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() Fredmund Malik
Seid liberal, nicht neoliberal

Echter Kapitalismus schafft Wohlstand durch Investitionen. Wir aber leben in einem zerstörerischen Pekuniarismus.

Die Debatte über die richtige Art des Wirtschaftens in Deutschland ist überfällig. Führt man sie aber als populistische Kapitalismusattacke, dann bewegt man sich in wirtschaftlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts und in politischen Kategorien von Links und Rechts. Beides ist untauglich, ein Problem des 21. Jahrhunderts zu lösen. Tatsächlich ist das, was wir haben, kein Kapitalismus, sondern etwas Schlimmeres. Der Kapitalismus würde, bei allen Schwächen, durch Investitionen Kapital schaffen und damit die Voraussetzungen für Wohlstand. In Wahrheit ist in den vergangenen zehn Jahren aber Kapital in noch nie erlebtem Ausmaß vernichtet worden, im scheinbar beispielgebenden US-Amerika, das heute die niedrigste Nettoinvestitionsquote seit dem Zweiten Weltkrieg hat. Die eigentlichen Probleme sind der Neoliberalismus und die in dessen Kontext entstandene Art der Unternehmensführung: die am Shareholder Value orientierte Corporate Governance. Was sich unter dem Namen „Neoliberalismus“ präsentiert, ist kein Kapitalismus, sondern ein primitiver Geldökonomismus. Ein System, in dem alles auf eine einzige Kategorie, nämlich Geld, reduziert wird, in Geld wahrgenommen und Geld bewertet wird. Geld, nicht Kapital, dominiert Denken und Handeln. Man könnte zwecks Unterscheidung vom Friedmanschen Monetarismus von Pekuniarismus sprechen. Dieses System wird zu Recht kritisiert. Es kann keinen Bestand haben. Unternehmervertreter sollten aufhören, ein Wirtschafen zu verteidigen, das sie selbst gar nicht betreiben, sondern das sie in höchstem Maße gefährdet. Das jüngste Beispiel ist die Posse um die deutsche Börse. Es ist schlichtweg ein Märchen, dass, was immer unter Globalisierung verstanden werden soll, zu dieser Art des Wirtschaftens zwinge. Zu kritisieren ist der falsche Liberalismus, der unter dem Etikett des Neoliberalismus als bestes aller denkbaren Systeme verbreitet wurde. Jetzt riskiert die Kapitalismuskritik genau jene Elemente des echten Liberalismus zu zerstören, die für eine funktionierende Gesellschaft unabdingbar sind, nachdem der Sozialismus sich als untauglich erwiesen hat. Der heutige Neoliberalismus ist insgesamt ein Zerrbild des echten Liberalismus, das keiner der großen liberalen Denker akzeptiert hätte. Echter Liberalismus ist nicht Theorie der Wirtschaft, sondern eine Theorie der Gesellschaft. Er stellt die Wirtschaft explizit in den Dienst der Gesellschaft, aber auf eine andere Weise als der Sozialismus. Für den echten Liberalismus, zum Beispiel eines Friedrich August von Hayek, der wie kaum ein anderer als Kronzeuge für den Neoliberalismus missbraucht wurde, steht nicht ökonomischer Gewinn im Zentrum, sondern die Freiheit des Einzelnen. Kein echter Liberaler hat jemals Individualismus mit Egoismus verwechselt. Der Verhaltenskrüppel der Wirtschaftswissenschaften, der Homo Oeconomicus, wurde erst lange nach Adam Smith geboren. In dessen Werk ist er, entgegen allen unausrottbaren Legenden, jedenfalls nicht zu finden. Aber wer hat schon Adam Smith gelesen, gar im Original? Echter Liberalismus verlangt nicht, dass alle Ziele der Wirtschaft unterstellt werden sollen. Niemand hat deutlicher als Friedrich von Hayek gesagt, dass letztlich alle Ziele nicht-ökonomischer Natur seien. Viele einflussreiche Gegner, zum Beispiel Künstler und Intellektuelle, aber auch viele junge Menschen, könnten für ein freies Wirtschaftssystem gewonnen werden, wenn man von ihnen nicht verlangte, alles rein ökonomischer Ratio unterzuordnen. Was der Liberalismus aber verlangt, ist, dass jeder für seine Handlungen einzustehen hat. Das muss auch für Manager gelten. Zu viele versagen genau hier. Zahlreiche wichtige Positionen des echten Liberalismus werden im heutigen Neoliberalismus ins Gegenteil verkehrt. Es ist falsch, den Menschen zu predigen, dass die Marktwirtschaft ein wundervolles System sei. Die großen Liberalen waren sich darüber im Klaren, dass die Marktwirtschaft ein schlechtes System ist. Das ist es ja auch, was der täglichen Erfahrung der meisten Menschen entspricht. Sie erleben den Markt als brutal, unbarmherzig, unmenschlich und als das Gegenteil dessen, was sie in ihrem Alltagsverständnis als gerecht empfinden. Die liberalen Denker haben die Marktwirtschaft zwar verteidigt, aber nicht gepriesen. Sie wussten, dass sie schlecht und ineffizient ist. Sie wussten aber auch, dass alle anderen Systeme noch viel schlechter und ineffizienter sind. Der Markt ist zwar unverzichtbar, aber limitiert in seiner Funktionsweise. Es ist naiv zu sagen, der Markt werde schon alles richten. Er führt keine wirtschaftliche Leistung herbei; er verhindert keine Fehler, sondern bestraft sie, nachdem sie passiert sind; er korrigiert sie auch nicht in einem gebräuchlichen Sinne des Wortes, sondern er mobilisiert die Leichenbestatter, wenn der Patient tot ist. Das sind zu krude Methoden. Daher ist richtiges und gutes Management nötig, um die Schwächen des Marktes zu kompensieren. Eine Gesellschaft steht und fällt mit der Qualität des Managements ihrer Institutionen. Management – ob man es be-grüßt oder beklagt – ist die wichtigste gestaltende und lenkende Kraft in einer komplexen Gesellschaft. Es ist die Transformation von Ressourcen, vor allem Wissen, in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen. Wer eine Gesellschaft ruinieren will, zerstört ihr Management. Die Kapitalismuskritik potenziert den Ruf nach wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Reformen. Auch diese sind nötig, aber nicht erfolgsentscheidend. Die wirkliche Ursache der heutigen Misere sind Managementvorstellungen, die in den neunziger Jahren im falschen Glauben an die Überlegenheit der US-Wirtschaft von dort importiert wurden. Die am Shareholder Value orientierte Corporate Governance galt und gilt noch immer als das Nonplusultra des Fortschritts in Unternehmensführung. Eingetreten ist das Gegenteil. Kein einziges der Versprechen dieser Doktrin wurde eingelöst. Es kam nicht zu Transparenz, wirtschaftlicher Leistungskraft und Wertsteigerung, sondern zu den größten Betrugsskandalen der Geschichte an den Aktionären, zur größten Kapitalvernichtung und zu den schlechtest geführten Unternehmungen, zu den historisch raffiniertesten Bilanzfälschungen und zur schlimmsten Sorte von Wirtschaftskriminalität. Als Reaktion darauf sind im Zeitalter der Deregulierung die monströsesten Regulierungswerke der Geschichte, wie der Sarbanes-Oxley-Act entstanden. Shareholder Value und Wertsteigerung haben zu einer der größten Fehlentwicklungen der Wirtschaft geführt, zur Fehlallokation von Ressourcen, zu Innovations- und Investititionsfeindlichkeit und zur systematischen Fehlleitung der Unternehmensführung. Die heutige Corporate Governance resultiert aus der falschen Frage, in wessen Interesse ein Unternehmen geführt werden soll. Als Antwort zählt das Interesse der Aktionäre und neuerdings, weil Zweifel aufkommen, das Interesse der Stakeholder. Beides ist falsch. Es ist falsch in dem Sinne, als eine derart ausgerichtete Unternehmensführung aus eigener Überzeugung, oder gezwungen durch Publikumserwartungen und den Terror der Finanzanalysten, millionenfach verstärkt durch die Medien, systematisch falsche Entscheidungen trifft. Die zum Teil wortreich als Reform gepriesene Stakeholder-Orientierung ist, wie viele nicht zu wissen scheinen, der gescheiterte Vorläufer des Shareholder-Ansatzes – eine schlechte Empfehlung für Reformen. In der Bipolarität von Shareholder- und Stakeholder-Ansatz wurde die dritte Möglichkeit bisher übersehen. Diese ist das einfache Erfolgsgeheimnis aller gut geführten Firmen, nämlich das Unternehmen selbst und nicht irgendwelche Interessengruppen zum Referenzpunkt zu machen. Was gut für das Unternehmen ist, kann für seine Aktionäre und sonstigen Stakeholder nicht falsch sein. Umgekehrt ergibt sich aber keine Logik. Die richtige Frage, jene, die die größte Wahrscheinlichkeit mit sich bringt, mehr richtige als falsche Entscheidungen zu treffen, muss somit lauten: Was ist ein starkes, gesundes Unternehmen und was ist zu tun, damit es das wird und bleibt? Als logische Konsequenz muss der Kunde in das Zentrum aller Unternehmenstätigkeit gestellt werden. Der Zweck eines Unternehmens ist die Schaffung zufriedener Kunden. Wer Kunden hat, hat immer auch Aktionäre, und er kann bestmöglich auch weitere Interessen befriedigen. Damit löst sich ein anderes Problem, wenn auch nicht in erwarteter Weise. Es kann nicht Zweck eines Unternehmens sein, Arbeitsplätze zu schaffen. Kundenzufriedenheit muss Vorrang haben vor Aktionären und Arbeitnehmern, selbstverständlich auch vor Managern, die ihrerseits Arbeitnehmer sind, auch wenn sie noch so komfortable Einkommensarrangements haben mögen. Kundenzufriedenheit orientiert sich am Konkurrenzangebot. Somit ist nicht Shareholder Value, sondern Customer Value entscheidend; und nicht Wertsteigerung, sondern Wettbewerbsfähigkeit. Das ist die logisch ebenso zwingende wie praktisch schwierig zu realisierende Wahrheit des Wirtschaftens und der Führung eines Unternehmens. Kundennutzen und Konkurrenzfähigkeit sind die einzigen objektiven, nichtmanipulierbaren Maßstäbe. Alle erfolgreichen Unternehmer und auch die kompetenten Manager wissen das. Aber sie müssen auch die Zivilcourage haben, dafür öffentlich einzutreten. Sie müssen wissen, dass sie sich immer in der Öffentlichkeit bewegen, auch wenn sie Privatfirmen führen. Sie sind sichtbar und sie prägen das öffentliche Bild der Wirtschaft, ob sie es wollen oder nicht. Eine wirtschaftsfeindliche Umgebung ist kein gutes Umfeld für prosperierende Unternehmen. Wer dies nicht versteht und es nicht genauso ernst nimmt wie Währungskurse oder Rohstoffpreise, wird für sein Unternehmen zum Risiko. Und damit auch für die Gesellschaft, die ihn trägt.

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