklung begonnen. In der zweiten Hälfte 2023 bringen wir ein fertiges Produkt auf den Markt und werden dann über niedrige Preise konkurrieren.“

Autarkie politisch gewollt

Kim Chul-won arbeitet für Hyundai Heavy Industries Turbomachinery, ein Spin-off des weltweit agierenden Schwer­industriekonzerns Hyundai ­Heavy Industries. Auf einer Technologiemesse erzählt der Manager, warum sein Arbeitgeber die großen Pumpen jetzt unbedingt selbst bauen müsse. Und anders als man es erwarten könnte, beginnt er nicht etwa bei Technologiesprüngen oder Wachstumsmärkten, sondern bei Politik. „Im Jahr 2019 hat der Handelskonflikt mit Japan unsere Volkswirtschaft schwer getroffen.“ Man habe daraus gelernt.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Ein Streit um Entschädigungen für koreanische Zwangsarbeiter – aus der Zeit, als Korea japanische Kolonie war – eskalierte damals. Südkoreaner begannen, japanische Produkte zu boykottieren. Japan beschloss ein faktisches Teilembargo gegen Südkorea. Zahlreiche koreanische Unternehmen kamen nicht mehr an wichtige Komponenten aus Japan. Südkoreas bilateraler Handel mit einem seiner wichtigsten Partner brach um ein Zehntel ein.

Wobei sich Kim Chul-won erinnert, dass dies nicht alles war. Da seien noch die von Donald Trump regierten USA gewesen, die einen längst in Kraft getretenen Handelsvertrag plötzlich zu Südkoreas Ungunsten neu verhandelten. „Unsere Regierung hat dann beschlossen, dass es im Interesse der nationalen Sicherheit ist, wenn möglichst viel daheim produziert wird“, so Kim. „Und zu den Unternehmen, die sich seitdem daran versuchen, gehören auch wir. Der Staat unterstützt uns sehr großzügig.“ 

Kein Verlass auf Welthandel

Auf der Tech Inside Show in Goyang, einem Ort am Nordwestrand der Hauptstadt Seoul, tummeln sich mehr als 300 südkoreanische Betriebe. Von Maschinen über Chemikalien, Displays und Halbleiter bis zu Autos, Elektronik oder 3-D-Druck stellen sie diverse Teile oder Endprodukte her, die in eine grenzübergreifende Wertschöpfungskette eingegliedert sind. Doch an vielen Ständen berichten Unternehmensvertreter das, was auch Kim Chul-won sagt: Mithilfe des Staates wolle man seine Lieferketten vereinfachen. Auf die alten Strukturen sei kein Verlass mehr.

Der fortschreitende Verfall des Handelsmultilateralismus, in dem einst die Welthandelsorganisation global gültige Regeln für den internationalen Güter- und Dienstleistungsverkehr vorgab, auf die sich alle Mitgliedstaaten verlassen konnten, sorgt weltweit für Verwerfungen. Schließlich kam zu den bilateralen Handelskonflikten die Pandemie, die Warenflüsse durch Lockdowns und Arbeitskräftemangel zusätzlich störte. 

Dann folgte noch die Invasion Russlands in der Ukraine, auf die der Westen mit Sanktionen reagierte, was zu Rohstoff­engpässen, Inflation und abrupten Zinserhöhungen führte. Das bisherige Versprechen der Globalisierung, dem zufolge weltweite ökonomische Verzahnung auch als gegenseitige Absicherung dient, hat spätestens mit Beginn dieses Krieges seine Überzeugungskraft verloren. 

Den Großmächten ausgeliefert

„Wir erleben eine Verlagerung von Effizienz auf Sicherheit“, beobachtete die EU-Zentralbankpräsidentin Christine Lagarde im April vergangenen Jahres ein Umdenken auf den globalen Märkten. Passend dazu befand zuletzt die südkoreanische Tageszeitung Korea Herald: „Das Spektrum nationaler Sicherheit weitet sich allmählich auf neue Bereiche aus, einschließlich der Wirtschaft, Nahrungsversorgung, Umwelt- oder sozialer Faktoren.“ 

Südkorea trifft diese weltweit zu beobachtende Entwicklung ganz besonders. Denn mit einer Außenhandelsquote von 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hängt der erfolgreiche ostasiatische Industriestaat deutlich stärker von der Weltwirtschaft ab, als es im Durchschnitt reicher Länder der Fall ist. Geografisch wie handelspolitisch befindet sich Südkorea zudem zwischen dem größeren Nachbarn Japan, mit dem die Beziehungen kompliziert sind, sowie China und den USA, den zwei größten Volkswirtschaften der Welt, die sich seit Jahren einen Handelskrieg liefern. 

Die Sorge, zwischen die Räder zu geraten, ist groß. Aus gutem Grund: Staaten, die weder über einen riesigen Binnenmarkt verfügen noch in ein enges Handels- und Regulierungsbündnis wie die EU eingegliedert sind, sehen sich in turbulenten Zeiten besonderen Risiken ausgesetzt. Das zeigt auch ein Index für Lieferkettenresilienz des amerikanischen Versicherungskonzerns FM Global: Mit Ausnahme von kleinen, auf Welthandel spezialisierten Metropolen wie Singapur und Hongkong landen darin ausschließlich EU-Staaten und die USA vorne. 

Südkorea macht sich hübsch

So befand das Korea Economic Institute of America kurz nach Beginn der russischen Invasion: „Erschütterungen der Weltwirtschaft durch den Krieg in der Ukraine sind wohl das größte Risiko für die koreanische Wirtschaft.“ Inmitten gestiegener Rohstoffpreise und volatiler Wechselkurse verzeichnet das Land nun Handelsdefizite, wie es sie seit der Asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre nicht gegeben hat. 

Dabei kristallisiert sich in Südkorea eine Strategie heraus, die noch überall dort zum Vorbild werden könnte, wo man auf ähnliche Weise unter den globalen Spannungen leidet. Im Dienst der nationalen Sicherheit, so hat es die konservative Regierung in Seoul wiederholt erklärt, werde man sich gegen die neuen Risiken wappnen – aber nicht nur mit Aufrüstung, sondern insbesondere durch das, was man auf Messen wie der Tech Inside Show sehen kann: Standortpolitik, Steueranreize und Lieferkettenmanagement.

„Unsere Exportstrategie muss sich von der Vergangenheit unterscheiden“, betonte Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol bei seiner ersten Ansprache im neuen Jahr. Der oft rechtspopulistische Politiker lässt es sich zwar nicht nehmen, den immerzu mit Raketentests zündelnden Bruderstaat Nordkorea vor weiteren Eskalationen zu warnen. Seinen Fokus scheint Yoon aber zusehends auf ein anderes Thema zu legen: Südkorea könne sich erst sicher fühlen, wenn es Handel betreibe, möglichst mit der ganzen Welt.

Exportfokus bleibt

Es ist eine bemerkenswerte Kombination aus Globalisierung und Lokalisierung, in der sich das Land mit seinen 52 Millionen Einwohnern gerade versucht: Einerseits rief die Regierung im ersten Pandemiejahr 2020 ein neues Förderprogramm aus, mit dem sie durch diverse Steuerentlastungen, erleichterte Kreditvergaben und Ansiedlungen in eigens errichtete Industriecluster beabsichtigt, möglichst viele Produktionsschritte ins Inland zu holen. 

Kim Chul-wons Arbeitgeber Hyundai Heavy Industries Turbomachinery ist nur ein Betrieb unter mehreren. Bisher gut 40 Unternehmen, deren Erzeugnisse der Staat für „strategisch bedeutend“ befindet, unterstützt die Regierung dabei, ihre Produktion innerhalb der Landesgrenzen zu etablieren. Vor allem geht es um Hightech- und Schlüsselbranchen wie Halbleiter, Bildschirme, Elektrobatterien oder den Schiffbau, in denen südkoreanische Firmen schon hohe Marktanteile halten, durch die unsicher gewordenen Lieferketten aber in Schwierigkeiten geraten sind. 

Andererseits gilt: Auch wenn der Glaube an eine multilaterale Handelsordnung, die allgemeingültige Regeln für den Warenverkehr sichert, erschüttert ist – die Exportorientierung ist es nicht. Deutlich wurde dies im November auf der Invest Korea Week, einer Konferenz, bei der sich Südkorea als Standort für Auslandsinvestitionen anbietet. Mit unüberhörbarem Stolz verkündete dort etwa Shawn Chang vom Wirtschaftsministerium: „Über die vergangenen fünf Jahre haben wir den Teil der Welt, den Südkorea durch Freihandelsabkommen abdeckt, auf 85 Prozent erhöht.“ 

Warum Südkorea skeptisch bleibt

Auch in Zeiten des Krieges in der Ukraine und eines Handelskrieges zwischen den USA und China könne es also gelingen, gute Beziehungen in die allermeisten Teile der Welt nicht nur zu halten, sondern in einigen Fällen noch auszubauen. Als Nächstes wolle Südkorea Handelsdeals in Lateinamerika abschließen. Das offensichtliche Ziel, das die Entscheider in Seoul verfolgen: Möglichst viel daheim produzieren, um davon dann möglichst viel auf Basis von bilateralen Freihandelsverträgen in die ganze Welt zu verschiffen.

Während die Taktik auf der Hoffnung fußt, weiterhin an der globalen Nachfrage nach heimischen Produkten zu verdienen, offenbart sie auch das Misstrauen gegenüber anderen Ländern, in Zukunft zuverlässige Handelspartner bei der Lieferung zu sein. Die südkoreanische Doppelstrategie zeigt damit eine weitere Facette des seit Jahren kriselnden Multilateralismus: Man nutzt ihn für den eigenen Vorteil, wo es noch geht, kehrt ihm aber gleichzeitig den Rücken.

Und bisher scheint das Ganze zumindest teilweise zu funktionieren. Im Jahr 2022 flossen 30,45 Milliarden US-Dollar nach Südkorea, gut 3 Prozent mehr als im Vorjahr (und ein historischer Rekordwert). Die stärksten Zuwächse sind zudem im Industriesektor zu verzeichnen, also dort, wo die „strategischen Branchen“ angesiedelt sind. „Unsere Regierung konzentriert all ihre Anstrengungen darauf, der wichtigste Geschäftsstandort in Asien zu werden“, erklärte Wirtschaftsminister Ahn Duk-geun bei der Invest Korea Week.

Es knistert mit China

Welch ein Balanceakt dies aber ist, wird schon klar, wenn man den Minister nur ausreden lässt. Ahn, in seinem vorigen Leben Ökonomieprofessor an der renommierten Yonsei-Universität in Seoul, sagt einerseits: „Angesichts der Spannungen mit China fokussieren wir uns darauf, dass Betriebe einen U-Turn raus aus dem Land vollziehen.“ In dieser Sache tue „sich derzeit sehr viel“, so Ahn. Auf derselben Pressekonferenz betont der Minister aber auch: „Es ist in unserem nationalen Interesse, gute Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu China zu unterhalten.“ 

Dabei ist China Südkoreas größter Handelspartner – weshalb die Regierungsvertreter aus Seoul stets darauf bedacht sind, sich auf keinen Fall als Antagonist Pekings zu profilieren. Aus diversen Territorialstreitigkeiten Chinas im Pazifik, der Frage um das autonome Existenzrecht Taiwans sowie Pekings Handelsstreit mit Washington halten sich Politiker aus Seoul lieber raus. Und zur neuen Standortpolitik heißt es auf Nachfrage: Verlagerungen von Produktionsstätten aus China nach Südkorea wünsche man sich bloß bei solchen Gütern, die für den nichtchinesischen Markt gedacht seien. 

Wobei man in Seoul längst verstanden haben dürfte, dass aggressive Standort- und Abwerbungspolitik auch so die Beziehungen zu den Nachbarn und Partnern strapazieren kann. Peking hält sich bisher zwar mit offener Kritik an Seouls neuer Ausrichtung zurück. Dies mag aber auch daran liegen, dass die südkoreanische Strategie in diese Richtung bisher eben nicht funktioniert. Die zuletzt stark gestiegenen Direktinvestitionen stammen vor allem von US-amerikanischen Unternehmen. Aus China gingen sie im Vergleich zum Vorjahr gar zurück. 

Die Quadratur des Kreises

Denn wer als global orientiertes Unternehmen den weiterhin kostengünstigen Standort China verlässt, braucht auch heute noch gute Gründe. Die mag es zwar geben. Als Vorteile des Standorts Südkorea gelten neben der Rechtsstaatlichkeit etwa das schnelle Internet, die gute Infrastruktur sowie die meist effiziente und digitalisierte Bürokratie. Im Vergleich zu anderen wohlhabenden Ländern kommen aus Arbeitgeberperspektive neben moderaten Steuersätzen die eher geringen Löhne bei hohem Ausbildungsniveau hinzu, erklärbar durch die Schwäche von Gewerkschaften.

Aber das ist nicht alles, erklärt Jason Yun vom schwedischen Halbleiterkonzern Edwards: „In Südkorea haben wir hochwertige Handelspartner in direkter Nachbarschaft.“ Im vergangenen Sommer errichtete Edwards eine neue Fabrik für Vakuumpumpen, die für die Halbleiterproduktion benötigt werden, eben nicht auf chinesischem Boden. Da hier ein Cluster bestehe, zu dem wichtige Zulieferer und Abnehmer wie etwa der Halbleiterkonzern SK Hynix gehören, fiel die Standortentscheidung von Edwards auf die Stadt Asan im Westen von Südkorea.

Ein Spiel mit dem Feuer

Was sich als Erfolg der südkoreanischen Strategie lesen lässt, gibt allerdings auch eine Aussicht auf mögliche neue Konflikte. Denn mit dem gesteigerten Wettbewerb darum, möglichst viele Produktionsschritte der Wertschöpfungskette im Inland zu konzentrieren, wird sich Südkorea in den kommenden Jahren kaum nur Freunde machen. Es ist nicht nur der Stoff, der Populisten wie Donald Trump zu Parolen wie „America First!“ motiviert und in Großbritannien den Brexit mitinspiriert hat. Standortwettbewerb hat seit jeher Konflikte produziert.

Seit Jahren sieht sich China dem Vorwurf ausgesetzt, durch unfaire Praktiken Jobs ins eigene Land zu ziehen. Vor vier Jahrzehnten wurde das wegen Standortvorteilen boomende Japan von anderen Industriestaaten zu einer Aufwertung der eigenen Währung gezwungen, womit japanische Betriebe im Exportsektor geschwächt wurden. Im 19. Jahrhundert wurde das kostengünstig produzierende Deutschland von England dazu gedrängt, heimische Produkte mit dem vermeintlich unattraktiven Label „Made in Germany“ zu versehen. 

„Made in Korea“ ist zwar längst eine angesehene Marke auf dem Weltmarkt, und zu einer solchen könnte auch die neue handelspolitische Mischstrategie aus Globalisierung und Lokalisierung werden. Bis sich früher oder später womöglich andere Staaten übervorteilt oder hintergangen fühlen. Und mit einstigen Partnern, mit denen etwa ein Freihandelsabkommen besteht, ein neuer Streit ausbricht.

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige