Dramatischer Weckruf des BDI-Präsidenten - Russwurms Kriegserklärung

Siegfried Russwurm, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, schlägt Alarm: Die Bundesrepublik habe sich in einen schleichenden Prozess der Deindustrialisierung begeben. Besonders harte Kritik übt er an Olaf Scholz, der die Probleme ignoriere.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Um die Tragweite dieses Interviews zu ermessen, sollte man wissen: Siegfried Russwurm pflegt für gewöhnlich einen sehr diplomatischen Umgang mit der Politik – zumindest in der Öffentlichkeit. Das grenzt teilweise sogar an blanken Opportunismus, wenn der BDI-Präsident etwa beim Grünen-Parteitag im Oktober des vorvergangenen Jahres als Gastredner in eine überdeutliche Gendersprache verfällt. Der Partei von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zollte er bei dieser Gelegenheit übrigens ausdrücklich „Respekt“ dafür, der damals aufziehenden Wirtschaftskrise mit „Realismus, Pragmatismus und Mut“ zu begegnen. Doch jetzt ist es mit dem Kuschelkurs des obersten deutschen Industrielobbyisten offenbar endgültig vorbei.

„Zwei verlorene Jahre“

Was Russwurm soeben in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung von sich gegeben hat, lässt an Deutlichkeit jedenfalls nichts vermissen. Denn er richtet sich frontal gegen die Bundesregierung, der er mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland vorwirft: „Es waren [bisher] zwei verlorene Jahre – auch wenn manche Weichen schon in der Zeit davor falsch gestellt wurden.“ Bei seiner Kritik nimmt er insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ins Visier, weil von diesem zuletzt häufig das Zitat „Die Klage ist das Lied des Kaufmanns“ zu hören sei. So könne man zwar die Analysen des BDI „auch abkanzeln“. Es zeige jedoch, „dass im Kanzleramt der Ernst der Lage offenbar unterschätzt wird“. Das ist nichts Geringeres als eine Kampfansage an den Chef der Ampelregierung. Und untermauert den Eindruck weiter Teile der Bevölkerung eines völlig unterentwickelten Problembewusstseins bei der Führung dieses Landes mit Blick auf die Zukunft des Industriestandorts Deutschland.

Tatsächlich genügt es, nur die vergangenen Tage und Wochen Revue passieren zu lassen, um in dieser Hinsicht ein massives Störgefühl zu bekommen: Im politischen (und medialen) Fokus standen Themen wie Cannabis-Freigabe oder die aberwitzigen Pläne von Bundesfamilienministerin Paus (Grüne), eine neue Behörde mit 5000 Stellen aus dem Boden zu stampfen, um die Kindergrundsicherung mühelos für die Anspruchsberechtigten unters Volk bringen zu können. Wirtschaftspolitisch zu vermelden gab es nach langem Hin und Her hingegen ein sogenanntes Wachstumschancengesetz, welches von Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger als „Witz“ tituliert wurde. Und über das sich Russwurm nun dergestalt einlässt, die Erwartungen der Regierung in dieses Gesetz seien „weltfremd“. Deutlicher kann man deren Versagen inmitten einer der tiefsten Strukturkrise dieses Landes nicht adressieren.

Tiefe Frustration

Das wirklich beängstigende an dem Interview mit Russwurm ist: Er scheint selbst zu wissen, dass er mit seinen Mahnungen in Richtung der Politik gegen eine Wand spricht. So redet einer, der die Hoffnung ausgegeben hat, dass von der Ampel bis zum Ende der Legislaturperiode noch irgendetwas Positives für die deutsche Wirtschaft kommen könnte. Möglicherweise rechnet er sogar mit deren vorzeitigem Scheitern, was angesichts der bevorstehenden Haushaltsberatungen nicht ausgeschlossen erscheint. 

Jedenfalls ist das gesamte Gespräch getragen von einer extrem tiefen Frustration – die sich ja auch insgesamt über das Land gelegt hat und die insbesondere der stets so wissend dreinschauende Kanzler durch sein hartnäckiges Schweigen weiter befördert. Dessen Kommunikationsverweigerung wirkt mit jedem weiteren Tag weniger wie stille Souveränität als vielmehr wie ein Ausdruck der Ratlosigkeit: Der Steuermann weiß nicht, wohin.

 

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Siegfried Russwurm, früherer Siemens-Vorstand, fordert nicht nur mehr Investitionen in die marode Infrastruktur, sondern eben auch einen „dramatischen Abbau von Berichtspflichten der Unternehmen, die Kräfte binden und wenig bringen“ würden: Das entgegen aller Versprechen von Bürokratieabbau soeben auf EU-Ebene beschlossene Lieferkettengesetz lässt grüßen. Außerdem braucht es dem BDI-Chef zufolge mehr Freihandelsverträge, „die nicht mit Sozial- und Umweltforderungen an unsere Partner in aller Welt überfrachtet sind und deshalb nicht zustande kommen“. Mit anderen Worten: Die Regierung dieses Landes tut nicht nur nichts, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Sondern sie vertieft die Krise durch ihr teilweise ideologisches Sektierertum auch noch selbst. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland im Trend langsamer wachse als fast alle vergleichbaren Länder und viele EU-Nachbarn: „Wir verlieren ihnen gegenüber kontinuierlich Marktanteile.“

Die Energiepreis-Falle

Natürlich kommen auch die hohen deutschen Energiepreise zur Sprache, welche dafür sorgten, dass gerade die energieintensiven Industriezweige „richtig durchgeschüttelt“ würden. Bei der Stahlproduktion, so Russwurm, betrage der Energieanteil an den Kosten für die Produktion einer Tonne dieses Mischmetalls in Deutschland 5 Prozent, künftig würden es 50 sein. Die unausweichliche Folge der deutschen Energiepolitik, die sich trotz ausbleibender russischer Gaslieferungen einen Atomausstieg glaubt leisten zu können: „Manches wird aus Deutschland verschwinden.“ Beispielsweise auch Ammoniak, das künftig als eine Form des Wasserstoffimports in großen Mengen mit eingeführt werde: „Das ist es wahrscheinlich nicht sinnvoll, die bisherigen Mengen parallel zu viel höheren Kosten hier zu produzieren.“

Es geht also um nichts anderes als die drohende Deindustrialisierung der Bundesrepublik – ein Szenario, dessen bloße Benennung ja von der Bundesregierung als standortschädliche Brunnenvergifterei übler Populisten abgetan wird. Aber so ist es eben genau nicht, und der sonst so zahme Russwurm legt diesmal den Finger gnadenlos in die Wunde. Die Tatsache nämlich, dass viele Firmen im vergangenen Jahr Rekordgewinne erzielt haben, führt er auf die Auslandsaktivitäten der heimischen Unternehmen zurück. Die Profitabilität in Deutschland selbst sei hingegen „gering oder sogar negativ“; viele Betriebe würden überlegen, ihre nächsten Investitionsvorhaben anderswo zu realisieren.

Grassierender Sozial-Populismus

Ob Russwurm mit seinem längst überfälligen Weckruf erfolgreich sein wird, darf indes bezweifelt werden. Denn dafür ist die Wirtschaftskompetenz insbesondere bei den roten und bei den grünen Komponenten der Ampelkoalition einfach zu gering – der Fachkräftemangel herrscht eben ersichtlich auch in der Politik, wo nur noch Umverteilung das Gebot der krisenhaften Stunde zu sein scheint. Wer die ganzen Subsidien erwirtschaften soll, ist da erstmal egal. Nach dem grassierenden Öko-Populismus gibt man sich nunmehr verstärkt dem Sozial-Populismus hin in der Hoffnung, damit die nächsten Wahlen doch noch irgendwie halbwegs unbeschadet zu überstehen. Nach dem Motto: Augen zu und durch.

Dieses Nichtwahrhabenwollen eines strukturbedingten Abdriftens des Industriestandorts Deutschland (und der damit immer poröser werdende soziale Kitt) erweist sich dabei als eine Form der Realitätsverleugnung, die derzeit sogar noch bei großen Bevölkerungsschichten verfängt. Sagt zumindest Russwurm, wenn er diesen schleichenden Prozess der Deindustrialisierung als „im allgemeinen Bewusstsein noch gar nicht angekommen“ bezeichnet. Das Problem ist nur: Wenn das allgemeine Bewusstsein für die verlorengegangene Wettbewerbsfähigkeit irgendwann und unausweichlich eben doch vorhanden ist, lässt sich diese Entwicklung kaum noch umkehren. Da kann Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck noch so dramatisch zu „Standortpatriotismus“ aufrufen: Die Unternehmen folgen ihrer ökonomischen Ratio, weil alles andere schlicht unvernünftig und existenzbedrohend wäre.

Wer also als Politiker Standortpatriotismus einfordert, sollte am besten damit anfangen, die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Denn alles andere ist nur hohles Geschwätz.

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