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Optimales statt maximales Wachstum

Muss die Wirtschaft wachsen, damit wir in Wohlstand leben können? Seit der Finanzkrise wird diese Frage wieder intensiv gestellt. Schlagworte wie „Besser statt mehr“ oder „Wohlstand ohne Wachstum“ kursieren auf aktuellen Buchtiteln und Konferenzeinladungen. Auf den ersten Blick erscheint das Thema in Zeiten der Kurzarbeit und rasant steigender Staatsschulden absurd. Was, wenn nicht möglichst hohes Wachstum, soll die Überwindung dieser Probleme ermöglichen? Doch auf den zweiten Blick zeigt sich seine hohe Relevanz, gerade jetzt: 1. Aus ökonomischer Perspektive, weil die von den USA ausgegangene Finanz- und Wirtschaftskrise auch als Konsequenz einer Wirtschafts- und Geldpolitik interpretiert werden kann, die mit zweifelhaften Mitteln auf kurzfristige Wachstumsmaximierung gesetzt hat. 2. Aus ökologischer Perspektive, weil trotz aller Nachhaltigkeitsrhetorik und unbestrittener Fortschritte bei der Energie- und Materialeffizienz die großen Herausforderungen im Konflikt von Wirtschaft und Natur nach wie vor ungelöst sind. Ökonomen tun sich oft schwer mit überzeugenden Antworten auf kritische Wachstumsfragen. Als soziale Leitwissenschaft hat ihre Disziplin an beiden Entwicklungen, der Wachstumsfixierung wie der Naturvergessenheit, einen historisch nachvollziehbaren, aus heutiger Sicht aber problematischen Anteil. Das zeigt der Blick auf zwei Konzepte von zentraler Bedeutung, die Produktionsfunktion und das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Produktionsfunktion ist die Basisformel der Volkswirtschaftslehre, sie beschreibt die Entstehung des Sozialprodukts durch die Kombination verschiedener Produktionsfaktoren. Die heute gängige Lehrbuchvariante wurde 1956 vom US-Ökonomen Robert Solow vorgestellt. Auf der rechten Seite der Gleichung verknüpft sie Arbeit, Kapital und technischen Fortschritt. Weil Letzterer beliebig gesteigert werden kann, erscheinen alle Grenzen des Wachstums obsolet – wenn nur genug erforscht und erfunden wird. Doch diese Formel verstößt gegen Einsteins klugen Rat an die Theoretiker aller Disziplinen: „Mache die Dinge so einfach wie möglich, aber nicht einfacher.“ Denn es fehlt ein Produktionsfaktor, der die natürliche Begrenzung allen Wirtschaftens auf einem endlichen Planeten zum Ausdruck bringt. Das war am Anfang des ökonomischen Denkens noch anders. Der französische Ökonom François Quesnay (1694 bis 1774) erkannte den Boden als zentralen Produktionsfaktor und „einzige Quelle des Wohlstands“ und bezog sich dabei auf das Werk „Oikonomikos“ von Xenophon (426 bis 355 v. Chr.) Doch im Zuge der industriellen Revolution geriet der Fakor Boden in den Hintergrund und wurde fortan im Produktionsfaktor Kapital subsumiert. Aktuelle empirische Forschungen belegen jedoch, dass der Sammelfaktor Kapital zu weit gefasst ist und Energie als zusätzlicher Faktor in die Produktionsfunktion gehört. Auch für Ökonomen gilt eben das zweite Gesetz der Thermodynamik: Weil es kein Perpetuum mobile geben kann, gibt es auch keine Produktion ohne Energie. Da Strom aber entweder durch die Nutzung endlicher Ressourcen erzeugt wird oder durch erneuerbare Energien, die mit einem hohen Flächenverbrauch einhergehen, steht der Faktor Energie als pars pro toto für die Grenzen der Natur. Auch das Bruttoinlandsprodukt braucht im 21. Jahrhundert ein Update. Am BIP, das in den USA entwickelt und 1942 erstmals veröffentlicht wurde, wäre nichts auszusetzen, würde es nur als das betrachtet, was es ist: der Marktwerkt aller innerhalb eines Jahres im Inland für den Endgebrauch produzierten Güter und Dienstleistungen. Vereinfacht ausgedrückt: Das BIP misst den Umsatz einer Volkswirtschaft. Die Unternehmen haben inzwischen gelernt, dass für ihr Wohlergehen nicht der Umsatz entscheidend ist, sondern der Gewinn, also die Differenz aus Umsatz und Kosten. Auf volkswirtschaftlicher Ebene steht dieser Lernprozess noch aus. Dabei muss das BIP nicht ersetzt werden. Auch die Unternehmen weisen ja nach wie vor ihren Umsatz aus – als Kennzahl der Geschäftstätigkeit und als Zwischenschritt zur Gewinnermittlung. So sollten es Staaten auch halten und vom BIP die Ersatzinvestitionen abziehen sowie ökologische und soziale Korrekturfaktoren berücksichtigen. Ein so berechnetes Maß des wirtschaftlichen Wohlergehens könnte die Rolle des politischen Leitindikators übernehmen. Vorschläge wie der von Hans Diefenbacher und Roland Zieschank entwickelte Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) zeigen die Machbarkeit, aber auch zahlreiche Mess- und Bewertungsprobleme. Doch hier gilt das Prinzip des Philosophen Carveth Read: „Ungefähr richtig ist besser als exakt falsch.“ Beide Revisionen, eine erweiterte Produktionsfunktion ebenso wie ein neuer Wohlfahrtsindex, führen zur gleichen Konsequenz: Weil der nachhaltige Energieverbrauch sich nicht beliebig steigern lässt und die Kosten des Wachstums früher oder später zu Wohlfahrtsverlusten führen, ist ein simples „Mehr“ kein zukunftsfähiges Konzept. Wir stehen vor einem mehrdimensionalen Optimierungs-, nicht vor einem eindimensionalen Maximierungsproblem. Der erste Schritt zu seiner Lösung liegt darin, es als solches zu erkennen.

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