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Mindestlohn - „Selbstständige werden ausgeklammert“

Der Mindestlohn wird die Armut in Deutschland nicht bekämpfen, sagt Volkswirt Karl Brenke. Selbstständige bleiben außen vor. Dabei erzielt jeder dritte Freiberufler ein Einkommen unter der Niedriglohngrenze

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Karl Brenke ist Vorstandsmitglied am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, wo er den Arbeitsbereich Konjunkturanalyse und –prognose leitet. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Mindestlohn

Cicero Online: Nach Plänen der Großen Koalition soll in Deutschland künftig eine Kommission aus Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Experten jährlich über die Höhe eines Mindestlohns entscheiden. Was muss die Kommission dabei konkret beachten?
Karl Brenke: Ich glaube, die Beschlüsse bei den Koalitionsverhandlungen laufen darauf hinaus, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt wird. Offen ist dann bloß noch, ob man eine Übergangszeit lässt. Deshalb kann eine Kommission, wenn sie denn gebildet wird, eigentlich recht wenig tun. Maßgeblich sind die Entscheidungen der Politik.

Wie sind denn die Erfahrungen in jenen Branchen, in denen es bereits Lohnuntergrenzen gibt?
In der Bauwirtschaft, der Leiharbeit und der Gebäudereinigung haben die tariflich vereinbarten Mindestlöhne auch immer die Funktion gehabt, die Arbeitgeber vor Konkurrenz zu schützen. Und zwar jener Konkurrenz, die durch die EU-Öffnung aus Osteuropa drohte. Deswegen wäre es wichtig, nicht nur Politiker und Tarifpartner, sondern auch unabhängige Experten in ein solches Gremium zu entsenden.

Und waren die bisher freiwillig eingeführten Mindestlöhne wirkungsvoll?
Es hat schon so weit funktioniert, aber es gab auch immer wieder Zwist. So hat die Deutsche Post einen sehr hohen Mindestlohn festgesetzt, um sich die Konkurrenz vom Hals zu halten. Ein weiteres Problem bei Mindestlöhnen ist: Inwieweit halten sich die Arbeitgeber daran? In der Bauwirtschaft etwa, wo es schon seit Mitte der 90er Jahre Mindestlöhne gibt, versuchen Unternehmer immer wieder, diese Regelung zu unterlaufen. Formal wird zwar ein Mindestlohn gezahlt. Aber die Arbeitszeit wird dann eben nicht auf 60 Minuten die Stunde festgesetzt, sondern auf 70 oder 80.

Das ist strafbar.
Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Manch einer wird sicherlich versuchen, sich auf diesem Weg Wettbewerbsvorteile zu sichern.

Wie sollte der Mindestlohn konkret ausgestaltet werden, um genau das zu vermeiden?

Ein solches Gesetz muss gut vorbereitet sein. Man muss einerseits dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden. In den USA gibt es dafür spezielle Kontrollinstanzen. Die Arbeitgeber sind aufgefordert, die Arbeitszeiten genau zu dokumentieren. Wann beginnt die Arbeit, wann endet sie? Gibt es Sonderfälle wie Urlaub oder Krankheit? Das muss alles überprüfbar sein. Das ist natürlich mit erheblicher Bürokratie verbunden. Insofern schafft der Mindestlohn gewiss Arbeitsplätze: bei den Kontrollinstanzen.
Die andere Frage ist: Wie gehe ich mit Arbeitsverhältnissen um, bei denen nicht nach Stunden, sondern nach Stücklohn bezahlt wird? Nehmen Sie die Zeitungszusteller: Die bekommen ihren Lohn nicht nach der Dauer des Austragens, sondern nach der Anzahl der ausgetragenen Zeitungen. Taxifahrer erhalten eine Umsatzbeteiligung. Hier bedarf es spezieller Regeln.

Was ist mit den Werkverträgen?
Natürlich ist zu erwarten, dass Mindestlöhne derart unterlaufen werden, dass vermehrt Werkverträge abgeschlossen werden. Aus sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen könnten auch vermehrt Minijobs werden. Die sind für den Arbeitgeber kostengünstiger.

Auch Praktikanten sollen jetzt 8,50 Euro Mindestlohn erhalten. Wie wirkt sich das konkret aus?
Das ist schwierig einzuschätzen. Mitunter enthalten Praktika wenige berufsqualifizierende Elemente. Sie sind dann billige Arbeitskräfte. Andererseits ist es etwa im Medienbereich vielfach so, dass Praktikanten sinnvolle Tätigkeiten verrichten und sich bei der Ausübung auch selbst qualifizieren. Hier droht die Mindestlohnregelung dazu zu führen, dass künftig weniger Praktikanten eingestellt werden.

In der EU haben 20 von 27 Staaten den Mindestlohn bereits eingeführt. Hat sich das als vorteilhaft erwiesen?
Es gibt eine ganze Reihe von Studien über die Wirkung von Mindestlöhnen – und es kommen immer wieder neue dazu. Die meisten kommen zu dem Befund, dass Mindestlöhne unterm Strich Arbeitsplätze kosten werden. Oft liegen diesen Studien jedoch problematische Annahmen und Schätzgrößen zugrunde. Die Vielfalt der ökonomischen Wechselwirkungen, die mit Mindestlohnregelungen einhergehen, kann man einfach nicht genau abschätzen. Deswegen wäre es verwegen zu sagen, Mindestlöhne haben beschäftigungsschädigende oder eindeutig positive Wirkungen.

Wo bleiben die Selbstständigen? Viele freischaffende Friseure arbeiten am Existenzminimum.
Das ist ein Problem. Die Zahl der Solo-Selbstständigen oder Freiberufler, die an Werkverträge gebunden sind, hat enorm zugenommen: Es sind mittlerweile 2,5 Millionen. Mitte der neunziger Jahre waren es eine Million weniger. Darunter sind auch sehr, sehr viele Kümmerexistenzen. Der Anteil der Geringverdiener unter den Selbstständigen ist sogar noch höher als der Durchschnitt. Rund ein Drittel der Selbstständigen erzielt ein Einkommen unter der Niedriglohngrenze der Arbeitnehmer. Zudem haben wir eine stetig wachsende Zahl an Personen, die ihr selbstständiges Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssen. Dabei war das Arbeitslosengeld II gar nicht für diese Gruppe gedacht.

Kann man die Selbstständigen in eine solche Regelung integrieren? Etwa über ein Mindestauftragsvolumen oder dergleichen?

Nein, der Staat kann keine Untergrenze an Aufträgen garantieren. Die Selbstständigen werden aus Mindestlohn-Regelungen ausgeklammert.

Sollte man mit Blick auf diese Entwicklung überlegen, ob man Startups oder winzige Firmen schont, deren Gründer sich schon jetzt an der Grenze der Selbstausbeutung befinden, die aber gern jemanden einstellen würden?
In der Tat ist es so, dass geringe Löhne gerade von kleineren Unternehmen gezahlt werden. Hier wäre eine Regelung vielleicht hilfreich.
Überhaupt sollte man bei den Koalitionsvereinbarungen nach bestimmten Personengruppen differenzieren. Mit Blick auf Berufseinsteiger sollte man den Mindestlohn für Jüngere tiefer ansetzen. Mir wäre auch wichtig, dass man regional unterscheidet. Besonders im Osten, wo ein Viertel der Arbeitnehmer unter 8,50 Euro die Stunde bekommt, können Mindestlöhne besonders problematisch sein. Differenzierung kennt man auch aus anderen Ländern: In Großbritannien erhalten jüngere Arbeitnehmer weniger; und in den US-Küstenstaaten gelten höhere Mindestlöhne als im Mittleren Westen.
Andererseits, wenn man zu sehr differenziert, macht man das System zu kompliziert. Dann öffnet man Einfallstore, um die Mindestlohnregelung zu seinen Gunsten auszulegen.

Solche Schlupflöcher kennt man jetzt schon bei den Subventionen...
Genau. Oder bei den regulären Tarifverhandlungen: Große Versandhäuser wie Amazon sagen, wir sind eigentlich gar kein Versandhaus, sondern ein Logistikbetrieb. So wollen sie den Tarifvertrag für den Versandhandel umgehen.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rät zu einem gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Wäre das nicht auch eine Methode, um die Unterschiede durch den enormen Exportüberschuss auszugleichen?
Die OECD kennt sich mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in Deutschland recht wenig aus. Außerdem trifft die Einführung von Mindestlöhnen gewiss nicht die exportabhängigen Sektoren. Das sind vor allem Industriebetriebe – und dort werden bereits deutlich höhere Löhne gezahlt als 8,50 Euro. Von Mindestlöhnen sind vor allem diejenigen Sektoren betroffen, die auf den Binnenmarkt ausgerichtet sind. Das sind die konsumnahen Bereiche: das Gastgewerbe, Friseure, Reinigungsbetriebe. Und die stehen nicht im internationalen Wettbewerb.

Herr Brenke, vielen Dank für das Gespräch.

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