Lieferketten auf dem Prüfstand - „Bei kritischen Rohstoffen ist die Abhängigkeit von China enorm“

Fast die Hälfte der deutschen Industriefirmen ist derzeit auf wichtige Zulieferungen aus China angewiesen. Viele wollen diese Abhängigkeit verringern. Das hat ifo-Forscherin Lisandra Flach herausgefunden. Im Cicero-Interview erklärt die Ökonomin die Hintergründe und warnt Deutschland vor einem Rückzug aus der Globalisierung.

Viele deutsche Unternehmen wollen ihre Importe aus China verringern: Container-Umschlag am Nordbahnhof von Changsha / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Lisandra Flach ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet das Zentrum für Außenwirtschaft des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.

Frau Flach, beim Gasimport merkt Deutschland gerade, wie gefährlich wirtschaftliche Abhängigkeit sein kann. Viel umfangreicher als mit Russland sind unsere Handelsbeziehungen aber mit China. Welche Gefahr liegt darin?

Bei Russland liegen die Abhängigkeiten nur im Energiesektor: Gas, Öl und Kohle. Ansonsten sind die Verflechtungen mit Russland im internationalen Vergleich eher unbedeutend. Nur zwei Prozent des deutschen Außenhandels werden mit Russland abgewickelt. Mit China ist es etwas anderes. Beim Güterhandel ist China unser Hauptpartner. Und auch bei Zwischenleistungen für die Produktion von Endprodukten in Deutschland ist China neben den USA der wichtigste Zulieferer unserer Industrie.

Sie meinen so etwas wie Elektronik-Bauteile für Autos?

Zum Beispiel. Aber auch Rohstoffe zählen dazu. Und die sind das Hauptproblem. Bei Industriegütern ist die Abhängigkeit von China geringer als man denkt. Nur drei Prozent der kritischen Industriegüter, die Hersteller in der EU benötigen, kommen aus China. Aber bei kritischen Rohstoffen, die wir für bestimmte Schlüsseltechnologien wie Elektromotoren und Windkraftanlagen brauchen, sind es bis zu 60 Prozent. Da ist die Abhängigkeit von China enorm.

Sie haben aktuell eine Umfrage unter deutschen Unternehmen gemacht. Überraschend viele gaben dabei an, ihre Importe aus China verringern zu wollen.

Ökonomin Lisandra Flach

Ja. Fast die Hälfte der Unternehmen sagte, dass sie wichtige Vorleistungen aus China beziehen. Und davon wiederum die Hälfte will diese Importe reduzieren. Das ist tatsächlich sehr viel. Aber überraschend ist es nicht, sondern nachvollziehbar. Die Unternehmen wollen Abhängigkeiten vermeiden und ihre Lieferkette stärker diversifizieren. Das ist auch eine Folge der Corona-Krise, während der es zu großen Logistikproblemen kam. Die Frachtkosten sind massiv gestiegen, und der Transport war gestört.

Ist das der Anfang vom Ende der Globalisierung?

Diese Frage wurde zu Beginn der Corona-Pandemie gestellt. Aber schon 2021 waren wir beim Außenhandel auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie. Und nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts sind die deutschen Exporte auf Rekordniveau. Das heißt: Wir handeln aktuell sogar mehr als vor der Corona-Krise. Von einem Rückzug aus der Globalisierung kann daher nicht die Rede sein. Das ist auch gut. Denn er hätte enorme negative Folgen für die deutsche Wirtschaft. Laut unseren Modellrechnungen würde das Bruttoinlandsprodukt um fast zehn Prozent sinken. Wir wären dann deutlich ärmer.

Ein Produkt, bei dem es zu Beginn der Pandemie Probleme gab, waren Schutzmasken. Daraufhin wurde die Produktion zurück nach Deutschland geholt.

Bei kritischen Gütern, die eine starke Abhängigkeit von einzelnen Zulieferern aufweisen, empfiehlt sich eine stärkere Diversifizierung oder teilweise die heimische Produktion. Nur bei sehr wenigen Gütern lohnt es sich, sie langfristig in Deutschland zu produzieren. Bei bestimmten Medikamenten oder Schutzmasken vielleicht. Aber das sind Einzelbeispiele. Insgesamt setzen Unternehmen weiterhin auf globale Lieferketten. Allerdings überdenken sie ihre Lieferketten. Wir haben letztes Jahr eine Umfrage durchgeführt. Da haben 40 Prozent der Industrieunternehmen gesagt, dass sie in Zukunft ihre Beschaffungsstrategie ändern wollen. Ihnen geht es dabei vor allem um eine stärkere Diversifizierung, eine größere Lagerhaltung und eine bessere Überwachung der Lieferkette. Nur wenige Unternehmen sagen, dass sie die Produktion nach Deutschland zurückholen wollen. Denn sie würden dadurch sehr stark an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.

Wie kann eine stärkere Diversifizierung der Lieferkette, also eine geringere Abhängigkeit von einzelnen Ländern, erreicht werden?

Ein Weg wäre, dass die EU weitere Handelsabkommen abschließt. Dadurch sinken die Handelskosten für Unternehmen, und sie haben dadurch mehr Anreize, mit weiteren Ländern Handel zu treiben. Ein Beispiel ist das schon fertig verhandelte Abkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Das sind Zulieferer von wichtigen Rohstoffen.

Finanzminister Christian Lindner hat ins Gespräch gebracht, das gescheiterte TTIP-Abkommen mit den USA neu in Angriff zu nehmen. Was halten Sie davon?

Ein transatlantisches Handelsabkommen wäre jetzt ökonomisch sehr hilfreich. Auch als Signal. Denn China hat im Jahr 2020 das größte Handelsabkommen der Welt abgeschlossen, mit Ländern in Asien. Und die EU kommt mit dem Thema Außenhandel seit Jahren nicht voran. Deshalb wäre so ein Signal sehr wichtig. Aber realistisch gesehen halte ich es eher für unwahrscheinlich, dass das TTIP-Abkommen abgeschlossen wird. US-Präsident Joe Biden verfolgt, wie sein Vorgänger Donald Trump, eine eher protektionistische Agenda. Es würde sehr viel politisches Kapital kosten, das Abkommen wieder zu beleben. Aber es gibt weitere Länder, mit denen Deutschland und die EU vorankommen könnten.

Sehen Sie die Gefahr, dass auch in Deutschland und der EU der Hang zu protektionistischer Politik überhandnimmt?

Wir beobachten schon seit Jahren einen Anstieg der protektionistischen Maßnahmen. Der Protektionismus ist auf dem Vormarsch. Das ist keine gute Entwicklung. Denn Deutschland hätte extrem viel zu verlieren. Aber nicht nur wir. Wenn wir zurück auf das Beispiel China kommen, ist es sehr wichtig zu betonen, dass die Abhängigkeiten wechselseitig sind. Die EU ist der wichtigste Zulieferer von Vorleistungen nach China. Mit diesen gegenseitigen Abhängigkeiten sinkt der Anreiz, einen Handelskrieg zu beginnen. Denn China hätte mindestens so viel zu verlieren wie wir.

Das Gespräch führte Daniel Gräber.

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