Streitgespräch Wirtschaftswachstum - „Ökologie ist nicht verhandelbar“

Niko Paech hält Wirtschaftswachstum für lebensgefährlich. Stefan Kooths sieht darin den Schlüssel für ein besseres Leben. Ein Streitgespräch zwischen zwei überzeugten Ökonomen, die selten einer Meinung sind.

Die Wirtschaftswissenschaftler Stefan Kooths und Niko Peach im Streitgespräch / Anja Lehmann und Marcus Simaitis
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Niko Paech ist außerplanmäßiger Professor der Pluralen Ökonomik an der Universität Siegen. Der Volkswirt ist ein vehementer Verfechter der Wachstumskritik und hat in Deutschland den Begriff „Postwachstums-ökonomie“ geprägt. Sein Ziel ist ein nachhaltigeres Wirtschaftssystem.

Stefan Kooths ist Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kiel Institut für Weltwirtschaft. Er lehrt an der BSP Business and Law School in Berlin und Hamburg und ist Vorsitzender der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft.

Herr Paech, was ist Wirtschaftswachstum und weshalb spielt es für moderne Volkswirtschaften eine so wichtige Rolle?

Niko Paech: Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts bilden das Credo jeglicher Wirtschaftspolitik. Das Bruttoinlandsprodukt ist, vereinfacht gesagt, die Summe der pro Jahr erzeugten Güter einer Volkswirtschaft. Seit mehr als 50 Jahren ist bekannt, dass wirtschaftliches Wachstum ökologische Probleme heraufbeschwört. Während der letzten Jahrzehnte wurden unzählige Versuche unternommen, am Konzept des Wirtschaftswachstums festzuhalten und auf der anderen Seite über technologische Innovationen zu erwirken, dass unerwünschte ökologische Nebenwirkungen dezimiert oder sogar getilgt werden. Diese Entkopplungsversuche sind gescheitert. Die Konsequenz daraus wäre, das Konzept der Postwachstumsökonomie an die Stelle des Wachstumsdogmas zu setzen.

Herr Kooths, was ist Wirtschaftswachstum aus Ihrer Sicht und warum ist es so bedeutsam?

Stefan Kooths: Es ist alles andere als ein Dogma. Dass wir mehr Güter produzieren, ist doch kein Selbstzweck. Wir erschließen uns damit Mittel, um unsere Bedürfnisse besser zu befriedigen. Das steht hinter dem Wachstumsprozess. Auch Umweltschutz ist kein Selbstzweck. Wenn wir von Umweltschäden sprechen, meinen wir damit immer, dass sich das negativ auf das Wohlbefinden der Menschen auswirkt. Da gibt es Abwägungsprozesse. Ich will das an der Situation im Ruhrgebiet in den 1950er und 1960er Jahren deutlich machen. Das war kein schöner Ort. Und zwar nicht, weil es den Menschen damals egal war, dass die Luft verrußt war und die Flüsse verschmutzt waren, sondern weil andere menschliche Bedürfnisse damals wichtiger waren. Als die wirtschaftliche Entwicklung voranschritt und man andere Bedürfnisse ausreichend befriedigen konnte, hat man gesagt: Jetzt wollen wir auch die Umweltbedingungen verbessern. Das ist nicht mit Degrowth, mit einem Rückgang der materiellen Konsummöglichkeiten, einhergegangen, sondern damit in Einklang gebracht worden.

Paech: Da muss ich Ihnen widersprechen. Eine Abwägung zwischen ökologischen Belangen und dem Begehren nach mehr Wohlstand ist nicht verantwortbar. Der blaue Himmel über der Ruhr wurde 1969 von Willy Brandt in einer legendären Wahlkampfrede beschworen. Und in der Tat, er wurde Realität. Nur ist der Himmel dort, wohin die schmutzige Industrie Deutschlands verlagert wurde, noch düsterer, als er es jemals über der Ruhr war. Das sollten wir ebenso wenig verschweigen wie den Umstand, dass die Ökologie nicht verhandelbar ist. Man kann die Lebensbedingungen der menschlichen Zivilisation und das Begehren nach immer mehr Wohlstand nicht gegeneinander abwägen. Das ist kurzfristig durchhaltbar, führt aber langfristig ins Chaos.

Was bedeutet das für eine moderne Industriegesellschaft? Deindustrialisierung? Weniger Konsum? Materielle Wohlstandsverluste für jeden von uns?

Paech: Konsum, Mobilität und Techniknutzung werden sinken müssen, um eine Überlebenschance zu wahren. Das betrifft aber nicht alle Menschen. Denn nachhaltige Entwicklung bedeutet nicht nur, die Ökosphäre zu stabilisieren, sondern innerhalb eines nicht verhandelbaren ökologischen Rahmens globale Gerechtigkeit zu ermöglichen. Und das hieße, dass jene, die ökologisch über ihre Verhältnisse leben, ihre Ansprüche reduzieren müssten, aber nicht diejenigen, die hier oder im globalen Süden unterhalb eines menschenwürdigen Versorgungsniveaus leben.

Kooths: Wenn wir uns die Entwicklung seit den 1970er Jahren ansehen, hat sich die Weltbevölkerung verdoppelt. Die Lebenserwartung ist weltweit um über 15 Jahre gestiegen, in den Entwicklungsländern fast um 20 Jahre. Wir haben viele Erfolge zu verzeichnen von weniger Kindersterblichkeit über mehr Schuljahre bis zu rückläufigen Arbeitsunfällen. Das ist der wirtschaftlichen Entwicklung in weiten Teilen der Welt geschuldet. Der Mensch ist ein strebendes Wesen. Wenn ein bestimmtes Niveau erreicht ist, peilt er die Dinge an, die er noch nicht erreicht hat. Denken Sie an den medizinischen Fortschritt. Da sind wir längst noch nicht dort, wo wir sein wollten. Auch das gehört zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, Medikamente für Erkrankungen zu haben, die wir heute noch nicht heilen können.

Paech: Es ist richtig, dass die Kindersterblichkeit abgenommen hat und die gesundheitliche Versorgung verbessert wurde. Aber es ist ein Popanz, andere Teile der Ökonomie als ähnlich wichtig wie medizinischen Fortschritt zu betrachten. Warum einigen wir uns nicht darauf: Dort, wo es um die essenziellen Lebensbedingungen geht, um wirkliche Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Ernährung, Bildung, ist technischer Fortschritt sinnvoll. Aber wie wichtig ist es, dass Fünfjährige jedes halbe Jahr eine Spielkonsole, ein Smartphone und ein Tablet verschleißen? Was trägt es zum medizinischen Fortschritt bei, SUV zu fahren und allein auf 160 Quadratmeter Wohnfläche zu leben? Gerade Ökonomen sollten unterscheiden zwischen Luxus, der ökologisch ruinös ist, und basalen Grundbedürfnissen, deren Befriedigung wir selbstverständlich nicht in Abrede stellen dürfen. 

Kooths: Meines Erachtens ist es nicht die Aufgabe von Politikern oder Ökonomen zu entscheiden, was Menschen zu wollen haben und was nicht. Ihre Bedürfnisse müssen die Menschen für sich selbst festlegen. Dann können sie sich in einem marktwirtschaftlichen Prozess koordinieren. Die Ressourcen, die dabei eingesetzt werden und bei denen es Knappheitsverhältnisse gibt, fließen in das ökonomische Kalkül ein. Deshalb ist auch die Bewirtschaftung der CO2-Emissionen keine ökonomisch spektakuläre Fragestellung, sondern hier geht es darum, wie man das international koordiniert. Sobald hier bestimmte Ressourcenmengen definiert werden, die dann auch eingesetzt werden können, kann sich der übrige Prozess weiter ganz normal vollziehen. Deshalb warne ich davor, die Begrenztheit natürlicher Ressourcen zum Anlass zu nehmen, fundamentale Prinzipien wie das der Konsumentensouveränität über Bord zu werfen.
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Paech: Auch ich möchte die individuelle Freiheit der Menschen nicht über Gebühr einschränken. Aber die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo das Recht auf Überleben der anderen beginnt. Wenn wir globale Gerechtigkeit bei ökologischer Überlebensfähigkeit wahren wollen, steht jedem Individuum ein ganz bestimmter ökologischer Rahmen zur Verfügung. Was Menschen innerhalb dieses Rahmens an materiellen Freiheiten ausüben, darf ihnen nicht vorgeschrieben werden. Fakt ist jedoch, dass dieser Rahmen bis heute nicht institutionalisiert ist, Herr Kooths. Und nirgends auf diesem Planeten ist in einer parlamentarischen Demokratie eine Mehrheit in Sicht, die erwirken könnte, dass dieser Rahmen endlich gesetzt wird. Daraus folgt, dass wir im Moment nicht überlebensfähig sind. 

Kooths: Und dass wir die Demokratie deshalb abschaffen müssen, wenn ich Sie richtig verstehe.

Paech: Das ist eine willkürliche Unterstellung! Wirtschaftswissenschaftler können einer Zivilgesellschaft sehr wohl anraten, kritisch zu reflektieren, was einem einzelnen Individuum maximal zustehen kann. Und sie können auch notwendige Grenzen verdeutlichen, basierend auf einer Ökobilanzierung: Natürlich sind Flugreisen, SUVs oder übermäßiger Fleischkonsum nicht mit einer global gerechten Lebensweise vereinbar. Gerechtigkeitsfähige Lebensstile sind nicht zu erzwingen, sondern als eine regulative Idee zu institutionalisieren. Es stünde Ökonomen gut zu Gesicht, die Verwechslung von ökologischem Vandalismus und ökonomischer Freiheit klar zu benennen und zu delegitimieren.

Herr Kooths, die Grünen haben vor der Bundestagswahl ein ökologisches Wirtschaftswunder versprochen. Jetzt befindet sich Deutschland in einer Rezession. Ist grünes Wachstum am Ende nur ein frommer Wunsch?

Kooths: Ja, wenn man davon ausgeht, dass durch die Dekarbonisierung, die derzeit im Mittelpunkt steht, ein zusätzlicher Wachstumsschub käme. Das wird aller Voraussicht nach nicht eintreten. Jedenfalls nicht in den nächsten 20 bis 30 Jahren. Die erneuerbaren Energien sind wesentlich kapitalintensiver als die fossilen. Deshalb brauchen wir einen größeren materiellen Aufwand, um dieselbe Energie zu produzieren. Gleichzeitig funktioniert das Ganze ohnehin nur, wenn wir einen erheblichen Anstieg bei der Energieeffizienz hinbekommen. Das bedeutet, man muss zugleich Forschungs- und Entwicklungskapazitäten stärker darauf konzentrieren, die dann an anderer Stelle für den technischen Fortschritt als Treiber des Wachstums nicht mehr zur Verfügung stehen.

Herr Paech, Sie plädieren für einen „prägnanten Rückbau des industriellen Systems“. Stattdessen wollen Sie die Gemeinschaftsnutzung von Waschmaschinen bis hin zu Wohnungen. Und Ihnen schwebt eine Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft vor, in der die Menschen sich mit Gemüse aus dem eigenen Garten versorgen. Meinen Sie das ernst? 

Paech: Vor 40, 50 Jahren, als schon eine konsumkritische Debatte stattfand, lebte die Mehrheit der Mitteleuropäer auf einem Ressourcensockel, der in etwa mit einer Postwachstumsökonomie harmonieren könnte. Ein Rückbau der Industrie heißt nicht, auf diese gänzlich zu verzichten. Und ergänzende Subsistenz, die zukünftig überlebenswichtig sein wird, heißt nicht, nur im Garten zu buddeln. Ich betreibe bereits Subsistenz, indem ich für unser Videogespräch ein dreimal repariertes, über 15 Jahre altes Notebook nutze. Subsistenz heißt Reparieren, heißt den Bestand erhalten, heißt Menschen wieder zu befähigen, nicht nur von Industriegütern abhängig zu sein. Niemandem bricht ein Zacken aus der Krone, wenn er sich mit Nachbarn ein Auto oder eine Waschmaschine teilt. Die Verfügbarkeit moderner Objekte ist nicht mit einem Eigentum daran gekoppelt.

Kooths: Aber wer bestimmt, was geteilt werden muss und was nicht? Es steht doch heute schon jedem frei, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen oder in einem Mehrfamilienhaus die Waschmaschine unter fünf oder sechs Haushalten aufzuteilen. Oder man hat Carsharing-Möglichkeiten. Das sind doch alles Dinge, auf die Menschen von ganz alleine kommen. Deshalb sehe ich überhaupt keine Notwendigkeit, über die Ressourcenknappheit, die die Menschheit seit jeher begleitet, zu einem Systemwechsel zu kommen. Sondern es geht darum, dass die knappen Ressourcen auch als solche in das ökonomische Kalkül der Akteure einfließen. Und zu Ihrem 15 Jahre alten Notebook: Wenn wir die Bandbreiten und die Internetverfügbarkeit von damals hätten, hätten wir uns alle in einen Zug und ein Auto setzen müssen, um uns für dieses Gespräch an einem Ort zu treffen. Heute kann jeder zu Hause oder in seinem Büro bleiben und wir können trotzdem miteinander kommunizieren. Das sind Ergebnisse des technischen Fortschritts, bei dem es nicht darum geht, dass wir unsere Bedürfnisse mit immer mehr materiellem oder natürlichem Ressourceneinsatz bedienen.

Paech: Dann erklären Sie bitte mal, warum der Flugverkehr, der Schiffsverkehr, der Güterverkehr, der motorisierte Individualverkehr jedes Jahr neue Rekorde erzielen. Und der pro Kopf genutzte Wohnraum auch.

Kooths: Es ist offenbar eine Präferenz der Menschen, dass sie mobil sind, und zwar auch individuell mobil sind. Und da liegt es nicht an uns Ökonomen zu sagen, das soll eingeschränkt werden. 

Herr Paech, den Antiwachstumskurs, den Sie propagieren, halte ich nicht für mehrheitsfähig. Vor allem glaube ich, dass andere Länder sich dem Kurs auf keinen Fall anschließen würden. Was hilft es dem Weltklima, wenn die Deutschen sich deindustrialisieren, aber der Rest der Welt das Gegenteil macht?

Paech: Was mehrheitsfähig sein wird, kann heute noch niemand wissen. Das hängt von den Krisenszenarien ab, die noch eintreten werden. Was mehrheitsfähig ist oder durch Krisendruck erzwungen wird, dürfte recht bald zu einer alternativlosen Entwicklungsrichtung verschmelzen. Die Postwachstumsökonomie wird by design or by disaster eintreten. Auch die Ressourcen, die für Elektroautos, Windkraftanlagen, Fotovoltaikanlagen oder Wasserstoff-Infrastrukturen nötig sind, werden knapp, sodass grünes Wachstum keine Option ist. Eine Fortsetzung der aktuellen Lebensform wird auf Grenzen stoßen, die Handlungsmuster oktroyieren, welche einer Degrowth-Strategie ähneln, nur deutlich schmerzhafter und sozial weniger ausgeglichen. Nun zur Rolle Deutschlands. Die Behauptung, dass hier nur 2 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verursacht werden, ist irreführend. Denn wenn in China neue Kohlekraftwerke ans Netz gehen, dann nicht, weil die Binnennachfrage dort so rasant steigt, sondern weil die Geräte, die wir jetzt gerade in dieser Videokonferenz nutzen, aus China kommen. Vor allem: Würde in Deutschland eine Postwachstumsökonomie aufgebaut, könnten andere Länder durch rückläufige Importe dazu veranlasst werden, entsprechende Anpassungsprozesse zu durchlaufen.
 

Hier das ungekürzte Gespräch als Podcast hören:

 

Kooths: Bei aller Wertschätzung für die ökonomische Bedeutung Deutschlands: Selbst wenn die deutschen Importe komplett wegfielen, würde das in der übrigen Welt nicht zu den Effekten führen, die Sie beschreiben. Aber noch mal zur Mehrheitsfähigkeit. Das ist in der Tat eine offene Frage. Und ich denke: Je teurer man diesen Dekarbonisierungsprozess gestaltet, je dirigistischer und je kleinteiliger man vorgeht, desto eher wird es Widerstände geben. Wir sehen das exemplarisch bei dem Gebäudeenergiegesetz. Viele meiner Kollegen und ich plädieren dafür, es stattdessen möglichst minimalinvasiv über die Bepreisung derjenigen ökonomischen Aktivitäten zu versuchen, die zurückgeschraubt werden sollen. Dann hat man den gesamten Effizienzmotor des marktwirtschaftlichen Systems im Rücken, um zu einer Lösung zu finden, die von den teuren immer noch die günstigste ist. Zu meinen, mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt sei ab sofort Schluss, und in Zukunft könne es nur noch um den Rückbau gehen, ist ein Denkfehler, den wir schon Anfang der 1970er Jahre erlebt haben. Dahin sollten wir nicht zurückfallen, denn das würde die demokratische Zustimmung am stärksten bedrohen. 

Herr Paech, Sie formulieren in einem Artikel folgenden Zusammenhang: Was die Wählergunst sichert, endet langfristig im ökologischen Abgrund, und was die Lebensgrundlagen sichert, endet kurzfristig im politischen Abgrund. Angesichts dieses Dilemmas müsste auf die Wachstumswende eine Politikwende folgen, so schreiben Sie. Was schwebt Ihnen vor? Eine Ökodiktatur?

Paech: Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich würde mich eher als konservativen Anarchisten bezeichnen, der die Zivilgesellschaft nicht aus der Verantwortung entlassen will. Historisch betrachtet wurde demokratischer Wandel stets in sozialen Nischen begonnen. Selbst die deutsche Energiewende ist zunächst gegen politische Widerstände in den Nischen entwickelt und in Erscheinung gebracht worden. Das waren Pioniere, die ihre demokratische Freiheit genutzt haben, um etwas Neues in Gang zu setzen, es einer Bewährungsprobe auszusetzen, damit es irgendwann von der Politik übernommen werden kann. Veränderungen gehen zumeist vom Impuls bestimmter Teile der Zivilgesellschaft aus, die neue Orientierungen schaffen, sich auf Märkten durchsetzen oder diese sogar überwinden. Etwa in der solidarischen Landwirtschaft, der Reparaturökonomie und der Sharing Economy. Derartige Versorgungsformen, die Industrieproduktion graduell substituieren, verkörpern ein Mehr an Demokratie. Ich bin der Letzte, der eine Ökodiktatur oder, das hat man mir auch vorgeworfen, einen Öko-Stalinismus wollte. Vielmehr ist die Ausschöpfung von Freiheitspotenzialen zentral, um dezentral nachhaltige Versorgungspraktiken entstehen zu lassen. Warum können Wirtschaftswissenschaftler nicht hier ansetzen, statt den Menschen das Blaue vom Himmel zu versprechen, Herr Kooths, nämlich immer nur nach dem Motto: Verlasst euch auf die Anreize, auf die Märkte und die Technologie, die werden es schon richten. 

Kooths: Mit dieser Forderung nach Freiheitsspielräumen laufen Sie bei mir offene Türen ein. Ich bin der Letzte, der nicht allen möglichen Ideen diesen Raum geben wird. Aber weshalb ich skeptisch bleibe, ob das, was Sie auf einer relativ abstrakten Flughöhe skizzieren, tatsächlich zur Lösung beiträgt, liegt daran, dass wir nicht in einer idyllischen Kleingruppengesellschaft wie in einer Familie leben. Es gibt zwischen Familienmitgliedern typischerweise keine Marktverhandlungen, sondern dort wird die gemeinsame Nutzung von Ressourcen seit Jahrtausenden praktiziert. Aber wir leben in anonymen Großgesellschaften, für die wir einen funktionierenden Kommunikationsmechanismus brauchen. Und das sind Gewinnanreize und individuelle Verantwortlichkeit. Das wird uns nicht in paradiesische Verhältnisse führen, aber in Verhältnisse, die besser sind als bei jedem zentral ansetzenden Verfahren. Darum geht es mir. Wenn Sie diese individuellen Freiheitsräume nutzen, um neue Ideen vorzuleben und anderen als Beispiel anzubieten, ist das doch wunderbar.

Paech: Sie sagen, dass mein Entwurf abstrakt sei. Entschuldigung, ich bin jemand, der alle zwei Minuten konkrete Beispiele nennt, die real existieren. Abstrakt sind Sie, weil Sie eine technologische Entwicklung prognostizieren, die noch nicht existiert. Andernfalls müssten wir uns gar nicht mit dem ökologischen Abgrund auseinandersetzen, auf den wir zurasen. 

Kooths: Ich prognostiziere nichts, sondern ich beschreibe die Bedingungen für technischen Fortschritt und ökonomische Entwicklung. 

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

Anzeige