Deutscher Irrweg - „Mit der Energiewende haben wir uns vom Gas abhängig gemacht“

Noch mehr Windkraft- und Solaranlagen bauen, und zwar im Rekordtempo. Darin sieht die Bundesregierung den Ausweg aus der aktuellen Gaskrise. Doch Michael Beckmann, Energietechnik-Professor der TU Dresden, warnt: Damit setze Deutschland genau den Weg fort, der uns in die Abhängigkeit von Russland geführt habe. Er fordert eine offene Diskussion über die Probleme der Erneuerbaren und sagt: „Mit fluktuierenden Energien allein lässt sich keine Industrienation betreiben.“

„Wenn kaum Wind weht und die Windräder still stehen, dann nützt es auch nichts, wenn Sie doppelt so viele Windräder haben“, mahnt Energietechnik-Professor Michael Beckmann / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Michael Beckmann ist Professor für Energieverfahrenstechnik an der Technischen Universität Dresden. 

Herr Professor Beckmann, den Kollegen der Welt haben Sie neulich gesagt, die Gasversorgung aus Russland habe die Probleme der Energiewende nur verschleiert. Sie wären ohne die Erdgaskrise später offenbar geworden. Was meinen Sie damit? 

Wir haben in den vergangenen zehn Jahren gesicherte Leistung abgeschaltet – Braunkohle, Steinkohle, Kernenergie –  und haben das durch den Ausbau regenerativer Energieträger, vor allem Wind und Sonne, zu kompensieren versucht. Da diese aber fluktuierend sind, also keine gesicherte Leistung liefern, haben wir das durch Gaskraftwerke ausgeglichen. Das war auch der Plan der neuen Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag ist von zusätzlichen Gaskraftwerken die Rede, Szenarien sehen etwa 40 Gigawatt vor. Mit der bis jetzt vollzogenen Energiewende haben wir uns vom Energieträger Gas abhängig gemacht. Das wäre in den kommenden Jahren ohnehin sichtbar geworden, wenn weitere Kraftwerke abgeschaltet worden wären.

Erklären Sie uns bitte, was gesicherte Leistung bedeutet und warum sie so wichtig ist. 

Wir brauchen in Deutschland je nach Tageszeit zwischen 40 und 70 Gigawatt elektrische Energie. In der Nacht geht der Strombedarf herunter, die Spitzen sind tagsüber. Dieser Bedarf muss sekündlich gedeckt werden. Parallel dazu muss die Erzeugung stehen und zwar punktgenau. Wenn der Bedarf sinkt, muss auch die Erzeugung nach unten gehen und umgekehrt. Dazu braucht man gesicherte Leistung, die jederzeit abgerufen werden kann. Bei Wind- und Solarenergie sind wir auf äußere Bedingungen angewiesen. Je nachdem, wieviel Wind weht und Sonne scheint, haben wir mehr oder weniger Einspeisung in das Netz. Das muss ausgeglichen werden. In Deutschland können das auf absehbare Zeit nur Kohle-, Gas- und Kernkraftwerke leisten. Wenn wir, wie ursprünglich beabsichtigt, aus zweien dieser drei Energieträger aussteigen, machen wir uns von einem abhängig.

Aus der Bundesregierung hört man hingegen, der schleppende Ausbau von Windkraft und Solarstrom sei das Problem. Wir müssten jetzt noch stärker auf Erneuerbare setzen.

Das ist aus meiner Sicht eine unrichtige Aussage. Denn wir müssen über gesicherte Leistung sprechen. Der Ausbau von Wind- und Sonnenenergie allein liefert keine gesicherte Leistung. Wenn kaum Wind weht und die Windräder still stehen, dann nützt es auch nichts, wenn Sie doppelt so viele Windräder haben. Denn Sie können damit die Leistung, die Sie benötigen, nicht abrufen. Das ist das Problem an den Erneuerbaren. 

Ein Ausweg wären Speicher für elektrische Energie. 

Michael Beckmann

Das ist genau der Punkt, auf den wir Energietechniker schon seit mehr als zehn Jahren hinweisen. Mit fluktuierenden Energien allein lässt sich keine Industrienation betreiben. Wir brauchen eine zuverlässige Energieversorgung. Wenn wir auf Photovoltaik und Windkraft setzen, brauchen wir auch noch Speicher. Und zwar solche mit einer hohen Energiespeicherdichte. Das sind insbesondere chemische Energieträger wie Wasserstoff oder Methan. Mit Batteriespeichern werden wir die benötigte Kapazität nicht erreichen. Zum Vergleich: Australien hat die größten Batterien weltweit – mit 150 Megawatt und rund 200 Megawattstunden. Aber wir brauchen Speicher im Gigawattbereich, also das Tausendfache.

Um es anschaulicher zu machen: Wie lange würden die australischen Batteriespeicher ausreichen, um Deutschland während einer Dunkelflaute mit Strom zu versorgen?
 
Weniger als eine Minute. 

Und dann kommt der Blackout?

Das Blackout-Szenario will ich nicht an die Wand malen. Natürlich steigt die Gefahr, aber ich denke, dass es eher in Richtung von sogenannten Brownouts geht. Das bedeutet: Man wird, wenn man die Leistung nicht mehr gesichert erbringen kann, bestimmte Bereiche innerhalb der Bundesrepublik kurzzeitig vom Netz nehmen müssen. Das geschieht jetzt schon mit Industriebetrieben. Mit der energieintensiven Industrie gibt es entsprechende Verträge, dass bestimmte Betriebe vom Netz genommen werden können, um etwas Entlastung schaffen. 

Ob Brownout oder Blackout: Für die Betroffenen macht das doch keinen Unterschied. Wenn der Strom weg ist, ist er weg. 

Das ist ein gewaltiger Unterschied. Denn bei einer gezielten Abschaltung einzelner Regionen ist das restliche Netz noch stabil. Und wenn wieder ausreichend Leistung vorhanden ist, kann das abgeschaltete Netzgebiet relativ unproblematisch zugeschaltet werden. Das passiert auch, wenn irgendwo ein Kabel zerstört wird oder eine Trafostation defekt ist. Dann ist eben ein Stadtteil mal einen halben Tag ohne Strom. Aber ein Blackout ist der unkontrollierte Zusammenbruch des gesamten Stromnetzes. Das hat viel schlimmere Folgen und es ist dann sehr viel schwieriger, das Netz wieder aufzubauen. Das kann Tage dauern. Ein solches Szenario muss auf jeden Fall vermieden werden. Deshalb denke ich, bei Engpässen wird es eher auf gezielte Abschaltungen für kurze Zeiträume hinauslaufen.  

Aber das kann doch für eine Industrienation kein sinnvolles Modell sein. 

Natürlich nicht. Deshalb freue ich mich darüber, dass endlich über die Probleme der Energiewende offen diskutiert wird. Aber ich habe leider den Eindruck, dass viele Politiker es immer noch nicht begriffen haben oder nicht begreifen wollen. Denn sonst würden sie nicht ständig sagen, dass wir jetzt schnell erneuerbare Energie ausbauen müssen, um unabhängig von Russland zu werden. Sie setzen damit den Weg fort, der uns in diese Abhängigkeit gebracht hat. 

Was wäre der Ausweg? 

Wir können erneuerbare Energien durchaus weiter ausbauen, aber wir müssen dann auch gesicherte Leistung dahinter stellen. Und dazu brauchen wir langfristige Speicher. Es reicht eben nicht, möglichst viele Windräder aufzustellen. Wir müssen das Energiesystem in Gänze denken. 

Wo stehen wir denn bei der Speichertechnik?

Das ist das technologische Problem an dieser Stelle. Wir stecken noch im Erprobungsmaßstab. Natürlich ist Elektrolyse, die Umwandlung von Strom in Wasserstoff, schon lange bekannt und funktioniert auch. Aber noch lange nicht in der Größenordnung, die wir brauchen, um ein ganzes Land zu versorgen. Und das ist nur ein Teil des Systems. Wir brauchen auch ein Leitungsnetz und Anlagen, die den Wasserstoff oder andere chemische Energieträger wieder in elektrische Energie zurückwandeln. Seien es Brennstoffzellen oder Kraftwerke.

Wie lange dauert es, ein solches System in Deutschland aufzubauen? Nicht wirtschaftlich, sondern rein technisch betrachtet. 

Wenn es um die komplette Versorgung gehen soll, muss man zunächst eine andere Frage stellen: Sind wir überhaupt in der Lage, das flächendeckend zu leisten? 

Nur mit heimischen Energiequellen sicher nicht. Aber nehmen wir an, es gelingt uns, Wasserstoff aus anderen Ländern zu importieren. Zum Beispiel von Solaranlagen aus der Sahara.

Dann müssen wir über einen Zeitraum von 20 Jahren und mehr reden. Denn auch die konventionellen Kraftwerke, die wir dafür brauchen, müssen alle noch gebaut werden. 

Es geht um den Komplettumbau unseres Energiesystems. Man hat aber oft den Eindruck, die politischen Entscheider begreifen die Größenordnung dieses Vorhabens nicht.
 
Ich glaube, sie unterschätzen es, ja. Das zeigt auch die Diskussion, wie sie in den Medien geführt wird. Es ist noch nicht richtig angekommen, dass ein Energiesystem auch Speicher braucht, um Versorgungssicherheit zu garantieren. Es geht darum, dass wir alle drei Ziele im Blick behalten: Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Ökologie. Wenn wir nur auf die Ökologie achten, gefährden wir die anderen beiden Ziele. Das wird zu sozialen Konflikten führen.

Was ist Ihr Rat an die Politik?

Wir müssen jetzt eine ehrliche Bewertung der Situation vornehmen: Wo stehen wir? Was brauchen wir in Zukunft? Wie lange wird es dauern? Und wir müssen die Diskussion darüber führen, wo wir uns in diesem Zieldreieck bewegen. Nur das Ziel Klimaschutz zu verfolgen, koste es, was es wolle, kann nicht funktionieren. Denn wenn die Versorgung instabil wird und die Kosten zu hoch werden, gehen Industriebetriebe ins Ausland. Dort stellen sie dann dieselben Güter mit einer viel schlechteren CO2-Bilanz her. Und uns fehlt die wirtschaftliche Stärke, um weiterhin Klimaschutz zu betreiben.

Die Bundesregierung scheint das Ziel Klimaschutz bereits aufgegeben haben und holt alte Kohlekraftwerke wieder ans Netz, um Gas einzusparen.
 
Es ist richtig, dass wir in der jetzigen Situation jeden Energieträger nutzen, der uns zur Verfügung steht. Deshalb halte ich es auch für falsch, die Kernkraftwerke Ende des Jahres auslaufen zu lassen. Das ist vollkommen kontraproduktiv. Sie liefern gesicherte Leistung und das auch noch nahezu CO2-frei. Es sollte zumindest möglich sein, den Ausstieg zu verschieben. Wenn wir im kommenden Sommer merken, dass wir sie doch nicht brauchen, kann man sie vom Netz nehmen. Das wäre zwar teuer, aber das ist nichts im Vergleich zu den Kosten, die auf uns zukommen, wenn es im Winter wirklich zum Energiemangel kommt. Zusammengefasst, es dürfen gesicherte Kraftwerkskapazitäten erst vom Netz genommen werden, wenn sie auch durch ebenso gesicherte Kapazitäten ersetzt werden.

Das Gespräch führte Daniel Gräber.  
 

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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